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Social-Media-Phänomene
Warum wir immer neue Sündenböcke brauchen

In ihrem Buch "Wir Opfer" geht Kirstin Breitenfellner dem Phänomen des Sündenbocks auf den Grund. Mit Twitter und Facebook hätten sich neue Formen der Täterverfolgung entwickelt – egal ob für mutmaßliche Vergewaltiger, Steuerhinterzieher oder Schein-Doktoren.

Von Matthias Eckoldt | 29.08.2014
    "Etwas nicht zu verstehen kann ein hervorragender Motor sein. Am Anfang dieses Buches stand das Unverständnis. Ich saß als Kind in der Kirche, gerade durch die Kommunion zu einem vollwertigen Mitglied der Gemeinde aufgestiegen, und verstand es nicht: Warum musste Jesus sterben? Warum hat er sich geopfert? Warum muss es überhaupt Opfer geben?"
    Von diesen Fragen angetrieben, begann sich Kirstin Breitenfellner in die Materie einzuarbeiten und wurde bei René Girard fündig. Der mittlerweile 90-jährige französische Kulturphilosoph stellt das Opfer ins Zentrum seiner Überlegungen und misst ihm die entscheidende Funktion bei der Befriedung von Gemeinschaften zu. Demnach haben sich die Rivalitäten und Gewaltexzesse in den frühen menschlichen Horden in dem Moment entschärft, als ein anfänglich zufälliges Opfer gefunden wurde. Da die Gemeinschaft die positiven Auswirkungen schätzte, sich aber den Südenbockprozess selbst nicht erklären konnte, verklärten sie das Opfer post mortem zum Gott. In Krisenzeiten wiederholten die Gemeinschaften das Patentrezept der Opferung und bildeten so nach und nach das heraus, was wir heute unter Kultur verstehen:
    "Früher – das wissen wir – in alten Kulturen waren die Opfer Menschenopfer. In Europa war das noch bis ins vierte Jahrhundert nach Christus der Fall. Das wurde dann später ersetzt durch Tieropfer, durch andere Gaben, Pflanzen und so weiter. Bis es später im Zuge der Weltreligionen dann verinnerlicht wurde in Richtung schlechtes Gewissen, zerknirschtes Herz, Gebete, Fasten, Almosen und solche Dinge. Das Christentum hat den Menschen ein neues Angebot gemacht – nämlich dass jeder Opfer werden kann.
    Kirstin Breitenfellner hat dementsprechend den passenden Titel für ihr Buch gefunden:
    "Wir Opfer - Warum der Sündenbock unsere Kultur bestimmt."
    Der edierende Diederichs-Verlag ist in der Cover-Gestaltung jedoch ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. So sind die Buchstaben 'W' und 'i' im Titel beschädigt von einer Pistole, die mit Zeitungspapier umhüllt ist. Wer jedoch hinter dem reißerischen Cover einen ebensolchen Inhalt vermutet, wird enttäuscht werden. Ebenso sehr, wie jemand, der einen intelligent, sachlich und kompetent vorgetragenen Untersuchungsgang, wie ihn die Germanistin und Philosophin Kirstin Breitenfellner zu bieten hat, durch das Cover von der Lektüre ferngehalten sein mag.
    Die Autorin unternimmt – nachdem sie ihre methodischen Messer bei Rene Girard gewetzt hat – einen lesenswerten Ritt durch die verschiedenartigen Opferkulte, die sich in die Kulturgeschichte der Menschheit eingeschrieben haben. Dabei kommt sie auf die sich wandelnden Rituale in allen Weltreligionen zu sprechen, um schließlich mit den nachchristlichen Opferprozessen zu ihrem eigentlichen Thema vorzustoßen. Kirstin Breitenfellner interessiert sich nämlich im Kern für das Opfer in Zeiten der Säkularisierung. Dafür ist der Erste Weltkrieg eine erste Wegmarke:
    "Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war der Opferstatus nicht mehr etwas, was man erlitt, sondern eine genuine Möglichkeit zur heroischen Tat. Freudig und wie erlöst stürzt sich Hans Castorp in Thomas Manns Roman "Zauberberg" nach sieben Jahren edler Langeweile im Schweizer Sanatorium auf der letzten Seite in das "Weltfest des Todes" des Ersten Weltkriegs. Und er steht nur exemplarisch für viele junge Männer seiner Zeit."
    Fall Kachelmann zeigt, wie Prozesse die Medien heiß laufen lassen
    Breitenfellner macht anhand anhaltender Opfergänge eingängig, dass die Säkularisierung kein abgeschlossenes Projekt ist – so laut auch Nietzsche den Tod Gottes ausgerufen haben mag. Vom Opfertod auf den Schlachtfeldern im Ersten und Zweiten Weltkrieg bis zum Opferkult in den modernen Massenmedien ist es nur ein eher kleiner Schritt.
