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Silvia Pistotnig: "Tschulie"
Letztlich banal

Unterklasse trifft Mittelschicht, und es passiert ...? Wenig. Die österreichische Autorin Silvia Pistotnig legt mit "Tschulie" ihren zweiten Roman vor. In dem wachsen die beiden Wiener Protagonistinnen Julia und Karin aber leider nicht übers Klischee hinaus.

Von Antje Deistler | 09.02.2018
    Zum ersten Mal begegnen sich die beiden Protagonistinnen auf einer Ü-30 Party.
    Zum ersten Mal begegnen sich die beiden Protagonistinnen auf einer Ü-30 Party. (picture-alliance/ dpa; Milena Verlag)
    Die Titelheldin von Silvia Pistotnigs Roman "Tschulie" ist eigentlich eine Julia. Julia Pawlicek aus dem sozialen Wohnungsbau am Rand von Wien. Tschulie, wie sie sich selbst nennt, ist keine 18 Jahre alt. Die Schule hat sie geschmissen und keine Idee, was sie machen soll – außer fernsehen, essen und schlafen interessiert sie ausdrücklich: nichts.
    Im Sonnenstudio jobbt sie nur, weil ihre Mutter das will. Tschulie soll endlich Geld verdienen, damit sie ausziehen kann. In der winzigen Wohnung ist kein Platz mehr für sie, denn ihre Mutter hat einen neuen Freund. Klingt deprimierend, ist es wahrscheinlich auch, aber Tschulie erzählt davon in einer Art stoischem Plauderton. Ihre Gefühle borgt sie sich aus den zahllosen TV-Soaps, die sie offenbar pausenlos schaut. Erstaunlich – um nicht zu sagen anachronistisch und eher unglaubwürdig für eine Angehörige der Generation Youtube, Instagram und Snapchat.
    "Vielleicht sollte ich mich in den Tod stürzen. Anna wollte sich bei Anna und die Liebe auch in den Tod stürzen, damit sie bei Jonas ist. Am Ende hat sie es aber nicht gemacht und diesen Langweiler Tom geheiratet. Weil ich mich so anscheiße vor dem Umbringen, mache ich es nicht. Also mache ich weiter nichts."
    Tschulies Gegenpart und die zweite Hauptperson in Silvia Pistotnigs Buch ist Karin, Mitte 40, die mit ihrem Sohn und zweiten Mann in einem schicken Altbau wohnt. Karin wollte mal Künstlerin werden, hat diesen Traum aber gegen die gutbezahlte, langweilige Sicherheit eines Verwaltungsjobs eingetauscht. Karins Probleme sind die Luxusprobleme des Bildungsbürgertums. Sie sorgt sich um ihren etwas lahmen Sohn im Teenageralter, trauert ihren kreativen Träumen nach und stopft sich anstatt mit Pizza oder Hamburgern mit Müsli voll.
    "Die Unzufriedenheit gehörte zu Karins Leben, immer wieder tauchte sie auf und machte sich breit. Nach rund 40 Jahren hatte Karin auch das Muster erkannt. Sobald sich ein gewisses Maß an Langeweile ausbreitete, trat sofort die Unzufriedenheit auf den Plan. Wobei unter Langeweile nicht zu verstehen war, dass sie nichts zu tun hatte. Zu tun hatte Karin immer genug. In ihrer Arbeit war sie ausgelastet, und zuhause fand sich auch immer etwas, was zu erledigen war. Es war die Langeweile in ihrem Kopf, das ziellose Dahintun, ohne einen konkreten Plan zu verfolgen. Projektorientiertheit, das war es, was sie sich auch für ihr Leben wünschte. Ein projektorientiertes, zielgerichtetes Dasein."
    Es dauert viele zähe Kapitel, bis sie endlich zusammentreffen
    Zu Karins nächstem Projekt wird Tschulie werden. Die beiden sehr gegensätzlichen Frauen bewegen sich aufeinander zu, Kapitel für Kapitel. Einmal geschildert aus der Ich-Perspektive der tumben Tschulie, dann wieder aus der personalen Erzählhaltung von Karin, der vermeintlich Progressiven. Es dauert aber viele zähe Kapitel, bis das tatsächlich passiert. Kapitel, die Silvia Pistotnig zur Charakterisierung ihrer Figuren und deren jeweiliger Milieus benötigt, um sie später aufeinanderknallen zu lassen. Was leider nicht bedeutet, dass sie dadurch an Tiefe oder Glaubwürdigkeit gewinnen.
