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Simon Jaspersen
Explosives aus der Zwischenkriegszeit

Mit "Bevor die Nacht kommt" legt Simon Jaspersen ein eindrucksvolles Debüt vor: Seine Geschichte, im Berlin der 20er-Jahre angesiedelt, ist ein Gesellschaftsporträt der Zwischenkriegszeit sowie eine psychologisch raffinierte, herrlich düstere Kriminalgeschichte.

Von Cornelius Wüllenkemper | 19.11.2014
    Reges Treiben auf dem Potsdamer Platz in der deutschen Hauptstadt Berlin im Jahre 1924.
    Reges Treiben auf dem Potsdamer Platz in der deutschen Hauptstadt Berlin im Jahre 1924. (picture alliance / dpa / Foto: Ullstein)
    Im Berlin der 20er-Jahre: Kommunisten, Dadaisten, Revolutionäre und Faschisten tummeln sich in den Nischen der jungen, instabilen Republik. In dieser wimmelnden Gesellschaft trägt ein jeder die Last der Vergangenheit, den verheerenden Krieg und den Zusammenbruch der alten Ordnung auf seine Weise. Ein Setting, das sich bekanntermaßen wunderbar eignet, um eine düstere Kriminalgeschichte zwischen Kriegstraumatisierten, Schwarzhändlern und sonstigen Ganoven zu erzählen. Eine Gesellschaft, die sich Mitten im Umbruch befindet zwischen Nationalen, Revolutionären und denen, die endlich wieder ein ruhiges Leben führen wollen. Zu letzteren gehört Oberkommissar Mohrfels. Dumm nur, dass man Druck auf ihn ausübt, endlich den "Schlitzer" zu finden, der schon drei junge Frauen ermordet und entstellt hat und Berlin in Atem hält. Kurz vor der Reichstagswahl wollen die politisch Verantwortlichen Erfolge vermelden können. Obendrein verweigert der junge Psychiater Johann Dalus dem Kommissar auch noch das Gutachten, das er benötigt, um seinen Hauptverdächtigen festzunehmen. Simon Jaspersens Geschichte ist nicht zuletzt die eines Generationenkonflikts.
    "Mohrfels ist jemand, der gerade auf dem Weg in seine Rente ist, der im Kaiserreich groß geworden ist, der eine bestimmte Haltung zu seinem Beruf hat, eine bestimmte Ehrvorstellung. Demgegenüber steht Dalus, der ist Mitte Zwanzig, der ist gerade durch den Krieg gegangen, versucht diese Erfahrung zu verarbeiten oder eben gerade nicht zu verarbeiten. Im Endeffekt ist es dann der Impuls von Dalus, dass er sich mit sich selbst auseinandersetzen will, und er an einen Punkt kommt, an dem er mit bestimmten Geschichten aus seiner Vergangenheit aufräumen kann und dadurch ein Wissen erlangt, das für die Lösung des Falls von zentraler Bedeutung ist."
    Düstere Hinterhöfe, luxuriöse Büros, Künstler-Cafés und Villen im Grunewald
    Hier wird eine solide erzählte Kriminalgeschichte unter dem herrlich brummigen Oberkommissar Mohrfels verknüpft mit der psychologisch spannenden Suche des jungen Arztes Johann Dalus nach seiner eigenen Vergangenheit. Der ehemalige Militärarzt arbeitet seit Kurzem als Psychiater in einer Berliner Klinik. Er versucht sich an den neuen Behandlungsmethoden eines gewissen Sigmund Freud. Die Medikamente, die er seinen Patienten verabreicht, probiert er in seiner staubigen Kreuzberger Dachwohnung sicherheitshalber selbst aus. Dalus ist Kriegsheimkehrer: von einer diffusen Angst verfolgt, misstrauisch gegen die Ordnung der Welt, ständig auf der Hut vor der nächsten Bedrohung.
    "Dalus kannte das Gefühl schon seit der Kindheit. Eine kitzelnde Sensation in der Regio occipitalis, irgendwo kurz unter dem Schädelansatz. Erhöhter Puls. Metallener Geschmack im Mund. Er hatte es seit seiner Jugend genutzt und sich im Krieg daran gewöhnt, darauf zu vertrauen. Während seiner Zeit als Militärarzt hatte es ihm mehrfach das Leben gerettet. Er hatte Deckung gesucht, bevor das Wulliwulli der Granate zu hören war. Er hatte geahnt, wenn ein Kirchturm nicht sauber war. Es war wie das Aufblitzen einer Messerklinge. Nur ein Sekundenbruchteil. Dasselbe Gefühl, das ihm sagte, dass ihn jemand verfolgte."
