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Sikhs in Indien
Gott wird früh geweckt

Für Sikhs gibt es eine spirituelle und soziale Schaltzentrale: den Gurudwara. Hier wird gesungen und gebetet, hier gibt es kostenlose medizinische Versorgung und freie Kost für mehrere Zehntausend Besucher. Das Heilige muss auch lebensnah sein. Ein Besuch im Gurudwara Bangla Sahib in Neu-Delhi.

Von Margarete Blümel | 23.05.2018
    Menschen beten im Gurudwara Bangla Sahib in Neu-Delhi, Indien
    Menschen beten im Gurudwara Bangla Sahib in Neu-Delhi, Indien (imago / Hindustan Times)
    Wo ein Sikh ist, gibt es einen Sikh.
    Wo zwei Sikhs sind, gibt es eine Versammlung von Heiligen.
    Wo fünf Sikhs zusammenkommen, da ist Gott.
    Gott wird im Gurudwara Bangla Sahib früh geweckt. Es ist 2.55 Uhr. Während der Rest Neu-Delhis sich den Schlaf wie eine Kapuze über das Gesicht gezogen hat, sind im Sikh-Heiligtum Gurudwara Bangla Sahib bereits seit einer halben Stunde zwei Sänger, zwei Musikanten und der Gurudwara-Mitarbeiter Harpal Singh aktiv.
    Er erklärt: "Unter dem Baldachin, den Sie hier in der Mitte der Halle sehen, liegt der Sri Guru Granth Sahib. Unser zehnter und letzter Guru hat dieses heilige Buch zu seinem Nachfolger, zum ewigen Guru, erklärt. Über Nacht bewahren wir den Granth in einem besonderen Raum auf. Vor einer halben Stunde haben wir ihn hierher getragen und auf einem Brokatkissen drapiert. Seitdem ist die Rezitation im Gange, die von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends dann öffentlich sein wird."
    Punkte für das spirituelle Konto
    Seit zwei Jahren ist Harpal Singh in Delhis Gurudwara Bangla Sahib tätig – ehrenamtlich, wie die meisten der etwa zweihundert Glaubensanhänger, die sich unter anderem in der Küche, in der Poliklinik und in der Gästeunterkunft nützlich machen oder den Ausführungen des heiligen Buches ihre Stimme leihen.
    Harpal Singh sagt: "Wer das spirituelle Licht unserer Gurus sucht, muss einen Gurudwara aufsuchen! Nicht umsonst heißt Gurudwara – 'Tor zum Lehrer'. Als Sikhs ist es unsere Pflicht, anderen beizustehen. Deshalb kann jeder, der mag, in unseren Gurudwaras essen, ohne etwas dafür zu bezahlen. Und umsonst übernachten. Oder, wenn er krank ist, sich medizinisch versorgen lassen und die Medikamente bekommen, die er benötigt. Wir sollen und wollen teilen. Unsere Zeit zum Beispiel. Und unseren Wohlstand."
    Diese fromme Praxis hat einen angenehmen Nebeneffekt: Sikhs erwerben damit religiöses Verdienst, das sich als solide Rücklage auf ihrem spirituellen Konto niederschlägt. Außerdem steigt ihr Ansehen innerhalb der Glaubensgemeinschaft, die den Dienst am Mitmenschen als Gotteshingabe begreift. Der Religionswissenschaftler Karpar Singh Dugall aus Neu Delhi ergänzt:
    "Diese Geisteshaltung wird von Sikhs als unerlässlich für die spirituelle Weiterentwicklung angesehen. Darüber hinaus gibt es äußerliche Merkmale und Prinzipien, wie etwa die, sein Haar niemals zu schneiden und den traditionellen eisernen Armreif zu tragen. Das sind Charakteristika, die Sikhs miteinander verbinden. Aber sie sind kein Muss. Was dagegen wirklich zählt, ist, sich in die Schriften zu versenken, die unsere Gurus uns hinterlassen haben. Guru Nanak war der erste unserer zehn Lehrer. Er war ein Mann aus dem Volk, ein Wanderprediger von natürlicher Autorität. Es hieß, dass er mühelos Menschen aus allen Gesellschaftsschichten um sich scharte. Seine Botschaften waren leicht verständlich. Auch einfache Leute konnten und können sie nachvollziehen."
    Karma und Wiedergeburt
    Weltweit folgen etwa 25 Millionen Menschen dem Sikhismus. Mehr als 80 Prozent von ihnen leben in Indien.
    Sikhs verehren einen Schöpfergott, der keine Gestalt besitzt und geschlechtslos ist. Die Anhänger des Sikhismus glauben an eine Wiedergeburt und an das Prinzip von Ursache und Wirkung. Damit hat für Sikhs jede Tat, jeder Gedanke, jede Absicht etwas zur Folge, das sich in dieser oder in einer der nächsten Existenzen auswirken wird. Der Sikhismus betont die Gleichstellung von Mann und Frau und die Toleranz gegenüber anderen Religionen. Und, immer wieder: die Notwendigkeit des unermüdlichen Strebens nach spiritueller Entwicklung, um den Kern des Göttlichen in sich selbst und anderen zu erfahren.