    Zum ersten Mal begegnen sich die beiden Figuren auf einer Ü-30-Party. Dort schleppt sich die Ü-40-jährige Karin mit Freundinnen hin, obwohl sie eigentlich lieber zuhause auf dem Sofa sitzen würde. Und die nicht mal 20-jährige Tschulie sucht einen älteren, reichen Mann. Das uralte weibliche Aufstiegsmodell ist der einzige Weg nach oben, den sich das Mädchen vorstellen kann.
    "Die Typen stehen allein oder höchstens zu zweit herum. Nur die Weiber sind in Gruppen. Michelle und ich stehen jetzt so hinter der Bühne, dass uns die Scheinwerfer genau anleuchten. »Die schauen alle so «, sage ich zu Michelle, weil uns die Weiber mit ihren Augen fast aufspießen. »Wir schauen besser aus als die hässlichen Trampel, deshalb«, meint Michelle. »Wenn ich so alt bin, lass ich mir fix Botox spritzen. Die haben ja alle die ärgsten Falten, und fett sind sie auch!« Michelle hat so laut gebrüllt, dass sich eine Frau vor uns umdreht und uns böse anschaut."
    Noch in derselben Nacht trifft Tschulie den schüchternen Gymnasiasten Fabian, Karins Sohn. Als sie sein Zimmer in der Innenstadtwohnung mit Internet- und Kabelanschluss sieht, beschließt sie zu bleiben. Das weiß Karin zwar zu verhindern. Doch ihr Gutmenschgewissen verbietet es ihr, die halbnackt in ihrem Wohnzimmer herumhüpfende Unterschichtsgöre einfach hinauszuschmeissen. Stattdessen bringt sie sie in einer alternativen Frauen-WG auf dem Land unter. Hier prallt der Missionseifer der Späthippis auf Tschulies komplett geschocktes Unverständnis.
    Einige komische Situationen, unglaubwürdige Entwicklug
    "Ein paar Weiber fangen an sich zu drehen. Hinter mir tut eine, als wenn sie in einem Boot ist und rudert. Sie hat die Augen zu. Fast alle haben die Augen zu. (...) Eine in so einem kurzen Rock mit einer Hose drunter springt wie irre herum. Daneben hält eine die Hände wie beim Beten. Was ist los mit denen? »Was ist, mach mit, lass es raus, beweg dich, tanz mit, los!«, ruft sie. Die Feuer-Alte fetzt bei mir vorbei. Das ist so peinlich! Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, mache ich ein bisschen wie Katy. Katy tanzen habe ich einmal mit Michelle vor dem Spiegel bei ihr daheim geübt. Aber wie soll ich zu China-Restaurant-Musik wie Katy Perry tanzen? Ich weiß jetzt, warum die alle die Augen zu haben, so müssen sie nicht sehen, was da los ist. Das ist alles so irre, das glaubt mir Michelle nie, wenn ich es ihr erzähle. Ich wünsche mir, dass sie jetzt da ist, wenn sie das sieht, pissen wir uns an vor Lachen. Soll ich ein paar Handyfotos machen? Aber das traue ich mich nicht."
    In der zweiten Hälfte hält Silvia Pistotnigs Bildungsroman zwar einige komische Situationen bereit. Aber Tschulies Entwicklung wirkt unglaubwürdig. Sie geschieht eher zufällig und abrupt: Weil sie ein Fernsehzimmer im benachbarten Altersheim findet, bleibt sie in der ansonsten verabscheuten Landkommune und macht sogar ihren Abschluss. Und Karin nimmt sich ein Sabbatjahr, um wieder zu malen. Wodurch das alles motiviert ist, wird allerdings nie ganz klar.
    Der Clash of Cultures, das Zusammenprallen verschiedener, sich immer stärker polarisierender Schichten innerhalb einer Gesellschaft ist ein großes Thema in der europäischen Gegenwartsliteratur. Vor allem in Frankreich glänzen Michel Houellebecq und Virginie Despentes mit hochpolitischen Romanen zum Thema. Im Vergleich dazu ist "Tschulie" ein Versuch, der trotz einiger guter Ansätze unwirklich, unpolitisch und letztlich banal bleibt. Trotz angestrengten Bemühens um Authentizität und Aktualität, vor allem sprachlich, kommt die relativ junge Silvia Pistotnig selten über Klischees hinaus – und das sind seltsamerweise uralte Klischees.
    Silvia Pistotnig: Tschulie
    Milena Verlag, Wien 2017
    220 Seiten, 23 Euro