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Sittengeschichte aus kriminalistischem Stoff

Ein spektakulärer Justizfall zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht im Zentrum des Romans "Hau" von Bernd Schroeder. Der Autor übernimmt das Regelwerk des Indizienprozesses als Methodik des Erzählens. Am Ende steht die Ohnmacht der Unklärbarkeit.

Von Ursula März | 10.09.2006
    Im September 1928 ereignete sich im österreichischen Zillertal ein Todesfall, dessen Ursache nie vollkommen geklärt werden konnte. Bei einer Gebirgstour stürzt der Vater Philipp Halsmanns in eine Schlucht und stirbt kurz darauf. Die jüdische Familie Halsmann stammte aus Riga und befand sich, wie jedes Jahr in Tirol zum Urlaub. Der junge Philipp Halsmann wurde im darauf folgenden Winter vom Schwurgericht Innsbruck angeklagt, seinen Vater in Mordabsicht in die Schlucht gestoßen zu haben. Es kam zu einem spektakulären Indizienprozess, in dessen Verlauf sich Intellektuelle wie Albert Einstein und Thomas Mann zu Wort meldeten, die hellhörig waren für das antisemitische Rumoren im Untergrund des juristischen und des öffentlichen Vorgangs.

    Der österreichische Schriftsteller Martin Pollack hat den Fall Halsmann in seinem vor drei Jahren erschienen Dokumentarroman erzählt. Er hat alle verfügbaren Akten und Materialien aufgearbeitet. Aber im Zentrum seines Buches steht ein Fragezeichen. Denn rätselhaft ist bis heute nicht nur das tödliche Geschehen in den Tiroler Bergen. Rätselhaft ist auch der Charakter Philipp Halsmanns, der 1940 in die USA emigrierte, zum berühmten Star- und Prominentenfotograf avancierte - und über den ersten Teil seines Lebens, über den Prozess und seine Haftzeit nie wieder ein Wort verlor. Durch Halsmanns Biografie geht ein schizoider Riss, oder, wie Pollack in einem Interview über seinen authentischen Romanprotagonisten äußerte: "Mir ist die Figur nach wie vor rätselhaft. Es gibt für mich einen unheimlichen Bruch". Nicht viel anders würde sich vermutlich der Autor und Regisseur Bernd Schroeder über die Hauptfigur seines Romans "Hau" äußern, der einen ebenso spektakulären, international wellenschlagenden Justizfall des 20. Jahrhunderts behandelt.

    "Nun soll es also heute, den 21.1.1907, zum Ortstermin an den Lindenstaffeln kommen. Untersuchungsrichter Dr. Vischer will den Mord nachstellen. Und wenn es schon nicht mehr den Schauder der öffentlichen Hinrichtungen gibt, so will man dem Publikum doch mit dieser Inszenierung Genüge tun."

    Im Sommer 1907 stand Karl Hau in Karlsruhe vor Gericht, angeklagt, im Herbst 1906 in Baden-Baden aus Habgier seine Schwiegermutter auf offener Straße erstochen zu haben. Wie im Fall Halsmann kam es im Fall Hau zu einem umstrittenen, juristisch heiklen Indizienprozess, in dessen Widersprüchen, Ungereimtheiten und ideologische Reibungen sich historischer Zeitgeist verdichtet. Bernd Schröders Dokumentarroman über Karl Hau ist ein indirektes Spiegelbild der deutschen Gesellschaft im knirschenden Übergang zwischen Gründerzeit und Erstem Weltkrieg, zwischen Kaiserreich und Republik.

    In ihrer erzählerischen, romantechnischen Konstruktion unterscheiden sich die Bücher von Martin Pollack und Bernd Schroeder. Im Kernthema aber sind sie sich gleich. Denn in beiden Geschichten, dem Fall Halsmann und dem Fall Hau, bleibt bis zur letzten Romanseite offen, wer oder was diese Männer eigentlich sind: schuldig oder unschuldig, monströse Lügner, die über Jahre und Jahrzehnte einen Mord leugnen, den sie begangen haben oder Opfer der Anklage, Opfer eines öffentlichen aggressiven Ressentiments und einer Lynchjustizstimmung, die die Massen anheizte, in Scharen auf die Zuschauerbänke der Gerichtsäle lenkte. Dieser Topos aber, die Ohnmacht der Unklärbarkeit, unterscheidet die Romane von üblichen historischen Gerichtsthrillern. Sie zielen, ohne es direkt auszusprechen, auf eine Philosophie der Ratlosigkeit, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchsetzt. Der Justizprozess aber, der nur Indizien zur Hand hat, weder über Zeugen, noch über Beweise verfügt, fungiert als das konkrete Paradebeispiel dieser Ratlosigkeit.