    "Mein Buch versucht eben die Entwicklung nachzuvollziehen, die man kurz mit einem Gerangel um die Poleposition des Opfers bezeichnen kann, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Aufarbeitung des Holocaust immer mehr Opfergruppen ans Licht der Öffentlichkeit getreten sind in einem mittlerweile manchmal sogar ans Groteske gemahnenden Versuch, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Auf der anderen Seite steht ein Phänomen, das auch bedenklich ist – nämlich eine neue Form der Verfolgung, die via Massenmedien stattfindet. Nämlich eine Verfolgung der Täter – oder vermeintlichen Täter – im Namen der Opfer. Das ist eine Verfolgung, die wohlfeil ist, weil sie oft Prominente betrifft, wo man kein wirkliches Unrechtsbewusstsein hat und sich wohlfeil an der Opferung von jemandem delektieren und sich auch noch gutfühlen kann."
    Am Fall Jörg Kachelmann analysiert Kirstin Breitenfellner, dass Sündenbockprozesse die Medien heiß laufen lassen. Tatsächlich erfüllt diese Art von Ereignissen alle drei Kriterien, die es braucht, um in den Massenmedien aufzutauchen. Wenn ein Prominenter vom Sockel gestoßen wird, kommt es zur Skandalisierung, Moralisierung und Personalisierung. Dabei verschwindet auf eine wundersame Weise die Grenze zwischen Täter und Opfer. Denn ob ein Prominenter tatsächlich schuldig oder unschuldig ist – ob er wirklich vergewaltigt, seine Doktorarbeit gefälscht oder Steuern hinterzogen hat – ist zweitrangig. Er wird in Medien und sozialen Netzwerken gehetzt und schließlich geopfert.
    "Irgendwas wird schon dran sein. Diese verbreitete Denkweise macht es für Menschen mit Rachegelüsten leicht, anderen mit erfundenen Vorwürfen zu schaden. Der Fall Kachelmann zeigt nicht nur deutlich, dass sich die Themen Recht und Medien bei dem zeitgenössischen Opferhype nur schwer auseinanderdividieren lassen, sondern auch, dass nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Justiz gerade bei Prominenten parteiisch werden kann.
    An dieser Stelle hätte Kirstin Breitenfellner noch einen Exkurs über den Ressentimentmensch einschieben können, den Max Scheler, lange bevor es "Bild"-Zeitung und RTL2 gab, analysiert hat. So hätte sie elegant erklären können, dass der dem Ressentiment zugrunde liegende Racheimpuls zur Verbitterung führt und stets unbefriedigt bleibt, womit ein Ende der massenmedialen Opferungen ausgeschlossen ist. Das aber scheint der Autorin von "Wir Opfer" eine zu desillusionierende Pointe gewesen zu sein.
    Fein komponierte Analyse mit mehr als 500 Zitaten
    "Das sind schon Prozesse, die man – glaube ich – nicht so hinnehmen darf. Das sind schon Prozesse – deswegen habe ich das Buch geschrieben – über die ich öffentlich reden möchte. Wir müssen uns fragen als Gesellschaft, ob das so okay ist. Natürlich finde ich das nicht okay. Ich denke, dass es sinnvoll sein kann, sich darüber zu verständigen."
    "Wir können zwar auch so weitermachen wie bisher und dem Karussell der ebenso munteren wie zynischen Opferproduktion in den Medien und der öffentlichen Debatte einfach zusehen. Aber vielleicht lohnt es sich, zumindest den Versuch zu starten, es ein wenig anders zu machen."
    Mit dieser Coda widerspricht die Autorin letztlich den Prämissen, von denen sie in ihrem Großprojekt der Opferkunde ausgegangen ist: Denn wenn es tatsächlich die Funktion des Opfers ist, kulturbildend und gewaltreduzierend zu wirken, würde ihre Forderung nach Einstellung der zeitgenössischen Variante der mediale Opferung letztlich bedeuten, für die Wiedereinrichtung des Hobbes'schen Naturzustands zu plädieren, in dem sich der Mensch bekanntlich als des Menschen Wolf geriert. Ein kleiner Wermutstropfen in der ansonsten von Kirstin Breitenfellner fein komponierten und mit über 500 Zitaten und Anmerkungen breit recherchierten und gut durchgearbeiteten intellektuellen Opferspeise.
    Kirstin Breitenfellner: „Wir Opfer: Warum der Sündenbock unsere Kultur bestimmt", 288 Seiten, Diederichs Verlag, München, 16,99 €