Donnerstag, 25. April 2024

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"Solange meine Kräfte reichen"

Dr. Ursula Engelen-Kefer, geboren im Juni 1943 in Prag. Dann Flucht nach Höxter. Studium der Volkswirtschaft in Köln, Promotion 1970. USA-Aufenthalte als Journalistin, 1984 Vizepräsidentin der Bundesanstalt für Arbeit, von 1990 bis 2006 stellvertretende DGB-Vorsitzende, Mitglied im SPD-Parteivorstand von 1986 bis 2009.

28.01.2010
    Ursula Engelen-Kefer ist mit dem Wirtschaftsjournalisten Klaus Engelen verheiratet. Das Paar hat 2 Söhne.

    Ursula Engelen-Kefer: Gerechtigkeit hat bei mir ganz anders angefangen, schon als kleines Kind.

    Frühes Sozialbewusstsein.

    Burchardt: Frau Engelen-Kefer, Sie sind in Prag geboren, anno 1943. Ich vermute mal, da Sie ja relativ schnell dann außer Landes mussten, dass Sie nicht allzu viele Erinnerungen haben. Aber die grundsätzliche Frage, die auch einen gewissen aktuellen Bezug hat: Sind Sie Vertriebene?

    Engelen-Kefer: Wir sind Flüchtlinge und ich habe mich auch nie als Vertriebene gefühlt, immer als Flüchtlinge. Auch meine Eltern, wir haben das Schicksal auf uns genommen und haben dann sofort den Neuanfang in den jeweiligen Orten versucht, wo wir gelandet sind. Das war zunächst einmal, nach Irrungen und Wirrungen, Höxter an der Weser. Und dann später Weiden in der Oberpfalz und dann danach Düsseldorf. Aber es hat bestimmt zwei Jahrzehnte gedauert, bevor wir den Status sozusagen als Flüchtlingsfamilie abgelegt hatten.

    Burchardt: Warum gerade Höxter in Nordrhein-Westfalen, war das Ihre Mutter, die sagte, ich will jetzt nach Höxter oder war das zufällig?

    Engelen-Kefer: Nein, die Familie meines Vaters stammte ja aus Essen, Altenessen, das waren alte Kruppianer. Und meine Mutter ist zuerst nach der Flucht, die also monatelang dauert, wo sie mit mir praktisch im Kinderwagen zu Fuß unterwegs war, um nicht irgendwo in Lagern festgehalten zu werden, weil sie fürchtete, dass ich das nicht überleben würde, ist sie dann zu den Verwandten gegangen nach Essen. Und die hatten auch keinen Platz für sie, und dann wurde sie eingewiesen damals, nach Höxter an der Weser, als Flüchtling und dort praktisch einer Familie zugewiesen. So bekamen wir dann ein Dachbodenzimmer im Hause einer begüterten Familie in Höxter, und die waren natürlich alles andere als glücklich, uns da in ihrem Dachboden zu haben, aber daraus hat sich dann eine doch sehr lang dauernde Freundschaft entwickelt.

    Burchardt: Ja, Sie beschreiben das ja auch in Ihrem Buch, das jetzt erschienen ist, "Kämpfen mit Herz und Verstand", dass das erst eine gewisse Zeit brauchte, ehe man da sich nahe kam. Churchill hat mal gesagt, wer mit 20 kein Kommunist ist, der hat kein Herz, und wer mit 30 noch Kommunist ist, der hat keinen Verstand. Haben Sie bewusst diesen Titel für dieses Buch so gewählt und wie ist es bei Ihnen persönlich eigentlich?

    Engelen-Kefer: Also, ich glaube, ich habe zu viel gewusst, um mich als Kommunist zu fühlen, auch nicht mit 20. Ich habe eher umgekehrt den demokratischen Sozialismus für gut befunden und habe mich ja auch dabei immer betätigt. Da gab es ja auch an der Kölner Universität einen Professor, Professor Dr. Gerhard Weisser, der dieses Prinzip in seinen Vorlesungen und Übungen weitergab, und das hat mich überhaupt erst einmal an die Volkswirtschaftslehre herangeführt. Ich habe ja Volkswirtschaft studiert und dachte erst, was soll das eigentlich. Aber ich habe dann nicht gesagt, dann gehe ich lieber zum Marxismus, das ist das, was mir mehr passen würde. Das hat mir genauso wenig gepasst, weil in beiden Systemen Menschen in Schubladen gedrängt wurden, und das hat mir nicht gepasst.

    Burchardt: Wann hat es denn bei Ihnen so angefangen, dass Sie plötzlich ein Bewusstsein dafür bekamen, dass es Ungerechtigkeiten gibt, soziale Ungerechtigkeiten. Deutschland ist in den 50er-Jahren, oder Westdeutschland zumindest, das Land des Wirtschaftswunders gewesen. Müller-Armack hatte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft eingeführt, Adenauer hat ihn geschickt umgesetzt und die Deutschen waren ja eigentlich rundum zufrieden. Die Union kriegte auch 57 die absolute Mehrheit. Da haben Sie gesagt, da muss ich jetzt gegenhalten?

    Engelen-Kefer: Nein, Gerechtigkeit hat bei mir ganz anders angefangen, schon als kleines Kind. Ich fand das unheimlich ungerecht, wie zum Beispiel Frauen unterdrückt wurden, und das war so die Situation meiner Mutter und meiner Großmutter, die mussten all die niederen Arbeiten tun, kriegten kein Geld dafür, kriegten keine Anerkennung und mein Vater hatte die erheblich bessere Position.

    Burchardt: Aber er hatte auch Probleme beim Wiedereinstieg, zunächst mal, beruflich.

    Engelen-Kefer: Ja gut, er war in Kriegsgefangenschaft, in russischer Kriegsgefangenschaft, aber das habe ich ja nicht mitbekommen. Ich hab meinen Vater ja erstmals erlebt, als ich sechs Jahre alt war, als er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkam und dann habe ich gesehen, dass er einen Beruf hatte. Und er stieg ja wieder ein – er war Wirtschaftsprüfer von Beruf – und stieg ein in kleinen Wirtschaftsprüferfirmen, zumindest hatte er einen geregelten Arbeitstag, brauchte nicht die Wäsche zu machen, nicht die Wäsche treppenweise hoch zu tragen, brauchte nicht zu bügeln, all diese schrecklichen Sachen zu tun, Teppiche ausklopfen, das war für mich alles ein Graus.

    Burchardt: Das heißt also, das Private wurde für Sie dann politisch, sehr schnell. Kann man das so sagen?

