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Simon Halls Buch "1956. Welt im Aufstand."
Der Beginn einer Zeitenwende?

Das Jahr 1956 sei "eines der außergewöhnlichsten des vorigen Jahrhunderts" gewesen sei, meint der englische Historiker Simon Hall. Er hat deshalb diesem Zeitabschnitt gleich ein ganzes Buch gewidmet. Denn die Welt befand sich in Aufruhr.

Von Otto Langels | 23.05.2016
    Der Kopf eines gestürzten Stalin-Denkmals auf der Straße. Am 23. Oktober 1956 fielen bei einer zunächst friedlichen Kundgebung in Budapest erste Schüsse. Arbeiter, Studenten und Jugendliche bewaffneten sich und nahmen den Kampf gegen die einrückenden sowjetischen Truppen auf.
    Ungarn-Aufstand im Herbst des Jahres 1956 (picture-alliance / dpa / UPI)
    "We, the negro citizens of Montgomery, Alabama, do now and will continue to carry on our mass protest."
    Ende 1955 protestierte die schwarze Bevölkerung von Montgomery im US-Bundesstaat Alabama gegen die rigide Rassentrennung in ihrer Stadt. Einer der Anführer war Martin Luther King, Pastor einer Baptistengemeinde. Begonnen hatten die Proteste mit der Weigerung von Rosa Parks, Mitglied der schwarzen Führungsschicht Montgomerys, ihren Sitzplatz im Bus für weiße Fahrgäste freizugeben. Der Fahrer warf sie daraufhin aus dem Bus. Die schwarze Bevölkerung reagierte mit einem monatelangen Boykott der öffentlichen Verkehrsmittel.
    Die Massenproteste, die in Montgomery begannen, zählt der englische Historiker Simon Hall zu den aufsehenerregenden Revolten des Jahres 1956.
    "Auf der ganzen Welt standen gewöhnliche Leute auf und erhoben ihre Stimme, sie gingen auf die Straßen und Plätze, riskierten Gefängnisstrafen, griffen zur Waffe, ja verloren ihr Leben bei dem Versuch, größere Freiheiten zu erkämpfen und eine gerechtere Welt aufzubauen. Es war ein monumentaler Kampf, der die Nachkriegswelt von Grund auf verändern sollte."
    Grund genug für den Historiker von der Universität Leeds, die Ereignisse dieser zwölf Monate zu erzählen, habe doch die Geschichtsschreibung die Bedeutung des Jahres 1956 etwa im Vergleich zu 1968 oder 1989 bisher unterschätzt. Hall will gewissermaßen dem Jahr 1956 Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er tut dies auf anschauliche, erfrischende Weise und lässt die Dramen des Jahres wieder aufleben, indem er aus Augenzeugenberichten, zeitgenössischen Quellen und journalistischen Reportagen zitiert. Dies macht sein Buch zu einem Lesevergnügen. Dabei wechselt er immer wieder die Schauplätze, von Havanna bis Budapest, von Algier bis Johannesburg, von Moskau bis Montgomery.
    "Kurz vor halb zehn am Abend des 30. Januar 1956 hielt ein helles Auto vor dem weißen Holzhaus in der South Jackson Street 309 in Montgomery, Alabama. Nur wenige Sekunden später erfolgte eine ohrenbetäubende Explosion, gefolgt von Rauch und dem Geräusch von zersplitterndem Glas."
    Mit dem Bombenanschlag auf das Wohnhaus von Martin Luther King beginnt Simon Hall seine Darstellung, chronologisch nach Jahreszeiten geordnet. "Winter: Die alte Ordnung bekommt Risse" ist der erste Teil überschrieben, im Frühling keimt "die Sehnsucht nach Freiheit", den Sommer überstrahlt "der Geist der Revolte", den Herbst dominieren "Revolution und Reaktion".
    1956 als ein Jahr des weltweiten Umbruchs
    Risse bekamen im Jahr 1956 unter anderem die Rassentrennung in den USA, die Apartheid in Südafrika, die kolonialen Strukturen in Afrika und der Stalinismus in Osteuropa. In Moskau geißelte der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU in einer Geheimrede am 25. Februar den Personenkult Stalins und löste damit eine kurze Tauwetterperiode im Ostblock aus.
