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Sofi Oksanen: "Die Sache mit Norma"
Hexerisch begabte Haare

Die Heldinnen der finnischen Autorin Sofi Oksanen waren bislang keine Opfer, sondern versuchten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ihr neuer Roman "Die Sache mit Norma" kommt als Familiendrama und Thriller daher - und überrascht durch magische Untertöne.

Von Sabine Peters | 08.09.2017
    Die finnisch-estnische Autorin als Ehrengast während eines Interviews im Gresham Palast auf dem 21. Budapest International Book Festival in Budapest, Ungarn, am 24. April 2014.
    Die finnisch-estnische Schriftstellerin und Dramaturgin Sofi Oksanen (picture alliance / dpa / Balazs Mohai)
    Die Heldin Norma in Sofi Oksanens neuem Roman wurde von der Natur mit einer seltenen Eigenart ausgestattet: Ihre Haare wachsen in 24 Stunden mehr als einen Meter. Außerdem können diese Haare die Stimmungen und den Gesundheitszustand anderer Menschen wahrnehmen. Sie können warnen, drohen und von selbst aktiv werden. Das machte Normas Mutter Anita von Anfang an Sorgen, denn die abergläubische Großmutter könnte solch ein sonderbares Kind in den Brunnen fallen lassen. Und die Welt draußen ist voller sensationshungriger und geldgieriger Leute, die Norma höchstwahrscheinlich vermarkten wollen. Mutter und Tochter verheimlichen Normas Eigenart – sie trägt einen Turban und schneidet ihr Haar alle paar Stunden unbeobachtet ab.
    Der neue Roman der weit über Finnland hinaus bekannten Autorin Sofie Oksanen spielt, abgesehen von einigen Rückblenden bis in die Lebenszeit der Urgroßmutter Eva, hauptsächlich im Jahr 2013. Ort der Handlung ist Helsinki; dann kommt es zu gelegentlichen Abstechern nach Bankok, Kiew, New York, Nigeria. Norma ist um die dreißig, wechselt häufig ihre Jobs; Anita arbeitet im gutgehenden Friseursalon von Max Lambert. Als sie sich völlig unerwartet umbringt, versucht Norma, herauszufinden, ob ihre Mutter wirklich Suizid beging. Max Lambert seinerseits will Norma kennenlernen; seine Motive bleiben lange Zeit unklar. Aber Norma übernimmt die Stelle ihrer Mutter.
    Oasen weiblicher Träume von Schönheit
    Haarverlängerungen sind der letzte Schrei; Friseursalons boomen, sie sind Oasen weiblicher Träume von Schönheit und damit einhergehendem Erfolg. Vor allem das Haar ukrainischer Frauen ist ein teurer Kassenschlager. Anita organisierte den Handel, aber wo genau war ihre Quelle, wie kam sie an die begehrten Haare? Lambert muss das herausfinden, um seine Kundinnen auch künftig zufriedenzustellen. Norma ihrerseits findet heraus, dass der Salon nur als Tarnung dient. Denn Lambert, Chef eines weltweit operierenden Clans, will nicht nur Haare kaufen und später gewinnbringend verkaufen. Er betrachtet Frauenkörper insgesamt als "Materiallager". Sein verbrecherisches Hauptgeschäft besteht im Handel mit Eizellen und Gebärmüttern. Das heißt, er versklavt Frauen, die ihm beispielsweise in Nigeria als Gebärmaschinen in sogenannten "Babyfabriken" dienen müssen. Die Neugeborenen finden entweder eine Kundschaft oder landen in dubiosen Waisenhäusern.
    Oksanen bezieht sich in ihrem verschlungenen Roman zwar auf harte Fakten, bleibt aber an der Oberfläche. Zum Vergleich: Kazua Ishiguru hatte in seinem Roman "Alles, was wir geben mussten" von Kindern erzählt, von Klonen, die behütet in einem Internat aufwuchsen, um später als Organspender zu dienen. Ishiguro spitzte ethische, politische Probleme der Biotechnologie zu, indem er nach denen fragte, die mit ihrem Leben für das Leben anderer zahlen.
    Oksanen bleibt dagegen bei Schlagzeilen. Die Tatsache, dass auch die Wünsche nach einem Kind in gesellschaftlichen Grauzonen auf das ökonomische Gesetz von Angebot und Nachfrage reduziert werden, geht unter. Man hat es hier mit einem kaum entwirrbaren Geflecht aus Familiendrama und Thriller mit krausen magischen Zwischentönen zu tun.
    Oksanen lädt Haare symbolisch auf
    Die Romanheldin Norma weiß anfangs nicht, dass sie selbst mit ihren schnell wachsenden, kostbaren Haaren in Gefahr schwebt. Sie fragt sich zunächst nur, warum all die Kundinnen im Friseursalon nicht wissen wollen, dass andere, notleidende Frauen ihr eigenes Haar verkaufen müssen, um die Familie zu ernähren. Normas hexerisch begabte Haare blicken anscheinend durch und ringeln sich vor Abscheu – das wirkt ziemlich abgeschmackt. Die Magie geht noch weiter: Auch Urgroßmutter Eva besaß unbändige Haare. Die brachten es in den zwanziger Jahren fertig, einen Abtreibungsarzt zu erdrosseln.
    Oksanen lädt Haare symbolisch auf; überlädt sie: Sie stehen für Schönheit, fürs Anderssein, für Kraft, Autonomie, prophetisches Potential und Weisheit … Norma wird schließlich von ihren eigenen hilfreichen Haaren in die Arme von Lamberts Sohn gezogen, der es gut mit ihr meint. Er wird ihr das Leben retten, denn Vater Lambert würde schließlich auch Norma mit ihrer interessanten DNA als haarspendende Gebärmaschine verkaufen. Und sogar Mutter Anita war kein Unschuldslamm, sondern spann ihre Intrigen und instrumentalisierte die Tochter.
    Keine überzeugenden Charaktere
    Eine haarsträubende Story. Und selbst wenn man den Inhalt hinnimmt, ist die Lektüre eine Plage. Man muss mit dem Bleistift lesen und hat doch den Eindruck, der Roman franst an allen Ecken und Enden aus. Das Personenverzeichnis am Schluss benennt verwickelte Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen – aber diese Beziehungen und ihr Konfliktpotential, etwa das zwischen Mutter und Tochter, werden im Text selbst nicht gestaltet. Die ineinander verhedderten Figuren kommen einem nicht nahe. Woran liegt das? Literarische Gestalten leben davon, ein Milieu, ein Umfeld zu haben, in dem sie wiedererkennbar sind oder in dem sie sich selbst fremd werden. Sie leben von ihrer je eigenartigen Sprechweise, von ihren individuellen Freuden und Schmerzen. Aber Oksanen stellt keine überzeugenden Charaktere, keine nachvollziehbare Atmosphäre her. Gefühle werden behauptet, doch nicht zur Sprache gebracht.
    Weiter: Die magischen Elemente könnten dazu dienen, Realität zu vertiefen, aber die bedeutungsschwere Haarsymbolik bleibt ohne Tiefe, sie wirkt nur unfreiwillig komisch. Oder gibt es hier tatsächlich Leichtigkeit, Witz, Humor, Satire? All das sucht man vergebens. Der Roman tritt mit einem gewichtigen gesellschaftspolitischen Anspruch auf, der nicht eingehalten wird; aber auch der Unterhaltungsfaktor geht gegen Null. Stephen King hätte aus dem Plot der irrwitzigen Haare eine bestrickende, fesselnde Story machen können. Der neue Roman von Oksanen lässt einen kalt.