    Im Gurudwara Bangla Sahib wird vom frühen Morgen bis spätabends aus den heiligen Schriften rezitiert. Die Hymnen und Dichtungen sind in Versform verfasst und werden fast immer von Musik untermalt.
    Beim Essen finden alle zusammen
    Auch jetzt, gegen ein Uhr mittags, bereichern Sänger, Trommler und Lautenspieler das Guru ka Langar - das gemeinsame Essen aus der kommunalen Freiküche – durch ihren Vortrag aus den Schriften. Hunderte von Menschen sitzen in langen Reihen auf dem Boden, vor sich einen Teller mit diversen Aussparungen für das Aufgebot der Speisen. Gurudwara-Helfer häufen den Gästen aus großen Bottichen Gemüse-Curries, Reis, Linsenbrei, Joghurt und Salat auf. Im Schlepptau folgen die Chappathi-Verteiler. Mindestens hunderttausend dieser Fladenbrote werden täglich in Delhis Sikh-Heiligtum zubereitet und verteilt. An Sonntagen, wenn bis zu fünfzigtausend Gäste kommen, entsprechend mehr. Nur ein Teil dieser Menschen ist arm und bedürftig. Und nicht alle sind Sikhs. Harpal Singh:
    "Von elf Uhr vormittags bis zehn Uhr abends geben wir die Mahlzeiten aus. Um die 25.000 Menschen nehmen an den Wochentagen und samstags daran teil. Sonntags sind es sogar doppelt so viele. Sie finden hier Angehörige aller Klassen, Rassen und Religionen. Auch reiche Leute sind darunter. Und das nicht zuletzt, um an dem Segen teilzuhaben, den dieser Ort birgt."
    Menschen beim gemeinsamen Guru ka Langar zum 350. Geburtstag des 10. Sikh Guru Gobind Singh Ji in Panchkula, Indien am 5. Januar 2017
    Menschen beim gemeinsamen Guru ka Langar in Panchkula, Indien (imago / Hindustan Times)
    Harpal Singh wird erst später zum Essen kommen. Jetzt muss er sich einstimmen. Nur wenige Minuten noch, bis er auf dem Podium Platz nehmen wird, um einen der beiden Vorsänger abzulösen.
    Die blutige Seite des Sikhismus
    Dieser Aufgabe kommt Harpal Singh besonders gern nach. Er hat schon in vielen Gurudwaras auf der Bühne gesessen und Verse aus dem Granth vorgetragen. In kleinen Gurudwaras auf dem Land in seinem Heimatstaat Haryana und in dem einen, größten, in dem Heiligtum schlechthin: im Harmandir Sahib, dem "Goldenen Tempel" der Sikhs in Amritsar.
    Auch Harpal Singhs Vater hat früher im "Goldenen Tempel" jahrelang immer wieder Verse aus den Schriften vorgetragen – bis 1983, ein Jahr, bevor die indische Armee den Gurudwara stürmte. Gewaltbereite Sikhs, die einen unabhängigen Staat forderten, hatten sich im Areal des Harmandir Sahib verschanzt. Am Ende mussten dafür viele tausend Menschen sterben. Auch Indira Gandhi, die den Einmarsch in den Tempelbezirk befohlen hatte. Zwei ihrer Sikh-Leibwächter brachten die damalige Ministerpräsidentin um.
    Harmandir Sahib - der "Goldene Tempel" in der Stadt Amritsar, Indien
    Harmandir Sahib - der "Goldene Tempel" in der Stadt Amritsar, Indien (imago / imagebroker)
    Das Blutbad im "Goldenen Tempel" wirft ein Schlaglicht auf die andere Seite des Sikhismus – obschon Sikhs sich im Allgemeinen als wohltätig, hilfsbereit und spirituell verstehen, können sie zuweilen doch sehr kämpferisch sein. Gewalt ist eigentlich verpönt, das Recht auf Selbstverteidigung jedoch nehmen Sikhs seit jeher für sich in Anspruch, wie diverse kriegerische Auseinandersetzungen im Verlauf ihrer Geschichte belegen.
    Die Waffen schweigen
    Hier und Jetzt jedoch schweigen die Waffen. 23.00 Uhr in Delhis Gurudwara Bangla Sahib: Die Nacht hat sich auf leisen Sohlen in das heilige Gebäude geschlichen. Die meisten Reisenden haben sich längst schlafen gelegt. Nicht nur die Pilger, auch die aus Delhi stammenden Besucher und Besucherinnen mussten nicht hungrig in ihre Hütte, ihr Haus oder an den Schlafplatz auf dem Bordstein zurückkehren. Und wenn Worte den Hunger der Seele stillen können, sind viele heute wohl auch in dieser Hinsicht satt geworden.