    Engelen-Kefer: Genau so. Und dann habe ich, das hat meine Mutter mir immer erzählt, mit sechs Jahren habe ich sie gefragt, ob ich denn auch studieren dürfte und ich wusste wahrscheinlich überhaupt nicht, was Studieren war, aber ich dachte, ich will da raus. Und das hat mich maßgeblich schon als Kind beeinflusst. Und dann hat sich das immer weiter entwickelt, je mehr ich dann sah von Ungerechtigkeiten in der Schule, wie zum Beispiel die Mädchen – ich war ja in einem sehr guten Gymnasium, altsprachlichen Gymnasium, in Düsseldorf – wie dann die Mädchen aus den reichen Elternhäusern bevorzugt wurden, wie dann auch vielleicht das eine oder andere an Freundlichkeiten floss für Ausflüge in der Schule und das, da war ich dann, dann habe ich gesagt, das ist ungerecht. Also so hat sich der Begriff Ungerechtigkeit und mein Widerstand dagegen praktisch aus dem eigenen Erleben entwickelt, nicht vom Arbeitsmarkt her, sondern erst einmal vom persönlichen Erleben her.

    Burchardt: Haben Sie denn auch persönlich noch das Empfinden gehabt, na ja, so einige Lehrer, die sind in den 30er-Jahren tätig gewesen, wie unsere Generation das ja prinzipiell erlebt hat, gerade in den 50er-Jahren in den Schulen, dass sozusagen, um es beim Namen zu nennen, alte Nazis, nach wie vor übergangslos auf die Jugend losgelassen wurden.

    Engelen-Kefer: Nein, das habe ich nicht erlebt, bei mir waren es eher so ältere Lehrerinnen. Das war ein Mädchengymnasium und entsprechend gab es am Anfang nur Lehrerinnen, es gab überhaupt keine Lehrer. Und diese Lehrerinnen waren meistens höheren Lebensalters und hatten keine Familie, schon gar keine Kinder, und das war auch nicht so mein Lebensziel, aber dass irgendwie so starke nationalsozialistische Ausprägung war, kann ich nicht sagen, eher umgekehrt. Es wurden praktisch politische Themen überhaupt nicht angesprochen. Im Geschichtsunterricht sind wir nur bis zum Ersten Weltkrieg gekommen und haben dafür die altgriechische und römische Geschichte zweimal durchgemacht und das Mittelalter. Aber die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, also Weimarer Republik, Nationalsozialismus, wurde überhaupt nicht behandelt. Das Einzige war, vor den Schulferien wurde und aus dem Tagebuch von Anne Frank vorgelesen.

    Burchardt: Was hat Sie zur Volkswirtschaft gebracht? Sie beschreiben ja in Ihrem Buch auch, dass Sie eigentlich hin und her gewankt haben zwischen Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft, und mit welchem Berufsziel haben Sie es damals angegangen? Sie sind ja zunächst Journalistin geworden.

    Engelen-Kefer: Eigentlich wollte ich ja Ärztin werden, ich wollte Tierärztin werden. Und zwar das stammte so daher, dass ich sagte, ich möchte gern einen Beruf haben, der auch eine gewisse Anerkennung hat in der Gesellschaft, wo ich genug Geld verdiene und nicht abhängig bin von irgendjemandem. Und das war für mich der Arztberuf.

    Burchardt: Woran ist das gescheitert?

    Engelen-Kefer: An meinem jetzigen Mann und damaligen Freund. Wir lernten uns schon kennen, da war ich gerade 17 Jahre alt oder noch nicht einmal 17 Jahre alt, ich war noch in der Schule. Und da habe ich dann eben von meinen Plänen erzählt, und das fand er nicht so reizvoll, weil er meinte wohl, dann würden sich unsere Wege leichter trennen oder schneller trennen, denn er hatte Betriebswirtschaft schon begonnen zu studieren. Und das andere war, ich diskutierte sehr viel mit meinem Vater, und mein Vater war ja Wirtschaftsprüfer, also da war die Wirtschaft immer ganz wichtig, und er sagte mir immer: Die Volkswirtschaft ist wichtiger als die Betriebswirtschaft, denn die Betriebswirtschaft ist zu engstirnig, zu kurzfristig und die Volkswirtschaft, die bringt dann das Verständnis der gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge.

    Burchardt: Und können Sie es nachträglich bestätigen?

    Engelen-Kefer: Ich kann es bestätigen. Ich kann es bestätigen, obwohl ich es manchmal etwas bedaure, das betriebswirtschaftliche Handwerkszeug nicht ausreichend zu haben und eben auch die gesamten mathematischen Bedingungen nicht ausreichend zu kennen, die quantitativen Analysen, das sind ja Dinge, die damals bei uns keine große Rolle gespielt haben, sondern es ging mehr um die qualitativen Zusammenhänge. Und da denke ich manchmal, wäre schön, wenn du das intensiver betrieben hättest auch, aber ansonsten bin ich sehr froh, dass ich diese Zusammenhänge kennengelernt habe. Sie haben mir erleichtert, auch hinterher im Berufsleben, mich auf immer wieder neue Situationen einzufinden und dann dort auch meine eigenen Wege zu gehen.

    Engelen-Kefer: Da hat mein Mann voll mitgezogen.

    Ehe und American Way of Life.

    Burchardt: In unserer Männergesellschaft hieß das ja immer früher, hinter jedem starken Mann steht eine noch stärkere Frau.

    Engelen-Kefer: Ja.

    Burchardt: Wenn ich das jetzt mal umdrehe, Sie sind ja mehr in der Öffentlichkeit präsent als ihr Mann. Gilt das da auch?

    Engelen-Kefer: Also das war nicht meine Zielrichtung, das Einzige war, ich wollte nicht hinter meinem Mann stehen, sondern daneben.

    Burchardt: Er war auch Journalist, auch für das "Handelsblatt" in New York tätig.

    Engelen-Kefer: Wir haben am Anfang schon sehr miteinander gekämpft. Er war ja sieben Jahre älter als ich, hatte schon sein Examen, hatte seine Promotion, war auch im Beruf etabliert und arbeitete wahnsinnig. Und ich fing ja gerade erst an, und ich war ja nicht so wahnsinnig immer auf Arbeit aus, ich war so auf viele Bereiche des Lebens immer orientiert und neugierig und abenteuerlustig, und das hat schon ein hartes Stück Arbeit gekostet, mich dann so richtig zu konzentrieren, damit ich auch etwas erreichen konnte. Und das hat dann auch seine Früchte gebracht. Während ich vorher meistens so mittelmäßig durch Schule und Studium segelte, habe ich dann, als ich anfing, richtig zu arbeiten, immerhin meine Promotion mit summa cum laude geschafft. Aber dann habe ich auch gemerkt, dass es eine andere Art von Arbeit ist und das habe ich von meinem Mann gelernt, und nachdem ich sah, dass ich Erfolg hatte, habe ich das dann auch so weiter fortgeführt und immer wieder im Leben erkennen können, dass es gut ist, wenn man sich auch wirklich intensiv einsetzt, dass das zwar erst einmal mühselig ist, aber hinterher auch Freude macht.

