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Sinnsuche trotz sterbender Mutter

Xenias Mutter liegt im Sterben, im Koma, dennoch kann sie sich nicht überwinden, ans Totenbett zu reisen - von Rom aus, wo sie ihr Stipendium angetreten hat. Zu groß die Kindheitstraumata verbunden mit der Mutter, zu lockend neue Freundschaften in der ewigen Stadt. Erst eine Reihe von menschlichen Tragödien verhindert die Vernachlässigung der Tochterpflicht - den Abschied nehmen am Bett der Sterbenden.

Von Lerke von Saalfeld | 02.12.2008
    Seit über zwanzig Jahren lebt Evelyn Grill in Freiburg, dennoch betont sie, "Ich werde mich immer als österreichische Schriftstellerin empfinden". Das Abgründige, Grausige, die Theatralik und das masochistische Vergnügen an Außenseiterexistenzen, die Rebellion gegen provinzielle Enge und Hartherzigkeit kennzeichnen ihr Schreiben; mit bitterböser Ironie versteht sie, die menschliche Niedertracht literarisch in Bilder und Figuren umzusetzen. Wer jedoch bei ihrem neuen Roman hofft, wiederum ein Meisterstück kalkulierter Boshaftigkeit vorgesetzt zu bekommen, der wird enttäuscht. Evelyn Grill setzt sich zwar - wie so oft - mit dem Künstlerleben auseinander, aber diesmal schlägt sie leise, fast sanfte Töne an. Im Mittelpunkt steht eine 34-jährige Frau, die Malerin Xenia, die ein Stipendium für Rom erhalten hat. Gerade erst angekommen, ist sie überwältigt:

    Das geballte Barock, diese Sinnlichkeit und Grausamkeit, die mich in Rom umgeben! Sobald ich die Augen aufschlage, sehe ich die kolossalste und brutalste Schönheit. Ich wußte es vom ersten Tag an, seit ich hier ankam, schon als ich an der Stazione Termini dem Zug entstiegen bin, wußte ich, dass ich für mich den Gegenstand in der Malerei neu finden würde. Es ist ja nicht nur das Licht hier, es ist auch der Geruch. Das Licht hat auch einen Geruch, einen Duft, der mich nicht zur Ruhe kommen lässt, der Duft und das Licht.

    Schon am ersten Tag nach ihrer Ankunft verstört ein Anruf der Schwester Xenias Glück. Die Schwester Lisa teilt ihr mit, dass ihre Mutter, eine gefeierte Bestsellerautorin, bei einer Lesung gestürzt sei und nun im Koma liege. Die Schwester sitze jeden Tag am Bett der Mutter und erwarte, dass auch Xenia Anteilnahme zeige. Xenia reagiert brüsk, sie will sich ihr Rom-Erlebnis nicht verpatzen lassen. Sie erinnert sich voller Grimm, wie die Mutter die Familie verließ und sie alleine ließ, als sie noch keine zwölf Jahre alt war. Die Mutter war selbstsüchtig, wollte sich immer nur selbst verwirklichen, wollte schreiben und einen neuen Mann finden; die Kinder waren ihr nebensächlich. Nun will Xenia ihr Leben leben, frei und unabhängig sein, nur der Malerei hingegeben. Also stürzt sie sich in die Straßen Roms, streift über die Plätze, entdeckt mit wachen Augen die Anziehungskraft der römischen Metropole, die sie zum ersten Mal besucht. Aber wie ein Schatten legt sich die Nachricht von der todkranken Mutter über ihre Wahrnehmungen und treibt sie um.

    Aus, sagte ich, aus, vorbei. Die grundierte Leinwand, was sollte darauf entstehen? Statt zu malen, begann ich hier in Rom an meiner Kindheit zu leiden, benutzte ich die Leiden meiner Kindheit als Waffe gegen meine Mutter, die sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte, sollte das Erlittene meine Verweigerung rechtfertigen.
    Wenn das so weitergeht, dachte ich, wäre es nicht gleich das beste, die Koffer zu packen und ans Krankenbett zu fahren, wenn mich jeder Anruf so aus der Bahn warf? Auf diese Weise konnte nichts entstehen.