    Wer sind die Gestalten, die Dalus in seinem Rücken spürt? Und wo ist seine Schwester, die sich als junge Frau obskuren links-politischen Kreisen angeschlossen und nach Jahren der Funkstille plötzlich ihren Besuch in Berlin angemeldet hatte? Und was hat das mit den Erlebnissen in Dalus' Kindheit zu tun, an die er sich nur schemenhaft erinnert? In "Bevor die Nacht kommt" verbreitet sich das Gefühl, das "irgendetwas nicht stimmt" wie ein langsames Gift. Die Atmosphäre der Undurchsichtigkeit bildet den Kitt dieser vielschichten Erzählung, die sich immer weiter zusammenzieht, bis am Ende die verschiedenen Handlungslinien in einem Kulminationspunkt zusammenlaufen. Simon Jaspersen spiegelt das Psychogramm des Traumatisierten Dalus mit dem Porträt einer destabilisierten Gesellschaft, die jeden Moment aus den Fugen zu geraten droht. Düstere Hinterhöfe, luxuriöse Büros, Künstler-Cafés und Villen im Grunewald, marode ist Berlin überall. Eine neue Spur auf der Suche nach dem Frauenmörder führt Oberkommissar Mohrfels auf den verlassenen Industriehof eines bekannten Schwarzhändlers und vorbestraften Gewalttäters. Der aalglatte Jegor Erich Koglin hat sich mit seinen illegalen Geschäften bestens in der jungen Republik eingerichtet. Vor den Ermittlungen des Oberkommissars hat er allzu wenig Respekt. Ein Netz aus Korruption bis in die höchsten Ebenen der Verwaltung bedroht die junge Demokratie, und die politischen Verschwörungen gegen die Republik reichen bis in den Polizeiapparat.
    Ambitioniert für ein Erstlingswerk
    "Eben diese frühen Freikorps-Bewegungen, Vereine dünkelhafter Natur, von denen es massenweise gegeben hat in Deutschland zu der Zeit. Ein ganz starker Antisemitismus, demokratiefeindliche Tendenzen und ein Verschwörernetzwerk, das sich immer weiter professionalisiert hat und dann am Ende im Nationalsozialismus gebündelt worden ist. Dieser Anfang, mit was für einem hinterhältigen, bösartigen Humor die Leute vollkommen dreist ihre Meinung auch öffentlich immer wieder geäußert haben, das hat mich einfach sehr beeindruckt."
    "Bevor die Nacht kommt" greift die explosive Stimmung der deutschen Zwischenkriegszeit gekonnt auf - die Schattierungen zwischen der Entrüstung über das Ende der alten Ordnung und den Heilsversprechen neuer Gesellschaftsmodelle, die Rivalitäten zwischen Generationen und Geisteshaltungen. Der Leser bekommt es in Jaspersens Krimi mit einer Vielzahl von Erzählperspektiven zu tun, von denen die vielleicht skurrilste das Geschehen aus der Sicht eines Polizeihundes beschreibt. Wir sehen die Welt ebenso durch die gutmütigen Augen des alten Kommissar Mohrfels, wie durch den analytisch-paranoiden Blick des jungen Arztes Dalus und auch aus der kruden Perspektive krimineller Verschwörer, die zum vermeintlichen "Wohle des Vaterlandes" foltern, morden und erpressen. Die Verschachtelung der verschiedenen Erzählperspektiven und Handlungsebenen ist freilich literarisch ambitioniert für ein Erstlingswerk. Aber wer genau hinliest und Unterhaltung nicht mit allzu gefälliger Berieselung verwechselt, wird hier auf seine Kosten kommen. "Bevor die Nacht kommt" verbindet ein kenntnisreiches Gesellschaftsporträt der Zwischenkriegszeit mit einer psychologisch raffinierten, herrlich düsteren Kriminalgeschichte.
    Simon Jaspersen: "Bevor die Nacht kommt"
    Roman. Rowohlt, 434 Seiten.