    Burchardt: War denn das Private der ausschlaggebende Grund für Sie, nach New York zu gehen, wo Ihr Mann lebte? Denn Sie hatten ja im Grunde genommen so eine, wie haben Sie das mal genannt, eine Lufthansa-Beziehung oder …

    Engelen-Kefer: … Seefahrer-Ehe.

    Burchardt: Ja.

    Engelen-Kefer: Nein, das war natürlich das Private, weil ich dachte – außerdem war ich neugierig. Es ist ja nicht so, dass das so uninteressant ist, nach New York zu gehen oder dass Düsseldorf der Nabel der Welt wäre, wo ich vorher war, oder Köln, wo ich studierte. Und deshalb fand ich das ganz interessant. Ich hatte ja dann auch mein Diplomexamen, sodass ich in der Richtung frei war. Und mein Mann, der sagte mir damals, wenn du beruflich was werden willst, musst du erst mal eine Promotion machen, als Frau hast du nur eine Chance, wenn du promoviert bist.

    Burchardt: Letzte Frage noch zum Privatleben. Sie haben zwei Kinder, zwei Jungs.

    Engelen-Kefer: Ja.

    Burchardt: Haben Sie sich dann auch vorübergehend als alleinerziehende Mutter gefühlt in der Zeit?

    Engelen-Kefer: Nein, habe ich nie. Das muss ich sagen, weil immer bei uns eine unheimliche Fairness bestand. Und wir haben ja immer auch Hilfe gehabt und die mussten wir natürlich finanzieren, wir hatten beide sehr mäßige Einkommen, hohe Ausgaben durch zwei Wohnsitze, auch noch durch den Atlantik getrennt, riesige Kommunikationskosten, die uns keiner finanzierte. Und dann haben wir natürlich gemeinsam einen Weg finden müssen, und da hat mein Mann voll mitgezogen, da gab es überhaupt nicht einmal irgendwo so einen Hinweis, mach das doch selbst, dann können wir viel mehr Geld sparen und wir brauchen keine zwei Wohnsitze und mein Leben wird auch bequemer, dann ist jemand, der auch meinen Haushalt betreut und mir hilft. Und das fand ich schon eine außergewöhnliche Fairness, gerade auch im Vergleich mit anderen. Und ansonsten, wie gesagt, meine Mutter und meine Großmutter, die dann mit mir ja in Düsseldorf lebten, sind eingesprungen, wenn es dringend erforderlich war.

    Burchardt: Sie haben das Stichwort Gerechtigkeit vorhin angesprochen. Gerade im Bereich Wirtschaft/Sozialpolitik , und Ihr Mann ist Wirtschaftsjournalist. Aber ich versuche jetzt vom Privaten wirklich etwas wegzukommen, wenngleich die Versuchung natürlich sehr groß ist, einfach mal zu fragen: Wie lief das denn eigentlich ab, wenn Sie sich mal in die Haare gekriegt haben über sozialpolitische Fragen?

    Engelen-Kefer: Sehr heftig.

    Burchardt: Wo vielleicht eine Räson auf der einen Seite und vielleicht dann auch mehr eine Gesinnung auf der anderen Seite eine Rolle spielten?

    Engelen-Kefer: Sehr heftig, und zwar gerade in der Zeit in New York, wo ich ja auch dann mit versuchte, die Artikel entweder vorzubereiten oder hinterher auch selber zu schreiben und dann auch eigene Auftraggeber hatte, bei anderen Zeitungen. Da haben wir uns sehr stark auseinandergesetzt, denn mein Mann war schon sehr geprägt von dem sogenannten American Way of Life, der natürlich bequem war. Wenn man alleine ist, ist das herrlich, wenn man den Coffeeshop unten um die Ecke hat, das Hemdenbügeln billigste Art und ich bin dann immer gekommen und hab gesagt, ja aber wovon leben denn die Leute.

    Burchardt: Sie haben den Kellner gefragt, was er verdient.

    Engelen-Kefer: Ja, wovon leben denn die Leute und haben sie einen Kündigungsschutz? Aber mich hat angetrieben die Art des Lebens – ich fand die unerträglich in New York – und habe meinem Mann auch gesagt, da bleibe ich nicht. Ich möchte das zwar erleben, ich möchte das erfahren, das ist unheimlich toll. Aber das ist kein Leben auf Dauer, weil es keine Qualität des Lebens gibt.

    Burchardt: Aber es waren die 60er-Jahre, das war doch unheimlich spannend in Amerika damals. Ich vermute mal, das war nach Kennedys Mord, also nach seiner Ermordung.

    Engelen-Kefer: Ja, ja.

    Burchardt: Aber doch im Umfeld von Woodstock, im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen, auch der Rassenkämpfe und der gleichen Dinge mehr. Wie weit haben Sie das an sich rankommen lassen und war das für Sie prägend?

    Engelen-Kefer: Also nach Woodstock, da sind wir nicht weit gekommen. Wir wollten dahin zu diesem Festival, hatten einen alten VW und sind irgendwo mittendrin im Schlamm stecken geblieben mit diesem VW.

    Burchardt: Ja, das war ja ein Mistwetter.

    Engelen-Kefer: Nein, das Problem war, mein Mann hatte überhaupt keine Zeit. Also das war ein Job, der fraß alles auf, diese Berichterstattung. Denn abends, so gegen 10 Uhr 30 wurde die Zeitung gekauft für den nächsten Tag, dann musste die ganze Nacht gearbeitet werden. Dann musste das morgens mit Riesenübermüdung in die Hollerithmaschine getippt werden, wir hatten so eine Hollerithmaschine, oder zum Flughafen mit langen Anfahrten gebracht werden, und dann musste man am Tag über die Post sortieren und die eine oder andere Veranstaltung wahrnehmen, sodass nichts übrig blieb für irgendwelche großartigen Möglichkeiten, das Umfeld wirklich wahrzunehmen. Das Einzige, was wir uns leisteten, waren Essen. Wir hatten also so einen Restaurantführer der gesamten Nationalitäten in New York, die preislich für uns erschwinglich waren, und den haben wir abgegessen.

    Burchardt: Das war die Globalisierung im Kleinen, ja?

    Engelen-Kefer: Ja, ja.

    Engelen-Kefer: Wenn man sich für etwas einsetzt und das auch lauthals verkündet, dann muss man das auch weiterverfolgen.

    Spaziergängerin und Nervensäge.

    Burchardt: Frau Engelen-Kefer, Ihre, ich sage das mal in Anführungsstrichen, "Resozialisierung" jetzt in Deutschland, wie ist die vonstatten gegangen und was war für Sie das Motiv, abgesehen von dem, was Sie sagten, dort bitte nicht. Es gibt ja noch andere Plätze auf der Welt.

