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Situation in Flüchtlingslagern
"Die Katastrophe ist nicht zu Ende"

600.000 Menschen sind vor dem Bürgerkrieg aus Syrien nach Jordanien geflohen. 100.000 von ihnen leben alleine im Flüchtlingslager Saatari. Nun steht der Winter vor der Tür. Und: "Es fehlt an allem", sagte Kathrin Wieland, Geschäftsführerin von "Save the Children Deutschland", im DLF.

Kathrin Wieland im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 19.11.2014
    Syrische Flüchtlinge hocken am 02.03.2014 im Flüchtlingslager Saatari in Jordanien.
    An die 100.000 Menschen leben im jordanischen Flüchtlingslager Saatari. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)

    Trotzdem habe man die Lage im Flüchtlingslager Saatari im Griff, sagte Kathrin Wieland, Geschäftsführerin von "Save the Children Deutschland", im Deutschlandfunk. "Sorge bereitet die Situation der Menschen in den vielen inoffiziellen Flüchtlingscamps", sagte Wieland. Die existierten in ganz Jordanien. Die Menschen, die dort leben, hätten oft nicht das Nötigste zu Leben.
    600.000 Menschen aus Syrien hat Jordanien aufgenommen. Mehr ginge nicht. Das Land habe seine Kapazitäten erreicht. "Das ist ungefähr so, als ob Deutschland in den vergangenen zwei Jahr acht Millionen Flüchtlinge aufgenommen hätte", sagte Wieland. Ein Problem sei auch, dass die Flüchtlinge aus Syrien als Thema in den Medien verschwunden seien. Die Aufmerksamkeit der Welt ließe nach. Wieland: "Die Katastrophe ist aber längst nicht zu Ende."

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Es ist eine dramatische Entwicklung nur wenige Flugstunden von uns entfernt, und dennoch hat man bei uns in Deutschland manchmal den Eindruck, der Bürgerkrieg in Syrien, der sei aus der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen ausgeblendet. Neben einem verwüsteten Land und vielen Toten hat dieser Krieg vor allem eine beispiellose Flüchtlingswelle ausgelöst. Millionen von Menschen in den syrischen Anrainerstaaten leben inzwischen in Zelt- oder Containerstädten oder in illegalen Siedlungen, und dort in diesen Flüchtlingslagern wird es jetzt langsam mit dem einbrechenden Winter sehr, sehr kalt. Jordanien zählt zu den Ländern mit dem größten Anteil von syrischen Flüchtlingen. Dort bin ich jetzt verbunden mit Kathrin Wieland. Sie ist Geschäftsführerin der Kinderhilfsorganisation "Save the Children". Schönen guten Morgen nach Amman.
    Kathrin Wieland: Guten Morgen.
    Armbrüster: Frau Wieland, was bekommen Sie dort in Jordanien zu sehen, wenn sie syrische Flüchtlinge besuchen?
    Wieland: Ja. Wir bekommen natürlich zu sehen erst mal Unmengen von Menschen. Das heißt, Jordanien hat ja, wie Sie gerade sagten, über 600.000 Menschen aufgenommen, und es ist ein kleines Land. Das heißt, was wir ganz stark sehen ist, dass sich viel, viel verbessert hat, dass wir viel tun konnten für die Situation der Flüchtlinge, gerade in den Lagern. In den großen Lagern wie Zaatari, wo ich gestern war, da war die Situation vor zwei Jahren, als ich das erste Mal da war, wirklich schlimm. Es gab kein Wasser, es gab keinen Strom, es gab nicht genug zu Essen, es gab keinerlei Möglichkeiten, dass die Kinder sich beschäftigen können. Dort ist es uns jetzt heute gelungen als internationale Gemeinschaft, dass fast alle Kinder in die Schule gehen können, wenn auch in zwei Schichten, dass sie einen Abschluss machen können. Wir haben Stillcontainer für Mütter, die natürlich in dieser Wüste, die im Sommer unermesslich heiß ist und wo es jetzt richtig kalt und regnerisch wird, irgendwo einen Platz brauchen, wo sie wickeln können, für sie für sich rein können. Da ist wahnsinnig viel passiert.