    "Die Glaubwürdigkeit der Generalswitwe Terzi, die Hau um 5 Uhr 57 an einer Stelle gesehen haben wollte, von aus er 'bequem' in den verbleibenden fünf Minuten zum Tatort hätte gelangen können, um in aller Ruhe um 6 Uhr 02 den Mord auszuführen und an der Kaiserin Augusta die Droschke des Kutschers Braun zu besteigen, zog Sello nicht in Zweifel, obwohl Frau Terzi bei einer Gegenüberstellung Hau nicht erkannte, während Fräulein Eisele sich erst gemeldet hatte, als sie in dem in der Zeitung abgebildeten Hau den Mann wiedererkannte, den sie in der Fremersbergstraße gesehen hatte. Nun hätte man noch annehmen können, dass nur Personen bestimmten Standes Glaubwürdigkeit zugestanden wurde, also einer Generalswitwe sehr wohl, nicht aber einem Kutscher oder einem Zimmerfräulein, wenn nicht auch die Aussage der Frau von Reitzenstein, einer Nachbarin der Molitors, in Frage gestellt worden wäre. Ihre Beobachtung, die sie unter Eid bekräftigte, passte nicht ins Indizienkartenhaus des Staatsanwaltes Dr. Bleicher. Frau von Reitzenstein wollte kurz nach 5 Uhr 50 von ihrem Gartentor aus gesehen haben, wie Hau in Richtung Fremersbergstraße strebte, was bedeutete, dass er dann nicht der Mörder auf den Lindenstaffeln gewesen sein konnte und die Aussagen des Fräulein Eisele und des Kutschers gestimmt hätten. Im Gegensatz zu Frau Terzi erkannte Freifrau von Reitzenstein Karl Hau wieder. Staatsanwalt Dr. Bleicher, der in seiner Beweiskette für die Zeit 6. November 5 Uhr 45 bis 6 Uhr 15, die Zeit, in der der Mord passierte, nichts als eine weiße Stelle sah, ließ Hau nicht, wie es Frau von Reitzenstein behauptete, zur Fremersbergstraße gehen, sondern den Weg über die Lindenstaffeln nehmen, um dabei zu morden."

    Karl Hau, zu Beginn der Erzählung noch Jurastudent, ist ein dubioser, ein zwielichtiger, in widersprüchliche Teile zerfallender, kurzum: ein moderner Charakter. Enthemmter Schnösel, blasierter Schwindler und Hochstapler einerseits. Ambitionierter Akademiker, weltoffener Bildungsmensch andererseits. Schamloser Frauenheld und zwanghafter Kleinbürger in einem. Dieses undefinierbare Schillern einer Persönlichkeit, die sich überall anpasst und zugleich jeder Regel, jeder moralischen Vereinbarung entzieht, dürfte, unter anderem, Bernd Schroeder am Fall Hau gereizt haben.

    "Der junge Mann im Leinenanzug, die Jacke über die Schulter gehängt, schlendert mit aufreizender Selbstverlorenheit über den jetzt zur Mittagszeit menschenleeren Strand, als wüsste er, dass zwei Augen jede seiner Bewegungen beobachten, als spürte er das Herzklopfen, als ahnte er etwas von dem, was Olga später, als er um die Ecke des Grandhotels gebogen, außer Sichtweite ist, in das unter ihrer intimsten Wäsche versteckte Buch schreiben wird."

    Die Geschichte dieses Falls beginnt im Jahr 1901 in einem Urlaubsort auf Korsika. Drei, aus Baden-Baden angereiste, dem soliden deutschen Bürgertum angehörende Damen befinden sich dort in Ferien: Frau Molitor - das spätere Mordopfer - , Witwe eines Medizinalrates und zwei ihrer Töchter, beide unverheiratet, die 24-jährige, eher in sich ruhende Lina Molitor und ihre fünf Jahre jüngere, eher überspannte, der Produktion unsäglicher Gedichte verfallene Schwester Olga. Zwei typische Geschöpfe auf der Kulturschwelle zwischen Tradition und Emanzipation. Sie haben nichts zu tun, nichts vor im Leben als auf eine Ehe zu hoffen und zu warten. 50 Jahre früher hätten sie sich mit diesem Zustand in friedlichem Einverständnis befunden, 20 Jahre später ihn mit einer Ausbildung oder gar einem Universitätsstudium abgekürzt. So aber, im Jahr 1901, sind sie nur diffus unzufrieden, richtungslos zerrissen, auf eine begrifflose Weise vom Leben frustriert, bevor es überhaupt begonnen hat und doch nicht in der Lage, es in die Hand zu nehmen. Frauenfiguren wie diese Lina und Olga Molitor kann man sich leicht in der Galerie der Freud´schen Hysterikerinnen vorstellen. Und ebenso leicht kann man nachvollziehen, wie ihr Energiestau sich in obsessiver Schwärmerei für einen galanten, mondänen, erfolgs- und menschengierigen Schönling namens Karl Hau entlädt, bei dem echte Brillanz von gespielter nicht zu unterscheiden ist. Für Hau ist es ein Kinderspiel, Lina Monitor um den Finger zu wickeln, sie aus dem öden Baden-Baden buchstäblich zu entführen. Sie heiraten. Hau geht mit Lina Molitor nach Amerika, schlägt an der Washingtoner Universität eine vielversprechende Laufbahn im Fach der Jurisprudenz ein. An ihre fünf Jahre später ermordete Mutter schreibt Lina nach Baden-Baden:

    "Liebe Mama. Vor vier Tagen sind wir umgezogen. Ein Trupp Neger hat alles hergeschafft. Nun habe ich viel Arbeit. Aber ich gehe mit Freude daran. Leider bin ich immer noch nicht richtig gesund. Immer der Unterleib. Immer wieder Entzündungen. Was habe ich verbrochen, dass ich keinen Tag ohne Beschwerden haben darf?. Und mein Mann ist rührend besorgt, dabei plagen ihn die Folgen der Tuberkolose, die er als Junge hatte, immer wieder. Wenn eine Infektion in Umlauf ist, bekommen wir sie garantiert. Wenn Du auf der Karte schaust, dann ist Aurora nordwestlich von Washington im Staate West-Virginia. Wir haben jetzt ein Zimmer mehr und alles auf einer Etage. Da wir jetzt viel Besuch aus Professorenkreisen haben, einen gehobeneren Umgang, war die Wohnung ein Muss. Die Amerikaner geben viel auf Money-Kriterien. Man muss was haben und das muss man sehen. An der Kleidung und an der Wohnung. Wer nichts hat, muss eben so tun. Der Vorteil hier ist, es ist sehr hell, beinahe lichtdurchflutet und vom Milieu her ein absoluter Aufstieg. Und hier wohnen keine Neger! Ich habe eine Terrasse mit Hängematte, und es gibt gute Läden und eine Bibliothek. Mein Mann hat jetzt alle sprachlichen Barrieren durchbrochen. Er ist da viel weiter als ich. Er ist sehr fleißig. In der Klasse, die er unterrichtet, sind die meisten älter als er. Ich bin so stolz auf ihn und kann mir gar nicht vorstellen, ihn mal nicht gekannt zu haben. Ich muss mir jetzt regelmäßig die Kopfhaut massieren lassen. Von den Medikamenten gehen mir immer noch Haare aus. Ich bin schon fast kahl. Grüße an Olga. Will sie denn gar nicht unter die Haube? Deine Lina."

    Bernd Schroeder faltet das psychologische und soziokulturelle Ausgangsszenario breit auf - ohne eine seiner Figuren zu diskreditieren. In dieser literarischen Figurenethik liegt eine der Qualitäten seines Buches. Denn natürlich wären die Damen Molitor, die sich auf Korsika nach einem 19-jährigen Habenichts verzehren und von ihm im Lauf der nächsten Jahre in den Abgrund reißen lassen, ein Fest der Satire. Hau lügt ihnen über sein Vermögen, seine Herkunft, seine Aussichten, seine angeblichen prominenten Kontakte das Blaue vom Himmel herunter und hat noch mit dem größten Blödsinn Erfolg bei den hungrigen Frauenherzen. Lina und Olga Molitor verbeißen sich auf der Stelle in eifersüchtige Schwesternkonkurrenz. Die gutgläubige Mutter, die naive Tochter und spätere Frau Hau, die sich jahrelang über das geschäftliche und geschlechtliche Doppelleben ihres Mannes täuschen lässt, in Washington, Paris oder London sitzt, auf den Gatten wartet, strickt und kocht, während Hau in Konstantinopel ihre Mitgift mit Mätressen durchbringt - solche Figuren wären Leckerbissen einer Humoreske. Hier, in der Obhut des Autors, sind sie vor allem eines: Die traurigen Heldinnen einer Tragödie, an der ihr historisches Milieu kräftig mitwirkt. Lina Molitor bringt sich um, nachdem die gegen ihren Mann geführten Ermittlungen und deren Enthüllungen ihr Lebens- und Selbstbild verwüstet haben. Olga Molitor kommt in den Verdacht, durch einen Flirt mit dem Schwager dessen - unterstellte - Mordabsichten angereizt zu haben. Oder sogar seine Komplizin im - unterstellten - Mord der Mutter gewesen zu sein. Bei all dem handelt es sich um Spekulationen aus Indizien. Denn wer der Mann war, der im Herbst 1906 in seltsam auffälliger Maskierung mit ungeschickter Perücke und angeklebtem Schnurrbart durch Baden-Baden hetzte, just zu dem Zeitpunkt, als Frau Molitor von einem Unbekannten erstochen wurde, und ob dieser Unbekannte identisch mit dem Maskierten und dieser eben Karl Hau war, das alles bleibt vernebelt.