    Engelen-Kefer: Europa war, also Deutschland war für mich schon interessant und wichtig, wegen der Qualität des Lebens. Also das habe ich schon gesagt. Ich habe immer gesagt, ich lasse mich von meinem Job nicht auffressen. Ein Job ist ein Job, den möchte ich auch mit großer Intensität betreiben …

    Burchardt: Das glaubt Ihnen doch kein Mensch. Wenn man Ihre Vita sieht, glaubt Ihnen das doch kein Mensch.

    Engelen-Kefer: Ja, aber ich bin da ganz anders rangegangen. Ich bin da ganz anders rangegangen. Ich habe gesagt, ich möchte auch mal einen freien Sonntag haben, ich möchte auch mal eine Wanderung machen oder mal dies oder jenes, ich will nicht da nur so in dieser Tretmaschine sein. Und das war auch immer ein großer Streitpunkt zwischen uns.

    Burchardt: Aber Sie sind reingeraten.

    Engelen-Kefer: Ich bin dann, aber nicht so, wie Sie, wie ich immer dargestellt werde. Ich habe mir …

    Burchardt: Sagen Sie, sagen Sie, wie es richtig ist.

    Engelen-Kefer: Ich habe mir mein ganzes Leben lang immer gegönnt, meine stundenlangen Spaziergänge zu machen, die hat mir niemand nehmen können. Ich konnte zwar meinen Mann nicht verpflichten, mit mir durch die Gegend zu laufen. Ich renne nicht, ich gehe schnell und mache gerne Spaziergänge, ich höre dabei auch mein Radio oder mal ein Hörbuch oder irgendwas oder ich habe mal Sprachen dabei gelernt. Und das kostet natürlich Zeit. Das habe ich mir nicht nehmen lassen und das habe ich auch während der ganzen Zeit durchgehalten. Und wenn ich dann in Genf oder Brüssel oder weiß der Teufel, wo war oder in irgendeiner Großstadt, ich habe immer einen Weg gefunden, wo ich abends noch einmal eine Stunde spazieren gegangen bin und rausgegangen bin.

    Burchardt: Jetzt lockt es mich natürlich oder verlockt es mich, Norbert Blüm zu zitieren, der irgendwo – und Sie haben das irgendwo auch selbst durchaus freimütig auch eingeräumt und zitiert –, der Sie mal als Nervensäge bezeichnet hat. Sie haben den Stachel und dazu gehört ja auch sehr viel Kraft und sehr viel Durchhaltevermögen.

    Engelen-Kefer: Richtig.

    Burchardt: Woher haben Sie das genommen, das kommt ja nicht nur von Spaziergängen? War das für Sie dann auch so die Situation, ich setze mich jetzt auch sozusagen, auch vielleicht stellvertretend als, auch in Anführungsstrichen zu sehen, als die Alice Schwarzer der Sozialpolitik jetzt mal fest, dort wo die Männer viel zu lange das Sagen haben.

    Engelen-Kefer: Ja, also einmal war es eine inhaltliche Frage. Und zwar war ich immer der Meinung, wenn man sich für etwas einsetzt und das auch lauthals verkündet, dann muss man das auch weiterverfolgen. Also ich wollte nicht nur ein Ankündigungsgewerkschafter sein oder, wie man so manchmal Ankündigungsminister oder eben Ankündigungsfunktionär nennt, sondern ich wollte auch etwas daraus machen. Ich wollte gestalten.

    Burchardt: Sie hätten ja auch Feigenblatt sein können, als Alibi-Frau.

    Engelen-Kefer: Ja natürlich, aber das wollte ich nicht, das habe ich abgelehnt. Ich war ja früher auch mal gegen die Quotierung, weil ich gesagt habe, das schadet den Frauen und das sind dann hinterher die Alibi-Frauen. Aber je mehr ich selber erlebt habe, wie die Machtstränge laufen, desto stärker wurde ich zu einer überzeugten Vertreterin der Quote, und ohne die Quote wäre ich weder im Bundesvorstand des DGB gewesen, noch wäre ich im Parteivorstand der SPD gewesen.

    Burchardt: Ja, gutes Stichwort, weil, das war ja, glaube ich, zwei Jahre oder drei Jahre, bevor dann in Münster 1988 die Quotierung bei der SPD eingeführt wurde ...

    Engelen-Kefer: Durchgesetzt wurde, ja.

    Burchardt: … die 40 Prozent. Hat da die Parteipolitik die entscheidende Rolle gespielt?

    Engelen-Kefer: Für mich war immer in erster Linie die Gewerkschaftsarbeit, und zwar ich komme ja aus der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen. Das war vielleicht auch immer der kleine Konflikt, der dann auch immer zu einem größeren Konflikt wurde. Ich bin nicht in die Gewerkschaften gegangen als eine Machtinstitution, wo ich an der Machtschraube mitdrehen wollte. Ich bin in die Gewerkschaften gegangen aus inhaltlicher Überzeugung, weil ich Arbeitnehmerinteressen vertreten wollte. Das war ein Anliegen. Das war natürlich erst mal ein eher theoretisch-wissenschaftliches Anliegen, dann habe ich das immer mehr auch gesehen mit der Realität konfrontiert und das ganz besonders bei den Gewerkschaften. Und deshalb war ich da, nach meiner Überzeugung, genau richtig platziert, aber ich habe diesen Schwenk oder diese doch sehr starke Trendveränderung zu den Machtmaschinen, die habe ich nicht so mit vollzogen, wie das vielleicht der eine oder andere für nötig erachtet hätte.

    Burchardt: Aber Ihr Engagement diesbezüglich bekam ja während der Kohl-Ära, mit Verlaub gesagt, die besondere Dynamik. Da gab es ja nun auch weiß Gott genug zu tun. In der Zeit gab es einen Arbeitsminister namens Norbert Blüm, man hat so ein bisschen das Gefühl, dass Sie, ich will mal sagen, klammheimliche Freunde waren. Kann das sein?

    Engelen-Kefer: Ja, ich glaube, dass wir sehr viel Sympathien füreinander hatten, und ich bin auch überzeugt, dass der Norbert Blüm kein Schaumschläger ist. Ich meine, er ist ein begnadeter Demagoge …

    Burchardt: Sprüche …

    Engelen-Kefer: … , er kann wunderbar reden, und er ist ein hervorragender Politiker. Er ist auch sehr beliebt gewesen, jedenfalls lange Zeit. Aber er war eben dann auch in der Lage so etwas zu machen wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle zu verändern, und zwar negativ zu verändern, oder den Paragraphen 116 AFG (Arbeitsförderungsgesetz), also die Streikfähigkeit der Gewerkschaften einzuschränken. Und da hört es dann natürlich auf.

    Burchardt: Nur ihm hängt doch heute der Satz an, die Rente ist sicher, sie ist längst nicht mehr sicher. Haben Sie das damals auch schon so gewusst? Immerhin war es Hans Katzer, der für die Union ja die Dynamisierung der Rente eingeführt hatte, dass da plötzlich etwas wegbröckelte?

