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Sören Kierkegaard (Teil 1)
Jugendjahre und das romantische Lebensgefühl

Sören Kierkegaard gilt als der bedeutendste dänische Philosoph. Er hat als geistiger Wegbereiter der Existenzphilosophie eine enorme Wirkung auf die Philosophie, Theologie und Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert gehabt.

Von Rüdiger Achenbach | 06.07.2015
    "Einige meiner Landsleute meinen, Kopenhagen sei eine langweilige Stadt. Mir scheint es im Gegenteil, aufgefrischt durch das Meer, an dem die Stadt liegt, der glücklichste Aufenthaltsort zu sein, den man sich wünschen kann."

    Für Sören Kierkegaard ist sein geliebtes Kopenhagen die Bühne seines Lebens. Hier schreibt er seine Bücher und hier lässt er seine zahlreichen literarischen Figuren auftreten. Bis auf wenige Reisen nach Berlin, Schweden und Jütland, hat er Kopenhagen nicht verlassen.

    Am 5. Mai 1813 wurde Sören Aaby Kierkegaard in der dänischen Hauptstadt als Jüngster von sieben Geschwistern geboren. Zu diesem Zeitpunkt war sein Vater, der wohlhabende Textilhändler Michael Pedersen Kierkegaard, bereits 56 Jahre alt. Seine jüngere Ehefrau Anne war vor der Heirat Dienstmagd in seinem Haus gewesen. Einige der Kinder sind früh gestorben. Die wichtigste Bezugsperson für den jungen Sören war der streng pietistische und schwermütige Vater. Die evangelische Theologin und Kierkegaard-Biografin Anna Paulsen:

    "Dem Vater war die Erziehung und die religiöse Beeinflussung dieses spätgeborenen Sohnes ein besonderes Anliegen. Das zeigte sich schon in Sörens früher Kindheit. Über diese Zeit erfahren wir manches durch Schilderungen in den späteren Werken und Tagebüchern."

    Da Anne Kierkegaard keinerlei bürgerliche Bildung hatte, trat sie besonders bei der Erziehung der beiden begabten Söhne Peter Christian, dem späteren Bischof von Aalborg und Sören völlig in den Hintergrund. Der dänische Kierkegaard-Biograf Peter Preisler Rohde:

    "Wie ein Schatten gleitet sie durch das Dasein ihres Mannes und ihrer Kinder, eine fürsorgliche und besorgte Glucke, die in die falsche Gesellschaft geraten war."

    Sören Kierkegaard hatte 1830, auf Wunsch seines Vaters, allerdings halbherzig, an der Universität Kopenhagen sein Studium der Theologie begonnen. Der streng religiöse Vater wollte ihn möglichst schnell im Dienst der Kirche sehen. Sören Kierkegaard machte sich damals über den Respekt lustig, den der fromme Vater vor den Geistlichen der dänischen Staatskirche hatte.

    "Für meinen Vater beginnt das Land Kanaan mit der theologischen Amtsprüfung. "

    Während des Studiums distanzierte er sich dann zunehmend von seinem strengen Elternhaus.

    "Als Kind wurde ich streng und ernstlich im Christentum erzogen, menschlich geredet, sogar unsinnig erzogen."
    Gegen eine Frömmigkeit, bei der es nur um Pflicht, Sünde, Reue und Leiden
    Die Tagebücher aus jener Zeit sind voller Polemik gegen das Christentum, wie er es vom Vater kennengelernt hatte. Vehement grenzte er sich nun gegen eine Frömmigkeit ab, bei der es nur um Pflicht, Sünde, Reue und Leiden ging. Anna Paulsen:

    "Es konnte kaum ausbleiben, dass bei einem so stark entwickelten Intellekt während der jugendlichen Entwicklung Zweifel an der Wahrheit des Christentums erwachten, das ihm in so schroffer und gesetzmäßiger Weise vermittelt worden war."

    Der 22-jährige Student schreibt an einen älteren Freund:

    "Ich bin in der Orthodoxie aufgewachsen, wie Sie wissen, aber sobald ich begann, selbst zu denken, fing der ganze ungeheure Koloss an zu wackeln."