    Doch bereits ein Dreivierteljahr später machte eine sowjetische Intervention die Hoffnungen auf ein freies, demokratisches Ungarn zunichte. Am Morgen des 4. Novembers 1956 strahlte ein Rundfunksender einen letzten verzweifelten Hilferuf des Ministerpräsidenten Imre Nagy aus.
    "Achtung, Achtung, hier spricht das Freie Radio Kossuth Budapest. Heute Morgen haben die sowjetischen Truppen die ungarische Hauptstadt angegriffen in dem offensichtlichen Zwecke, die gesetzliche Regierung Ungarns zu stürzen. Unsere Truppen stehen im Kampfe."
    Nach zehn Tagen war der Widerstand gebrochen, Tausende kamen bei den Kämpfen ums Leben, Hunderte wurden hingerichtet.
    Simon Hall beschränkt sich in seiner Darstellung nicht auf politische Ereignisse, er beschreibt auch die kulturelle Rebellion unter amerikanischen und europäischen Jugendlichen, ihre Vorliebe für ausgefallene Mode, ihre Begeisterung für Rock'n'Roll-Musik. Besorgte Beobachter sahen bereits das "moralische Grundgefüge der abendländischen Zivilisation" bedroht.
    "Diese Art von Musik spricht in ihrer überspannten Art lediglich Verhaltensgestörte an oder Personen eines eher primitiven Menschenschlags."
    Zitiert Simon Hall einen zeitgenössischen Psychiater. Bei Konzerten von Bill Haley, Fats Domino oder Elvis Presley flogen Bierflaschen durch den Saal, Tische und Stühle gingen zu Bruch, junge Männer gingen aufeinander los. "Ich trage Blue Jeans und stehe auf Rock'n'Roll. Ich bin keine Verbrecherin", rechtfertigte sich ein Teenager damals.
    Leitet 1956 eine Zeitenwende ein?
    Leitete das Jahr 1956 tatsächlich eine Zeitenwende ein, wie Simon Hall schreibt? War für die kulturelle Rebellion 1968 nicht viel bedeutsamer? Und wurde der Ruf nach Freiheit, den der Autor zum Leitmotiv erhebt, in Osteuropa nicht schnell wieder im Keim erstickt? Der ungarischen Tragödie folgten der 13. August 1961 in Berlin und Prag 1968. Bis zum Untergang des sowjetischen Imperiums sollten noch mehr als drei Jahrzehnte vergehen.
    "Historiker vermitteln durch ihre Hochachtung vor der Chronologie den irreführenden Eindruck, dass bestimmte Jahre wie Berge sind, über die sich die Menschheit hinwegbewegen musste, um sich dann in einer neuen Welt in neuen Lebenszusammenhängen zu finden."
    Zitiert Simon Hall den bekannten italienischen Marxisten Antonio Gramsci, um davor zu warnen, die Quintessenz einer Epoche in ein einzelnes Jahr zu packen. Hall registriert unter Historikern eine bedenkliche Tendenz, ein spezielles Jahr als besonders bedeutsam einzustufen, um dann selbst eine umfangreiche Darstellung über das Jahr 1956 zu schreiben.
    So kurzweilig und anregend Simon Halls Buch zu lesen ist, so problematisch ist sein Bemühen, alle Ereignisse unter dem Stichwort "Kampf um Freiheit" in Beziehung zueinander zu setzen. Lässt sich tatsächlich eine Verbindungslinie zwischen Rock'n'Roll, dem Kampf gegen die Rassentrennung und dem Ungarn-Aufstand ziehen? Historische Prozesse sind nicht immer durch ein geheimes Band miteinander verknüpft und gehorchen nicht immer einer inneren Logik.
    Buchinfos:
    Simon Hall: "1956. Welt im Aufstand",
    deutsche Übersetzung von Susanne Held, Klett Cotta Verlag, 479 Seiten, Preis: 24,95 Euro