    Engelen-Kefer: Nein umgekehrt, da bin ich auch nicht im Mainstream, und ich höre mir das immer mit großem Ärger an, wenn so zynisch über den Norbert Blüm gesprochen wird, die Rente ist sicher. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Rente sicher sein kann und auch sein muss. Und da haben wir immer miteinander gestanden und dafür haben wir uns eingesetzt, dass die soziale Sicherung ein ganz wesentlicher Eckpfeiler unseres Sozialstaates ist. Und sie ist finanzierbar, und auch der Norbert Blüm selber, hat ja mit daran gedreht, dass die Finanzierungsgrundlagen verschlechtert wurden. Er war ja mit von der Partie, im Übrigen viele andere auch, auch von der SPD, die damals verhindert haben, dass die deutsche Einheit maßgeblich über die Sozialversicherung bezahlt wurde und wir bis heute massivst finanziell die soziale Sicherung ausgeblutet haben und ausbluten, weil sie eben Aufgaben zu übernehmen hat, die nicht dorthin gehören. Da war er nicht konsequent, aber er war konsequent oder ist konsequent, in seinem Willen, die soziale Sicherung zukunftsfähig zu halten.

    Engelen-Kefer: Ich war eigentlich früher auch gegen, vielleicht noch stärker als heute, gegen diese ganze Konsumideologie.

    Ernüchterung und Kulturschock.

    Burchardt: Ich würde aber ganz gerne noch ein bisschen wieder zurückspringen, zum einen auch bezogen auf Ihre persönliche Vita. Prag geboren, '68 in Amerika, Prager Frühling kam. Wie haben Sie das erlebt und empfunden damals? War das für Sie auch ein Stich ins Herz? Ich meine die Niederschlagung natürlich.

    Engelen-Kefer: Ich weiß. Natürlich war das ein Stich ins Herz, aber nicht, weil ich in Prag geboren war, sondern weil ich das für entsetzlich fand, dass man hier diese Bemühungen um Demokratisierung, um Freiheit derartig niedergeschlagen hat, wie wir auch in einigen anderen kommunistischen Ländern und auch in der ehemaligen DDR, das fand ich schrecklich. Aber ich habe damals genauso viel damit zu tun gehabt, den Kulturschock Amerika zu verkraften. Als jemand, der aus dem Old Europe kam, aus Deutschland, und im Grunde genommen den Sozialstaat und die Werte, die dahinter standen vor allem, mir ging es ja gar nicht um den Sozialstaat, ich war ein äußerst bescheidener Mensch, ich habe überhaupt keine großen Ansprüche gehabt und auch nie gestellt an mein Leben und auch nicht für die Zukunft, ich habe auch nicht an meine Rente gedacht oder an die Krankenversicherung. Ich wollte immer selber leisten, da war ich ein ganz anderer Typ. Aber alleine, dass hier Menschen gesichert waren, dass sie nicht auf der Straße verrecken mussten, wenn sie kein Vermögen hatten, wie ich das in Amerika sah, das war wichtig für mich, das war meine Sozialisation. Und dann komme ich nach Amerika, in die schlimmste Zeit von New York. Da war auf der einen Seite die Bowery, das sind diese Straßenzüge, da verrecken die Alkoholiker. Ab und zu werden sie auch mal angezündet, da gibt es keine Caritas oder gab es damals keine Caritas oder sonst jemand, die die abholte und irgendwo zum Ausnüchtern brachte oder eben sah, dass sie überlebten oder ihnen einen Wohnraum oder sonst was angeboten haben, sondern die konnten auf der Straße verrecken. Und auf der anderen Seite dieser unvorstellbare Glamour, diese, dargestellt an diesen Riesenlimousinen mit Schwimmbad, Bars und Mädchen. Und ich habe gedacht, so ein blödes Leben, das kann doch nicht eine Zukunft des Lebens sein.

    Burchardt: Das war doch die Zeit, wo, ich will mal sagen, nicht nur wegen der Besatzung und dessen, was hier als Lifestyle in Deutschland vorherrschend war, wo man wirklich den Amerikanismus an allen Ecken und Enden wiedergefunden hat in Deutschland. Hätten Sie da nicht eigentlich sagen müssen, also Leute, passt auf, wohin das führen kann?

    Engelen-Kefer: Ja, habe ich ja auch immer. Das habe ich immer, das habe ich immer und ich war eigentlich früher auch gegen, vielleicht noch stärker als heute, gegen diese ganze Konsumideologie. Heute bin ich etwas vorsichtiger geworden, weil ich auch ganz gern eine warme Wohnung …

    Burchardt: Das ist ja auch ein Wirtschaftsfaktor.

    Engelen-Kefer: Ich habe ja auch ganz gern eine warme Wohnung. Nein, jetzt mal abgesehen vom Wirtschaftsfaktor, auch von meinen persönlichen Präferenzen. Ich habe auch gern anständiges Essen, ich möchte auch gern ein vernünftiges Badezimmer haben und das möchte ich den anderen Menschen auch gönnen. Also ich bin immer unter der Vorstellung gewesen, das, was ich für mich habe, möchte ich auch gern für die anderen haben. Dieser Kant’sche Imperativ, also nicht nur im Verhalten, sondern auch in dem, was man hat. Das war/ist eigentlich meine Vorstellung, ich bin nie an irgendetwas rangegangen, ich will mehr haben.

    Burchardt: Glauben Sie an Utopien?

    Engelen-Kefer: Ja, glaube ich schon. Ich glaube auch schon, dass es wichtig ist, Utopien zu haben. Ohne Utopien kann man auch, glaube ich, keine glaubwürdige Politik machen, aber es dürfen keine Utopien bleiben. Und je älter man wird und je mehr Erfahrung man hat, desto mehr Abstriche macht man und so habe ich auch meinen Beruf verstanden, dass ich, auch als Gewerkschafterin gesehen habe, was ist meine Utopie und was ist davon umsetzbar?

    Burchardt: In die Richtung ging das auch, das war meine Frage. Mit welchen utopischen Vorstellungen sind Sie denn tatsächlich sehr knallhart in die Gewerkschaftsbewegung und dann auch in die Spitze vorgedrungen? Und wie weh tut es eigentlich, dann irgendwann dort abserviert zu werden, da kommen wir dann noch drauf, wie es dann geschehen ist?

    Engelen-Kefer: Also ich bin da ganz klar reingegangen mit der Vorstellung, ich will Arbeitnehmerinteressen vertreten. Und ich möchte das so seriös, professionell machen, wie man überhaupt kann, weil ich sah, wir haben die Arbeitgeber, die ein großes Schwergewicht haben, wir haben die Wissenschaft mit einem großen Schwergewicht, die in andere Richtungen gehen. Ich möchte schon für die Inhalte streiten, und das war für mich das Ausschlaggebende, und professionell, sodass ich mit den anderen mithalten kann, dass die Gewerkschaften auf gleicher Augenhöhe stehen mit anderen und das habe ich versucht, eben doch so weit zu entwickeln, wie ich nur konnte und das war mein Ausgangspunkt.