    "Endlich ist Ruhe im Saal. Das Spiel kann beginnen. Dr. Eller macht seinen ersten Zug: 'Angeklagter, haben Sie die Tat begangen?' – 'Nein.' Hau sagt es mit fester Stimme. 'Sie waren zur Zeit der Tat aber in Baden-Baden?' – 'Darüber mache ich keine Angaben.' – 'Sie sollen sich schon in ganz jungen Jahren, auf dem Gymnasium, mit Frauenzimmer herumgetrieben und sich dabei etwas geholt haben?' Hau lächelt und zögert. Leichtes Raunen im Saal. 'Darüber möchte ich keine Angaben machen'. – 'Auch auf der Universität sollen Sie viel und wahllos mit Weibern umgegangen sein. Sie sollen stark gelebt und dann einen Blutsturz gehabt haben?' – 'Ich will letzteres nicht in Abrede stellen'. Das Publikum will unruhig werden, wird aber vom Vorsitzenden zur Ordnung gerufen, der froh ist, dieses Thema so früh schon angesprochen zu haben. 'Sie mussten sich dann in eine Lungenheilanstalt und schließlich nach de Riviera und nach Korsika begeben?' – 'Ja.' – 'Waren Sie auch in Monte Carlo?' – 'Ja.' – 'Haben Sie dort auch gespielt?' – 'Ja.' – 'Da waren Sie gerade neunzehn?' – 'Ja'. – 'Auf Korsika lernten Sie Frau Molitor und ihre Töchter kennen?' – 'Ja.' – 'Wie kamen Sie in nähere Beziehung zu Fräulein Lina Molitor und den anderen Damen?' – 'Ich lehne darüber jede Auskunft ab'. – 'Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass die Verweigerung der Auskunft bei einer so furchtbaren Sache doch wohl überlegt sein muss'. – 'Danke'. – 'Sie haben dann mit Fräulein Molitor eine Korrespondenz geführt?' – 'Ja.' – 'War diese sehr leidenschaftlich?' – 'Ich verweigere die Auskunft'. – 'Fräulein Molitor wollte der Sache ein Ende machen. Sie war einem Offizier versprochen, schrieb dann aber, sie könne nicht die Frau eines anderen werden. Sie verschwand dann mit Ihnen, nachdem sie 2000 Mark von der Sparkasse abgehoben hatte.' Dr Eller schaut Hau fragend an. Der lächelt und verschränkt die Arme vor der Brust."

    Karl Hau wurde vom Schwurgericht Karlsruhe zum Tod verurteilt, dann zu lebenslanger Haft begnadigt. Im Jahr 1924 wird er aus dem Gefängnis entlassen, kahlköpfig und dick, für niemand wiederzuerkennen. Das Charakterbild, das Bernd Schroeder von diesem Karl Hau zeichnet, ist ein melancholisches Ambivalenzbild. Es ist das Porträt eines Mannes, der nicht zu verstehen ist. Auch darin liegt eine Tragödie. Und es ist das Porträt eines Mannes, der sich Leben nicht anders denn als Doppelleben vorstellen kann. Darin liegt seine Modernität.

    Um Karl Hau herum aber hat der Autor ein illustres, episches Ensemble aus Nebenfiguren geschaffen. "Hau" ist, was Justizerzählung im besten Fall sein kann: Sittengeschichte aus kriminalistischem Stoff. Die literarische Stärke von Schroeders Roman aber liegt in der dechronologisierenden Montagekonstruktion. Die Schauplätze und Zeitebenen der gesamten, über ein Vierteljahrhundert gedehnten Geschichte, vom Anbandeln auf Korsika über den Karlsruher Prozess bis zu Haus Haftentlassung und seiner Karriere als Buchautor in eigener Sache, mischt der Roman Kapitel für Kapitel wie ein Kartenspiel. So unterläuft er den eingleisigen, linearen Spannungsausbau des konventionellen Thrillers und übernimmt das Regelwerk des Indizienprozesses als Methodik des Erzählens: Von allen Seiten kommen Fakten und Berichte. Aber auch in der Summe ergeben sie nicht verlässliches Wissen. Sie treffen sich in einem leeren Zentrum.