    Aber es geht weiter. Die Katastrophe, die Krise ist nicht zu Ende, und wir sehen, dass sich täglich jetzt auch der Winter nähert und die Bedarfe immer größer werden, aber man das Gefühl hat, dass natürlich das Thema in den Medien verschwunden ist, dass das Thema für das öffentliche Interesse ein bisschen zurückgeht.
    Syrische Flüchtlinge laufen im September 2013 über die Hauptstraße eines Flüchtlingscamps in Mafraq, Jordanien.
    Syrische Flüchtlinge in Jordanien (picture alliance / dpa/ Jamal Nasrallah)
    "Es werden täglich mehr"
    Armbrüster: Können Sie uns das ein bisschen genauer erklären? Was passiert in so einem Flüchtlingslager wie Zaatari im Winter, wenn es kalt wird?
    Wieland: Ja. Zaatari ist ja nur wenige Kilometer von der syrischen Grenze mitten in der Wüste. Das heißt, es hat diese extremen Temperaturen: im Sommer bis an die 50 Grad und im Winter fallen die Temperaturen auf unter den Gefrierpunkt. Wir hatten in den letzten Jahren schwere Verwüstungen durch Überschwemmungen. In Amman - man mag es kaum glauben - schneit es auch. Letztes Jahr im Winter gab es wirklich kniehoch Schnee mit all den Problemen, die wir ja auch aus Deutschland kennen. Und wenn Sie sich vorstellen, Sie sitzen mit der Familie in einem Zelt oder maximal in einem Container, und Sie haben natürlich auch oftmals nur Dinge mitnehmen können, die Kinder haben nur leichte Kleidung, haben vielleicht noch Flip Flops an den Füßen, dann fehlt es natürlich an allem.
    Was wir momentan machen ist, dass wir schauen, wie die Bedarfe sind, was gibt es, welche Familie hat Heizöfen, welche Familien braucht Brennmaterial, wie viele Kinder sind da, was brauchen die an wärmender Kleidung. Dann können wir nur versuchen, sie darauf einzustellen und jetzt die Familien möglichst auszustatten. Aber es sind Hunderttausende und es werden täglich mehr.
    "Wir müssen Perspektiven schaffen"
    Armbrüster: Wenn man sich das vor Augen führt, einmal diese Fluchtwelle, diese Menschen, die so unglaublich Schreckliches erlebt haben bei ihrer Flucht, jetzt in diesem Flüchtlingslager sitzen und merken, möglicherweise wird uns nicht richtig geholfen und wir müssen hier einen Winter in eisiger Kälte verbringen, führt das auch dazu, dass die Menschen möglicherweise sich weiter radikalisieren?
    Wieland: Das konnte ich jetzt nicht bemerken. Wir versuchen natürlich, gerade junge Menschen, junge Männer zu beschäftigen, jetzt nicht nur in den Lagern, sondern vor allem auch in den Aufnahmegemeinden Möglichkeiten schaffen, indem wir Ausbildung schaffen, indem wir schauen, gibt es zum Beispiel Syrer, die ein gewisses Knowhow haben, die wir dann zu ehrenamtlichen Mitarbeitern machen und die dann zum Beispiel Schulungen machen. Wir haben in den letzten Tagen an der syrischen Grenze in Gemeinden, die direkt an der Grenze liegen, gesehen, dass es Kurse gibt, wo Frauen zum Beispiel Friseurin lernen können, oder wo junge Männer ein Handwerk erlernen können, weil natürlich geht es darum, Perspektiven zu schaffen. Das ist das, was ich hier gesehen habe. Dort wo es uns gelingt, die Menschen zu erreichen, vor allem die Kinder und die Jugendlichen zu erreichen - die können einen Schulabschluss machen -, die haben auch alle Hoffnung. Jedes Kind, was Sie fragen, jeden Jugendlichen, en Sie fragen, was eigentlich mein größter Wunsch, mein einziger Traum ist, dass dieser Konflikt in Syrien beendet wird und wir zurück können, wir wollen unser Land aufbauen. Ich glaube, das ist wichtig, dass sie schon das Gefühl haben, sie werden nicht allein gelassen, und dass man ihnen eine Perspektive gibt. Ich weiß nicht, ob Sie selber auch Flüchtlingslager besucht haben. Diese Perspektivlosigkeit, diese Hoffnungslosigkeit, die ist natürlich entsetzlich.