    Engelen-Kefer: Ich war eher technokratisch.

    Spagat zwischen SPD und Gewerkschaft.

    Burchardt: Waren Sie denn konditioniert auf das, was Sie erwarten würde? Sie waren ja beim wirtschaftssozialwissenschaftlichen und dort ja auch in einer verantwortungsvollen Lage und hatten ja auch sicher, denke ich mal, da den Impetus, in die Gewerkschaften zu gehen, weil Sie da das Innenleben stärker kennenlernen konnten.

    Engelen-Kefer: Habe ich überhaupt nicht gehabt, ich wollte in die Wissenschaft gehen. Ich habe mich ja auch mehrfach beworben, ich habe ja auch mehrfach vorgesungen, wie man das so schön sagt, an Universitäten, aber leider hat man mich nicht genommen. Weil ich offensichtlich schon zu sehr in dieser Richtung, Vertretung von Arbeitnehmerinteressen, ausgewiesen war. Ich habe ja auch viel geschrieben, und man wollte das nicht, man wollte diese neoklassische Art, wo es eben nur darum ging, zu hohe Löhne kosten Arbeitsplätze, und wenn man Arbeitsplätze haben will, dann müssen die Löhne moderat bleiben. Und dazu gehörten dann auch die Arbeitsbedingungen, das war das Credo, was vertreten wurde. Das habe ich nicht mitgesungen und deshalb bin ich auch nirgendwo genommen worden. Und dann bin ich den Gewerkschaften aufgefallen, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, weil ich immer doch sehr wie meine …

    Burchardt: War das Gerhard Muhr damals?

    Engelen-Kefer: Gerhard Muhr war das …– wie meine linkeren WSI-Referenten, ich war eher technokratisch. Ich habe alles versucht, zu begründen. Ich habe nicht einfach etwas behauptet, sondern ich habe begründet. Und ich habe ja auch nicht gesagt, wir sind dazu da, den Gewerkschaften zu sagen, dass sie Konflikte machen sollen, sondern ich habe gesagt, wir sind dazu da, den Gewerkschaften auf ihre Fragen inhaltlicher Art bestmöglich zu antworten. Und damit war ich schon in einer bestimmten Ecke der Technokratin.

    Burchardt: Gut, das ist der wissenschaftliche Teil, aber ich gehe jetzt mal zum pragmatisch-politischen Teil über. Sie waren Bundesvorstandsmitglied der SPD und gleichzeitig auch Gewerkschaftsfunktionärin, das muss ja ein Riesenspagat gewesen sein, gerade in den 80er-Jahren. Ich erinnere selber noch, dass es oftmals Krisensitzungen zwischen Parteirat und Gewerkschaftsrat gegeben hat, man teilweise auch Termine einfach wieder gestrichen hat, weil man nicht miteinander reden wollte.

    Engelen-Kefer: In den 80er-Jahren?

    Burchardt: Ja, in den 80ern, ja. Wie sehen Sie das selber und wie haben Sie das selber damals empfunden, hatten Sie eine Vermittlerrolle?

    Engelen-Kefer: Also ich bin ja erst 85 in den Parteivorstand gekommen.

    Burchardt: Ja, das war aber die zweite Hälfte.

    Engelen-Kefer: Das war die zweite Hälfte, das war ja doch Kohl-Ära. Da war das eher so, dass die SPD nicht genügend Impulse gab. Da war das Verhältnis noch nicht so schwierig, wie nach 98. Wirklich schwierig wurde es erst, als die SPD in der Regierung war, nach meinem Erleben. Damals war das noch etwas friedlicher, es war ja schon nach Helmut Schmidt, also die Auseinandersetzung in der Ära Helmut Schmidt waren sehr groß, die habe ich als Abteilungsleiterin mit zu verantworten gehabt von der Gewerkschaftsseite her, aber nicht eben als Vorstandsmitglied. Und ab 85 war es ja dann eher in der Richtung, dass SPD und Gewerkschaften gemeinsam Kritik übten an der zunehmend unsozialeren Politik von Helmut Kohl. Ich darf ja nur daran erinnern, das führte ja dann auch zu dieser Abschaffung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, dann Abschaffung des Kündigungsschutzes, dann den Verschlechterungen der gesetzlichen Rentenversicherung, über den Demografiefaktor von Norbert Blüm und auch gesetzliche Krankenversicherung. Und das hat ja dann doch zu einer sehr großen Auseinandersetzung mit Kohl und seiner christlich-liberalen Koalition geführt. Und da haben wir ja eine Riesendemo organisiert, aber da waren die Gewerkschaften, da waren wir eher die führende Kraft und nicht die SPD.

    Engelen-Kefer: Ich bin ja von Gerhard Schröder dann wirklich marginalisiert worden und in die Ecke getrieben worden.

    Leiden an der Basta-Politik und dem Lafontaine-Effekt.

    Burchardt: Sie sagten eben, Stichwort 98, Rot-Grün an der Macht, Regierung Schröder-Fischer, und da gab es dann den Knacks, der dann hinführte auf 2003 und die Agenda 2010, Hartz IV und alles Folgende. Gab es eine Entwicklung, die für Sie beobachtbar war, dahin, oder war es damals einfach die Politik der ruhigen Hand, die ja Schröder proklamierte? Und letztendlich, wenn man sich erinnert, es war ja wohl ein Gewerkschaftskongress, wo er dann seine Basta-Formel das erste Mal so richtig offiziell rausgebracht hat, was dann ja auch zeigte, wo jetzt die Glocken tatsächlich hingen. Wie haben Sie das damals beobachtet, haben Sie gemerkt, oh, da kommt etwas auf uns zu?