    Xenia widersetzt sich und bleibt. In die Stipendiatenwohnung zieht noch ein Schriftsteller aus dem Allgäu ein, Xenia findet ihn nicht sehr sympathisch. "Er erinnerte mich an Peter Sloterdijk, war also hässlich" schreibt Evelyn Grill. Kurz blitzt der böse Blick der Autorin auf. Aber dann trifft eine dritte Bewohnerin ein: die Fotografin Alma aus Wien. Xenia ist wie verzaubert von dieser Person, die ein königliches Auftreten besitzt und hinreißend schön ist, im Gegensatz zu Xenia:

    Ich war nicht schön. Damit hatte ich mich abgefunden. Ich machte nichts aus mir. Sie hat einen schönen Gang, das sind die Komplimente, die ich hörte. Einen schönen Gang. Wenn man mich von ferne sieht, wie ich gehe, wie ich ausschreite, vermuten die Menschen, eine attraktive Frau käme auf sie zu. Aber sie sehen dann doch nur mich und schauen gleich wieder weg. In meinem Mauerblümchendasein habe ich mich eingerichtet. Da lockt mich keiner mehr heraus. Du sollst etwas aus dir machen, alle Welt macht etwas aus sich, einer so unattraktiven, einer blassen Künstlerin traut man auch keine guten Bilder zu. Wer sagte das? Niemand, aber es lag in der Luft, diese Sätze waren in allen Hochglanzzeitschriften zu lesen. Meine Mutter hat immer etwas aus sich gemacht.

    Wie durch ein Wunder nimmt sich Alma Xenias an, nimmt sie mit auf einen Fototermin, schlendert mit ihr Hand in Hand durch Rom, plötzlich sind alle Blicke auf sie gerichtet - aber gemeint ist immer die andere. Alma ist unbefangen, möchte Xenia fotografieren, weil sie ihr gefällt und nimmt sie auch mit zu einem Freund, der als Bestsellerautor in Rom lebt, ein Koloss von Mensch, der sich prächtig im Leben eingerichtet hat. Xenia ist so fasziniert von seinem Gesicht, dass sie später wie im Rausch sechs Bilder von ihm malt. Xenia kann Alma diese Bilder nicht mehr zeigen, denn die verschwindet in der Nacht nach dem Besuch bei dem Bestsellerautor, der sich später als ihr Cousin, ihr einziger Verwandter herausstellt. Xenia ist enttäuscht, dass Alma sie wortlos im Stich lässt, aber sie erfährt dann, dass Alma schon immer ein geheimnisvoller Mensch war. Sie taucht auf und verschwindet, sie bezaubert die Menschen, aber lässt sich von niemand binden, auch nicht von ihrem Ehemann, einem römischen Grafen, der darüber in Wahnsinn verfällt. Der Bestsellerautor klärt Xenia auf, mit Alma müsse man kein Mitleid haben:

    Ich bin nicht der einzige, den sie ruiniert hat. Es sind nicht nur Männer, auch Frauen hat sie zerstört, und wenn sie ein Haustier hätte, dann würde auch der Hund oder die Katze oder der Papagei an ihr zugrunde gehen. Du hast Glück, dass sie plötzlich nach Palermo musste, bevor du ihr verfallen bist, sagte er und grinste, du warst schon auf dem besten Wege, du warst reif.

    Alma bleibt verschwunden, Xenia wird weiter von ihrer besorgten Schwester durch Telefonanrufe gequält, doch Mitleid mit der Mutter zu haben. Die Malerin taucht ein in Erinnerungen an ihre Kindheit, sie durchlebt wieder die Gefühle des Verlassenseins, die Kälte der Mutter, die nur für ihr eigenes Glück lebte. Auch die Stadt Rom verändert sich:

    Das römische Licht war eine große Täuscherin, es verstärkte das Schöne und betonte das Hässliche.

    Und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Aus der Zeitung erfährt Xenia, dass Alma in Palermo das Opfer einer Autobombe wurde, die von der Camorra gezündet worden war; der Bestsellerautor erliegt fast zeitgleich einem Herzinfarkt; Xenia entschließt sich, nach Linz zu fahren, um am Krankenbett ihrer Mutter ihrer Tochterpflicht nachzukommen. Sie wählt den Zug, weil sie das Ankommen in der ihr fremd gewordenen Heimatstadt möglichst lange hinauszögern möchte. Die Mutter liegt weiterhin im Koma; Xenia begreift, sie wird nie die alten Konflikte mit ihrer Mutter mehr lösen können. Schließlich stirbt die Mutter in ihrem Beisein, am Tag nach der Beerdigung reist Xenia zurück nach Rom.
    In einer knappen, unsentimentalen Sprache beschreibt Evelyn Grill zweierlei Qual: die unbewältigten Kindheitstraumata und die Herausforderung, als Künstlerin den richtigen Weg zu finden, frei von Exaltationen. Die Autorin verzichtet auf jede Überhöhung oder Tiefgründelei und gerade deshalb gelingt ihr ein überzeugender Roman, getaucht in römisches Licht.