    Sören Kierkegaard konnte mit der "stickigen Luft" dieser Religion, wie er sich jetzt ausdrückte, nichts anfangen. Er tauchte in die Welt der Romantik ein. Er las Novalis, Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann und verschrieb sich ganz dem romantischen Lebensgefühl.

    "Dabei geht es um die romantische Verwandlung der Religion in Ästhetik. Keine Bibel, keine von außen kommende Offenbarung, nicht Kirche und Sakramente und Rituale sind nötig, denn der enthusiastische Mensch schöpft alles aus sich selbst."

    Sören Kierkegaard lehnt sich nun gegen alles auf, was Tradition und Konvention ist. 1836 hält er in seinem Tagebuch fest:

    "Das Spießbürgertum ist eigentlich das Unvermögen, sich über die unbedingte Realität von Zeit und Raum zu erheben."

    Immer wieder zitiert er jetzt die deutschen Romantiker in seinen Tagebüchern. Besonders durch E.T.A. Hoffmann sieht er die beschauliche bürgerliche Welt der Biedermeierzeit entlarvt:

    "Er vermag mit der größten Unbarmherzigkeit die Nullität zu entschleiern, die sich hinter all dieser Sentimentalität verbirgt."

    Die romantische Sehnsucht nach Echtheit und das Suchen, das sich mit keiner Gegenwart und keinem Resultat zufriedengeben kann, all das spürt Sören Kierkegaard auch in sich.

    "Es gilt eine Wahrheit zu finden, die eine Wahrheit ist 'für mich', eine Idee, für die ich leben und sterben kann. Was nützt es mir, wenn ich eine so genannte objektive Wahrheit finde, in der ich selbst gar nicht lebe."

    Unter dem Einfluss all dieser Fragen und Zweifel bricht er sein Theologiestudium ab und widmet sich philosophischen und literarischen Studien.

    Außerdem wird er Stammgast in Kaffeehäusern, besucht regelmäßig das Theater und die Oper und führt das kostspielige Leben eines Dandys. Da der monatliche Wechsel vom Vater dafür nicht ausreicht, muss dieser zusätzlich auch die Schulden seines jüngsten Sohnes begleichen. Anna Paulsen:

    "Das Tagebuch verstummt, wie immer in den Krisenzeiten seiner inneren Entwicklung. Man nimmt eine Periode von Ausschweifungen und Verirrungen an, bei der die Kaffeehausclique beteiligt ist. Es kommt zu einer völligen Entfremdung vom Elternhaus, die zeitweiße einer Verstoßung gleichkommt."

    Sören Kierkegaard hat diese Jahre im Dunkeln belassen. Nur einmal beschreibt er sich in seinem Tagebuch, wie sein Vater ihn damals sah:

    "Er verliert sich auf dem grundlosen Meer der Vergnügungen und stürzt sich in Sünde und Ausschweifung."

    Als der Vater dann 1838 stirbt, zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, scheint Sören Kierkegaard plötzlich sein Leben ändern zu wollen. Er fühlt sich nun dem toten Vater gegenüber verpflichtet, das versprochene Theologiestudium abzuschließen.

    Zwei Jahre später, 1840, legt er seine theologische Staatsprüfung ab. Er spielt inzwischen sogar mit dem Gedanken, Landpfarrer zu werden und ein bürgerliches Leben zu führen. Daher verlobt er sich jetzt auch mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen aus einer angesehenen Kopenhagener Familie. Seinem Tagebuch vertraut er an:

    "Schon am Tag darauf sah ich, dass dies eine Fehlentscheidung war."

    Tatsächlich hat er die Verlobung wieder gelöst. Es ist in der Forschung viel darüber gerätselt worden, warum er dies getan hat. Die Spekulationen reichen von Depressionen bis zu sexuellen oder religiösen Motiven. Im Tagebuch notiert er:

    "Sie hat mich eigentlich nie so sehr geliebt, wie sie mich bewundert hat, und ich habe sie vielleicht nie im erotischen Sinne geliebt, aber das liebenswürdige Kind hat mich im schönen Sinne gerührt."