    Engelen-Kefer: Ja, das habe ich schon bemerkt, ganz früh. Und zwar, es fing ja an … also erst einmal 98, als der Wechsel kam, waren wir natürlich willkommene Sparringspartner, denn wir hatten ja 96 diese große Demo in Bonn organisiert, mit 360.000 Teilnehmern, und dann gab es ja noch Folgedemos und es gab ja eine Wechselstimmung in der Bevölkerung insgesamt, und von daher gesehen waren wir ziemlich nah zusammen damals. Das Zweite war, wir haben nicht Schröder alleine als Gewerkschaften für gut befunden, hier die Bundesregierung zu stellen, sondern wir hatten ein Tandem, und das war Schröder-Lafontaine, und natürlich war bekannt, dass Schröder nicht nur Arbeitnehmerinteressen vertrat. Und wir dachten halt, wenn die beiden zusammen auftreten und auch zusammen diese Regierung stellen – und die waren ja auf gleicher Augenhöhe eigentlich, es war ja nicht so, dass der eine ganz stark war und der andere ganz schwach –, dann würde sich daraus etwas ergeben, womit wir leben könnten und was eben auch eine Zukunft für die Arbeitnehmer bieten würde. Und dann gab es ja gleich die erste ganz bittere Enttäuschung, das war … Also zuallererst wurden diese Gesetze zurückgenommen, also Schröder hat Wort gehalten, muss man auch der Gerechtigkeit halber sagen, die Grenzfreiheit wurde zurückgenommen, der Kündigungsschutz wurde wiederhergestellt, der Demografiefaktor wurde zumindest für einige Zeit wieder rausgenommen und auch die Krankenversicherung wurde in Ordnung gebracht. Dann ging man ran an die geringfügigen Arbeitsverhältnisse, das war für die Gewerkschaftsfrauen ein Riesenproblem, mit über sechs Millionen Menschen, zwei Drittel Frauen, in derartigen Hungerjobs, und da hat ja auch Schröder Wort gehalten, wenn zwar nicht so, wie wir das gewollt haben, aber er hat die Sozialversicherung zumindest teilweise eingeführt. Und dasselbe ging dann bei Scheinselbstständigkeit, wenn auch nicht so, dass es wirklich etwas gebracht hat, aber da hat er Wort gehalten.

    Burchardt: Wenn Lafontaine, das ist eine hypothetische Frage, wenn Lafontaine 99 nicht von der Fahne gegangen wäre, wäre dann Agenda 2010 auch nicht gekommen nach Ihrer Meinung, oder umgekehrt gefragt, war das Feigheit vor dem Freund, dass Lafontaine von der Fahne ging?

    Engelen-Kefer: Ich fand, also ich bin sehr enttäuscht gewesen und einige andere mit mir. Denn wir haben ja auch durchgehalten und ich habe das am eigenen Leibe erlebt. Ich bin von Gerhard Schröder dann wirklich marginalisiert worden und in die Ecke getrieben worden und …

    Burchardt: Wodurch?

    Engelen-Kefer: Also ich bin ja im Parteivorstand gewesen, und da habe ich ganz klar damals, als der erste Sündenfall kam mit dem Schröder-Blair-Papier und dann begann er ja diese, Kombilöhne wollte er haben. Der Hombach war ja sein Kanzleramtsminister und der war ja auf dieser Linie, da ging es um die angebotsorientierte Politik, also Erleichterung des Lebens für die Arbeitgeber, und da begannen die Auseinandersetzungen.

    Burchardt: Standen Sie da alleine mit ihrer Position in der Gewerkschaft?

    Engelen-Kefer: Da stand ich, ja, da stand ich, also nicht nach unten hin. Aber oben im Machtgeflecht stand ich weitestgehend alleine. Es war meistens so, die IG-Metall hat mich eher unterstützt. Bei ver.di war das nicht klar, da war noch nicht der Frank Bsirske der Vorsitzende und die BCE war klar, also damals war es glaube ich noch Hermann Rappe und dann Hubertus Schmoldt, waren ganz klar dagegen.

    Burchardt: Chemie-Gewerkschafter.

    Engelen-Kefer: Waren ganz klar dagegen, waren ganz klar dagegen. Und dann gab es die Bergbau ja auch nicht mehr, die mich immer eigentlich eher noch unterstützt hatten, und die sind ja dann mit der Chemie-Gewerkschaft zusammengegangen. Und da gab es ja dann diese IG-BCE und die waren immer ganz klar auf Gegenkurs. Die wollten ja auch gar nicht, dass ich stellvertretende Vorsitzende wurde, damals 1990, das war ja Hermann Rappe noch, das wollte er nicht haben, während mich Steinkühler durchgesetzt hat.

    Burchardt: Nervensäge, ja, ja klar.

    Engelen-Kefer: Ja, also wie gesagt, da gab es die Auseinandersetzungen und das war auch in den Gewerkschaften und da war ich ganz klar marginalisiert. Da musste ich kämpfen wie sonst was.

    Burchardt: Gab es Momente für Sie, wo Sie sagen, warum stehe ich hier eigentlich so alleine? Ist das so, ich habe recht und die nicht oder was ist das eigentlich genau?

    Engelen-Kefer: Nein, nein.

    Burchardt: Wie ist die Befindlichkeit in solcher Situation?

    Engelen-Kefer: Ich habe mich gefragt, was mache ich falsch? Ich bin eigentlich immer eher jemand, der fragt, was mache ich falsch und wo muss ich mich ändern. Ich habe gar nicht das Selbstbewusstsein zu sagen, ich habe immer recht. Nur, je mehr ich dann darüber diskutieren musste, desto mehr fand ich, dass die anderen keine Argumente hatten.

    Burchardt: War das auch das Problem der Männergesellschaft?

    Engelen-Kefer: Das war auch das, ja gut, ich weiß ja gar nicht, ob sie überhaupt irgendeine Vorstellung hatten, was sie inhaltlich wollten, sondern man hatte eine Regierung, von der man meinte vielleicht, dass sie gut war oder dass die Zusammenarbeit in Ordnung war und mit der wollte man zusammenarbeiten, mit wenigen Ausnahmen.

    Burchardt: Sie haben dann ja noch eine wichtige Funktion in der Bundesanstalt für Arbeit gehabt oder was man jetzt Arbeitsagentur nennt. Waren Sie da so etwas wie die Mutter Teresa, die das jetzt reparieren muss, wogegen sie sowieso schon war?

    Engelen-Kefer: Also, ja, Mutter Teresa oder heilige Johanna der Sozialkassen, nicht, das war ja noch die nettere Bezeichnung, die ich damals bekam, und das war natürlich so, dass ich versucht habe, hier zu verhindern, dass wir in diese Richtung gingen, Niedriglohnsektor, der dann subventioniert wird über die Transferleistungen und damit natürlich auch die sozialen Sicherungssysteme. Aber da ging es mir weniger um die sozialen Sicherungssysteme alleine, sondern da ging es mir um eine generelle Haltung, wie Politik gestaltet wird, unsere Sozialpolitik gestaltet wird. Ich habe immer deutlich gemacht, dass es ein Fass ohne Boden ist. Und nachdem wir mal ausgerechnet hatten, was das kosten würde, wenn die Kombilöhne flächendeckend eingeführt worden wären, das waren, damals waren es noch D-Mark, aber das wäre an die 40 Milliarden D-Mark rangereicht, da war die Debatte beendet. Aber wie gesagt, da habe ich Lafontaine dringend gebraucht. Er hat damals, am Anfang hat er ja noch mitgeholfen, da waren wir auf ähnlicher Linie. Und er hat auch mitgeholfen, diesen Herrn Stollmann als Wirtschaftsminister zu [verhindern?].

    Burchardt: Haben Sie mit ihm mal darüber gesprochen?