    Vier Kinder, 2 größere Mädchen und 2 kleinere Jungs, gehen Hand in Hand auf einem Weg im Flüchtlingslager, im Hintergrund sind Zelte zu sehen
    Kinder im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien (KHALIL MAZRAAWI / AFP)
    "Wir müssen Jordanien unterstützen"
    Armbrüster: Oder sieht die Perspektive möglicherweise so aus, dass sich diese Menschen darauf einstellen müssen, langfristig, möglicherweise die Kinder bis weit in ihr Erwachsenenleben hinein in Jordanien oder in anderen dieser Anrainerstaaten bleiben zu müssen?
    Wieland: Das ist natürlich momentan ein Szenario, was wir durchdenken, durchrechnen. Wir wissen, dass im Flüchtlingslager die Menschen durchschnittlich etwa sieben Jahre bleiben. Aber man muss natürlich momentan auch bedenken, wie groß der Druck auf Jordanien ist. Mehr als 600, 700.000 Flüchtlinge, das ist zehn Prozent der Bevölkerung. Das wäre so, als ob wir in den letzten zwei Jahren in Deutschland acht Millionen Flüchtlinge aufgenommen hätten. Man kann sich vorstellen, was das in so einem armen Land bedeutet, für Wasser, für Nahrungsmittel. Die Mieten sind unglaublich gestiegen. Wir haben natürlich auch Probleme mit vielen illegalen Arbeitern. Wir sehen hier am Straßenrand das Thema Kinderarbeit. Wir haben sehr, sehr viele Kinder und Jugendliche gesehen, die wirklich sehr viel arbeiten müssen, Elfjährige, die berichtet haben, dass sie sechs, acht Stunden auf irgendwelchen Oliven-Plantagen arbeiten. Das ist schon ein unglaublicher Druck hier auf die Gesellschaft.
    Unser Ziel wäre natürlich, diesen Konflikt zu beenden und zu schauen - das tun wir momentan -, wie können wir nicht nur in den Lagern, sondern wie können wir auch Jordanien stärken, wie können wir auch hier die sozialen Systeme so weit stärken, dass es nicht auch in dieser Gesellschaft zu Unruhen kommt, denn momentan ist das Land ja noch sehr stabil und das müssen wir auf jeden Fall versuchen, zu unterstützen.
    Armbrüster: Wenn wir jetzt noch mal auf die Lage der Kinder in diesen Flüchtlingslagern gucken, woran, würden Sie sagen, mangelt es in den kommenden Wintermonaten dann am meisten?
    "Es sind sehr viele inoffizielle Siedlungen entstanden"
    Wieland: In den Flüchtlingslagern, denke ich, haben wir die Situation als internationale Gemeinschaft gut im Griff. Da passiert auch wirklich sehr, sehr viel Koordination. Alle arbeiten gut, Hand in Hand. Was mir momentan mehr Sorgen macht, das sind die Aufnahmegemeinden, wo die Familien in alten Ställen oder in verlassenen Gebäuden sind. Und vor allem: Wir haben mehr und mehr gesehen, wenn wir so durch die Wüste fahren: Überall stehen kleine Zelte herum, sind so kleine Ansiedlungen. Das heißt, es sind sehr, sehr viele inoffizielle Siedlungen entstanden. Da haben wir auch Familien besucht und da war es so, dass die keinen Zugang haben zu Wasser oder Strom. Wir haben keinerlei Möglichkeiten, sie zu erreichen, weil sie oftmals auch von der Polizei vertrieben werden. Und was wir momentan versuchen ist, da wirklich diese kleinen Familienclans zu stärken, indem wir schauen, gibt es dort noch jemanden, der eine Ausbildung hat, den wir als Lehrer ausbilden können. Das habe ich auch gesehen, dass die Eltern ihre Kinder unterrichten, dass wir sie da unterstützen. Das sind die Themen, wenn ich mir jetzt diesen nahenden Winter angucke, die mir Sorgen machen.
    Armbrüster: Kathrin Wieland war das, die Geschäftsführerin der Kinderhilfsorganisation "Save the Children" zur aktuellen Lage in den syrischen Flüchtlingslagern in Jordanien. Vielen Dank, Frau Wieland, für das Gespräch heute Morgen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.