    Am 11. Oktober 1841 hatte er offiziell seine Verlobung gelöst, am 25. Oktober ging er an Bord eines Schiffes, um nach Berlin zu reisen. Dort wollte er sich intensiver mit der Philosophie Hegels beschäftigen, über die seit Jahren auch in Dänemark unter den Intellektuellen heftig diskutiert wurde.

    "In den zwei Monaten, die ich mich in Berlin aufhielt, vertiefte ich mich stets mehr und mehr in das neue System, nicht nur indem ich kursorisch einen Teil von Hegels Schriften las, sondern auch durch Gespräche mit angesehenen Hegelianern."
    Vorlesungen bei Schelling
    Kierkegaard nahm in Berlin auch die Gelegenheit wahr, die damals berühmte Vorlesung Schellings über die Philosophie der Offenbarung zu hören. Seinem Bruder Peter Christian, der auch Theologe ist, schreibt er aus Berlin:

    "Schelling schwätzt ganz unerträglich. Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, sie zu halten. Seine ganze Lehre über Potenzen verrät die äußerste Impotenz."

    Kierkegaard entwickelt nun nach und nach bei seinem Studium der Philosophie Hegels eine Abneigung gegen jedes spekulative philosophische System. Er sieht darin inzwischen nur Phantasieprodukte ohne Bindung an das wirkliche Leben. Er erläutert das an einem Beispiel:

    "Jemand möchte seine Wäsche in einem Geschäft mangeln lassen, in dessen Schaufenster ein Schild mit der Aufschrift 'Wäschemangel' steht. Doch im Geschäft erfährt er, dass dort gar keine Wäsche gemangelt wird, sondern dass nur das Schild zum Verkauf steht."

    Nicht viel anders ist es für ihn beim spekulativen Philosophieren, denn auch dort verführen Begriffe dazu, etwas für real zu halten, was es in der Realität aber nicht gibt. Es geht also letztlich nur um reine Gedankenkonstrukte. Richard Purkarthofer, Mitarbeiter an der dänischen und deutschen Neuausgabe der Kierkegaard Schriften:

    "Kierkegaard unterscheidet jetzt streng zwischen Denken und Sein. Damit bricht er mit der gängigen Voraussetzung der abendländischen Philosophie, die seit Parmenides Sein und Denken als identisch angesehen hat. Somit steht er in schroffem Gegensatz auch zu Hegels Auffassung."

    So sieht er in Hegels Philosophie auch den Menschen nur auf ein begrifflich allgemeines Wesen reduziert, also letztlich auf etwas Abstraktes. Das wird aber einem lebenden Individuum aus Fleisch und Blut nicht gerecht. Denn wenn man auf das Dasein eines Menschen blickt, dann ist dieser Mensch nichts Fertiges, Abgeschlossenes, Abstraktes, er steht immer in einem Prozess des Werdens. Der Mensch ist in seiner ganzen Existenz offen und unabgeschlossen.

    "System und Abgeschlossenheit entsprechen einander, Dasein aber ist gerade das Entgegengesetzte. Abstrakt lassen sich daher System und Dasein nicht zusammendenken."

    Die Vorstellung Hegels, dass Wahrheit dann vorliegt, wenn etwas Gegebenes auch mit seinem Begriff identisch ist, lehnt Kierkegaard grundsätzlich ab. Richard Purkarthofer:

    "Mit dieser strengen Trennung von Denken und Dasein gibt Kierkegaard nun einigen wichtigen Strömungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts ihr Grundthema vor."

    Und dies ist der existenzphilosophische Denkansatz Kierkegaards, der aus der seiner Kritik an der traditionellen Philosophie entsteht. Existieren erweist sich dabei als eine Lebenskunst im fortschreitenden Streben danach, das Leben wie ein Kunstwerk zu gestalten.

    Noch in Berlin hatte Kierkegaard das Konzept für sein Erstlingswerk "Entweder-Oder" entworfen, das dann ein Jahr später, 1843, in Kopenhagen erscheint. Heiko Schulz, Professor für evangelische Theologie an der Universität Frankfurt am Main:

    "Dies war der Auftakt zu einem literarischen Werk, das nach Umfang, Originalität, Reflexionsdichte und schriftstellerischer Raffinesse innerhalb der abendländischen Philosophie und Theologiegeschichte nicht seinesgleichen hat."