    Engelen-Kefer: Ich habe mit ihm darüber gesprochen, ja. Ich habe auch später mal mit ihm darüber gesprochen. Aber er sagte, er hätte keine Chance gesehen und … Ich kann mir das vorstellen, die Methode Schröder, die war so hart, dass man da kaum gegenhalten konnte. Nur ich bin in einer viel, viel schwächeren Position gewesen als er. Er war Parteivorsitzender, er war Finanzminister, er hatte Truppen hinter sich, ich hatte ja gar keine Truppen hinter mir. Ich war ja auch in den Gewerkschaften Quereinsteigerin, ich hatte ja nicht irgendwo so eine Gewerkschaft, die hinter mir stand.

    Burchardt: War denn für Sie auch persönlich empfunden der Ausstieg Lafontaine sozusagen der Langsambeginn, der Anfang von Ihrem gewerkschaftspolitischen und parteipolitischen Ende?

    Engelen-Kefer: Na ja, es hat ja noch ein bisschen gedauert. Also, aber, natürlich es hat es erschwert. Ich weiß gar nicht, ob Lafontaine mich besonders verteidigt hätte, er war ja gar keiner, der sich da besonders für andere Leute einsetzte, sondern er machte die Bündnisse da, wo sie ihm gerade nutzten und sinnvoll erschienen, und so war damals die Situation auch der Gewerkschaften, sie haben mit ihm dies oder jenes versucht wieder gerade zu rücken, was Herr Hombach verbogen hatte, der dann ja auch weggeschickt wurde …

    Burchardt: … auf den Balkan …

    Engelen-Kefer: … auf den Balkan, und da habe ich, da hat sich gezeigt, dass diese Zusammenarbeit mit Lafontaine schon Erfolge gehabt hat. Und deshalb war ich so bitter enttäuscht, als er von der Fahne ging.

    Burchardt: Wir müssen vielleicht noch ein bisschen über den EDEKA-Effekt sprechen, Ende der Karriere.

    Engelen-Kefer: Ja.

    Burchardt: Es ist ja so, dass Sie sowohl bei der Partei, als auch bei den, das heißt , Sie haben noch einmal für den Bundestag kandidiert letztes Jahr, sind aber nicht gewählt worden, und Sie sind, wie Sie ja auch schreiben, rausintrigiert worden aus Ihren Funktionen in den Gewerkschaften. Was war dafür, nachträglich betrachtet, es ist ja noch nicht so lange her alles, was war denn gerade für den letzten Teil gewerkschaftlich, was war da der Grund?

    Engelen-Kefer: Also ich glaube, das ist das, was ich eben schon als Ursache der Konflikte bezeichnet habe, so wie ich sie mir erkläre, die sich im Zuge der Zeit aufgeschaukelt hatten. Wir hatten am Anfang, als ich anfing, noch 15 Mitgliedsgewerkschaften im DGB, viele kleine Mitgliedsgewerkschaften, die haben auf den DGB gezählt, und die waren dringend angewiesen auf die Sozialpolitik, auf die soziale Sicherheit. Und die waren sehr an mir interessiert. Und das galt auch für einen Teil derjenigen in der IG-Metall, die ja die stärkste Position hatte. Die standen sehr klar auf meiner Seite, weil sie sahen, dass sie nicht zu den Privilegierten gehörten und dass sie meinen Einsatz brauchten. Und dann hat sich das aber immer mehr verändert, ich würde sagen, die gesamte Situation in Deutschland. Die Parteien, die Medien, die Wissenschaft und auch die Gewerkschaften sind immer mehr zu Machtinstrumenten geworden und weniger zu inhaltlich agierenden Institutionen.

    Burchardt: Aber es gibt ja die Krise der Großorganisationen ?

    Engelen-Kefer: Ja, das ist ja bei allen, ich sage, auch die Kirchen. Ich war ja auch in der evangelischen Kirche, ich war eine Synodale. Ich bin auch bitter enttäuscht von der Art, wie dort umgegangen wird, wie dort Macht auf bestimmte Personen gehäuft wird, bin auch enttäuscht, wie das teilweise in den Gewerkschaften geschehen ist. Und da bin ich unter die Räder geraten, ganz einfach, weil ich das nicht mitgemacht habe. Ich hätte mich unterordnen müssen, also mir ausgucken müssen, wer ist mächtig und dann hätte ich …

    Burchardt: Also das alte Spiel.

    Engelen-Kefer: … schön die Koffer tragen müssen. So wäre das, aber das war nicht meine Art. Das war von Anfang an meines Lebens nicht meine Art und da wollte ich mich auch nicht verbiegen und ich habe auch keinen Sinn darin gesehen und ich sehe ja auch heute das Ergebnis, bedaure sehr, dass die Gewerkschaften nicht mehr in der Lage waren, die Sozialpolitik stabil zu halten. Und jetzt wird eine gefährliche Situation kommen. Nun ist eine Sache passiert in den letzten Jahren, die Mitgliedsgewerkschaften haben an Statur, an Macht gewonnen und vielleicht können Sie das Vakuum ausfüllen. Das Problem ist nur, dass es da unterschiedliche Tendenzen gibt, und die Stärke des DGB in der Sozialpolitik von meinem Vorgänger her schon lag immer darin, dass der DGB hier die Kräfte gebündelt auch nach außen vertreten konnte. Und das ist nicht mehr möglich, wenn es jede Gewerkschaft für sich tut.

    Burchardt: Höre ich da raus, dass Sie der Meinung sind, es bräuchte nicht mehr eine Dachgewerkschaft?

    Engelen-Kefer: Das, nein, das würde ich nicht sagen, um Gottes willen, da gibt es andere Themen, so arrogant bin ich überhaupt nicht, das kann ich mir auch gar nicht anmaßen. Da gibt es die Bildungspolitik, die Wirtschaftspolitik, die Steuerpolitik, da kann ich nicht so viel drüber sagen. Ich bin zwar auch enttäuscht, aber das ist meine private Präferenz. Aber in der Sozialpolitik, davon verstehe ich etwas, da rede ich auch mit vielen Leuten, auch immer noch, und da kann ich mir auch eine Meinung bilden.

    Burchardt: Private Präferenz ist ein gutes Stichwort für die letzte Frage: Was sind ihre Präferenzen in der Zukunft jetzt?

    Engelen-Kefer: Also ich möchte mich schon noch weiterhin in der Sozialpolitik engagieren. Ich bin ja Vorsitzende des Arbeitskreises Sozialversicherung im Sozialverband Deutschland und werde mich sehr stark darauf konzentrieren, und ich werde weiterhin in der Arbeitsmarktpolitik von der Sache her tätig sein und kann das ja auch tun – ich habe mehrere Lehraufträge an Universitäten –, und dies beides zusammengenommen gibt mir noch genügend Möglichkeiten und die will ich auch gern weiter entwickeln, solange meine Kräfte reichen.

    In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Rainer Burchardt im Gespräch mit Ursula Engelen-Kefer.