    In "Entweder -Oder" macht Kierkegaard das Streben des Menschen nach Glück zum Ausgangspunkt seiner Existenzphilosophie. Denn kaum etwas ist von Individuum zu Individuum verschiedener als die Vorstellung von einem glücklichen Leben.
    Das Allgemeine der moralischen Normen ist das Verbindliche
    Und wie schon Platon formt auch Kierkegaard seine philosophischen Gedanken zu lebendigen Figuren. Er erfindet zahlreiche Pseudonyme, um mit ihnen unterschiedliche menschliche Denk- und Verhaltensformen vorzuführen. Der Schweizer Kirchenhistoriker Walter Nigg:

    "Kierkegaards Dichtertum zeigt sich vor allem in jener Reihe von Figuren, die er aus sich heraus schuf. Seine Gestalten sind keine blutleeren Schemen, sondern wirkliche Individualitäten, die man zum Greifen deutlich vor sich sieht. Kierkegaard war ein vielschichtiger Mensch, und jedes Pseudonym ist eine Schicht von ihm."

    In "Entweder-Oder" treten zunächst eine Reihe fiktiver Personen auf, die sich für eine ästhetische Existenz entschieden haben. Es handelt sich dabei zum Beispiel um egoistische Genussmenschen, die in ihrer Selbstverliebtheit die Beziehung zu anderen Menschen darauf reduzieren, inwieweit die anderen zur Befriedigung ihrer eigenen Genusssucht nützlich sind. In dem Lebensentwurf dieser Genießer kommt es zwar zu ekstatischen Höhepunkten, aber nicht zu dauerhaftem Glück. Daher können die Vertreter der ästhetischen Lebensform keinen bleibenden Sinn in ihrem Leben erkennen.

    Anders hingegen sieht es bei denen aus, die eine ethische Lebensform gewählt haben. Sie haben sich vom Genussprinzip befreit, um nicht zu Sklaven ihrer Begierden zu werden. Ihre Beziehungen zu anderen sind auf Dauer angelegt. Das heißt zum Beispiel Pflichterfüllung in Ehe, Freundschaft und Beruf wird als Lebensglück bezeichnet. Diesen Standpunkt vertritt in "Entweder-Oder" zum Beispiel der Gerichtsassessor Vilhelm gegenüber einem Ästhetiker:

    "Was jeder Mensch ausrichten kann, ist, dass er sein Werk erfüllt. Für einen Broterwerbsmann und einen Ehemann habe ich alle Ehrerbietung. Es ist ein Glück, dass er das Wahre eingesehen hat. Die Ethik erklärt ihm das Allgemeine."

    Als ethisch gilt hier also, dass das Allgemeine höher steht als das Wollen des Individuums. Das Allgemeine der moralischen Normen ist das Verbindliche. Vor der Vernunft erscheint deshalb die ethische Lebensform als das Letztgültige. Anna Paulsen:

    "Dieses Milieu erscheint wie ein Hafen des Friedens. Von der Ungesichertheit und Ungeborgenheit des menschlichen Lebens scheint man hier nichts zu wissen."

    Obwohl das Glück in dieser ethischen Lebensform zwar dauerhafter zu sein scheint, ist man auch hier vor Unglück nicht gefeit. Zwischenmenschliche Beziehungen können ebenso scheitern, wie das berufliche Leben unglücklich verlaufen kann.

    Damit zerbricht letztlich das Gebäude der ethischen Lebensform, das der Gerichtsassessor errichten wollte. Es basierte auf der von Hegel angenommenen Einheit von Vernunft und Wirklichkeit, in der die vernunftgemäße moralische Norm sich in der Erfahrung verwirklicht und dadurch das Allgemeine und Verbindliche erkannt werden kann.

    Kierkegaard will also zeigen, dass weder eine rein ästhetische noch eine rein ethische Lebensform auf die Dauer ein sinnvolles und glückliches Leben garantieren können. Beide Lebensformen sind letztlich allein am Äußerlichen interessiert. Er erkennt, dass er hier an einem ganz entscheidenden Punkt seiner anthropologischen Analyse angekommen ist:

    "Das Unglück unserer Zeit ist, dass man vergessen hat, was existieren heißt und was Innerlichkeit ist."