Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Soldaten von Salamis

Wie ist es möglich, dass Javier Cercas, ein bislang in Spanien nicht sehr bekannter Autor, das Glück hatte, dass innerhalb von zehn Monaten 200 000 Exemplare seines Romans "Soldaten von Salamis" verkauft wurden? Das Erstaunliche an diesem Erfolg: Der Roman ist nicht die leichte Ware, die man hier in Spanien massenhaft als "literatura light" kennt. Und mitnichten wird erzählt, was der Titel womöglich assoziiert: den Untergang der persischen Flotte in der Seeschlacht bei Salamis. Aber vielleicht ist dies ferne Ereignis in der Nahsicht als eine zugespitzte Metapher zu lesen, die auf die zwei Lager am Ende eines Krieges anspielt, auf die der Sieger und Besiegten im Spanischen Bürgerkrieg? Wir werden sehen.

Hans Jürgen Schmitt | 13.10.2002
    Von Willi Zurbrüggen fabelhaft verdeutscht, - schildert Cercas’ Ich-Erzähler mit detektivischem Schwung eine Begebenheit aus dem Jahr 1939, aus den letzten Monaten des Bürgerkriegs also; sie ist gewissermaßen der Focus des Romans, um den sich die Tiefenstruktur erst entwickelt; die Geschichte um die wundersame Rettung des Schriftstellers Rafael Sánchez Mazas, des Gründers und Chefideologen der Falange, der mit einer Gruppe Franquisten nahe den katalanischen Pyrenäen erschossen werden sollte, aber als die Kugeln um ihn flogen, entkam; später war er im ersten Kabinett Francos Minister ohne Portefeuille.

    Schwer vorstellbar, dass ein "Fascho" das ausschließliche Interesse eines Autors wie Cercas auf sich zieht. Der Autor, 1962 in der Extremadura geboren, lehrt als Literaturprofessor an der Universität in Girona spanische Literatur, hatte einen Erzählungsband und bislang zwei Romane veröffentlicht und war den Lesern der Tageszeitung El País mit Rezensionen und Artikel bekannt geworden.

    In der Tat, der Roman speist sich längst nicht aus der angedeuteten Bürgerkriegsepisode allein. Zu der freilich höchst ambivalenten Figur des seiner Hinrichtung entkommenen Schriftstellers und Faschisten Sánchez Mazas erfindet der Autor einen Antipoden: die Gestalt des einstigen republikanischen Kämpfers und Weltkriegskombattanten, den Spanier Miralles, der, historisch und von seiner Haltung her gesehen, im dritten Teil des Romans der wahre Held der Geschichte wird. Unabtrennbar damit verwoben thematisiert Javier Cercas zugleich vielfach ironisch gebrochen das Entstehen eines Romans und das Werden eines Schriftstellers, der sich eigentlich als gescheitert sieht, gar keinen Roman mehr schreiben will. Insofern hat der Roman drei Protagonisten, im erzähltechnischen Terminus drei "Helden".

    Als Ich-Erzähler einen der jungen Generation angehörenden Erzähler-Rerchercheur; und im zweiten und dritten Teil je die "Helden", die ideologisch getrennte Wege gehen, in der Romanfiktion aber eine kontrapunktische Berührung erfahren, ohne dass sie es wissen. Ohne Umschweife, eben wie der Kriminalroman das entscheidende Ereignis gleich kundtut, erfahren wir von der Initialzündung des Erzählers und seinem persönlichen Scheitern:

    Vor über sechs Jahren, im Sommer 1994, hörte ich zum ersten Mal von der Erschießung Rafael Sánchez Mazas’. Damals hatten sich gerade drei Dinge in meinem Leben ereignet: Mein Vater war gestorben, meine Frau hatte mich verlassen, und ich hatte meine Karriere als Schriftsteller aufgegeben. Falsch. Die Wahrheit ist, dass von diesen drei Dingen die ersten beiden stimmen, unbestreitbar; nicht so jedoch das dritte: In Wirklichkeit hatte meine Schriftstellerkarriere überhaupt nicht angefangen, so dass ich sie schwerlich aufgeben konnte. Richtiger wäre es wohl, zu sagen, dass ich sie aufgab, kaum, dass sie begonnen hatte. 1989 war mein erster Roman veröffentlicht worden. Wie der zwei Jahre zuvor erschienene Band mit Erzählungen wurde das Buch mit allgemeiner Gleichgültigkeit aufgenommen, doch gelang es meiner Eitelkeit, verbunden mit der lobenden Rezension eines Freundes jener Tage, mich davon zu überzeugen, dass ich ein Schriftsteller werden könnte und dass ich dafür meine Arbeit in einer Zeitungsredaktion am besten aufgab und mich ausschließlich dem Schreiben widmete. Das Ergebnis dieser Umstellung meines Lebens waren fünf Jahre wirtschaftlicher, physischer und metaphysischer Ängste, drei unvollendet Romane und eine grauenvolle Depression, die mich zwei Monate lang an einen Sessel vor dem Fernseher fesselte.

    Hier beginnt also sogleich das Verwirr- und Detektivspiel im Austausch zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Fakten aus dem Leben Javier Cercas werden mit erfundenen gemischt. Ein Schriftsteller in schwerer Krise, der auch noch Javier Cercas im Roman heißt, rettet sich erneut in die Zeitungsredaktion, will ganz wieder Journalist sein und macht als kleiner, untergeordneter Mitarbeiter vornehmlich Interviews im Kulturteil. Da trifft er in Girona - die katalonische Stadt und andere Schauplätze liegen alle zwischen der Costa Brava und den Pyrenäen - den Schriftsteller Rafael Sánchez Ferlosio, einen Sohn des Falange-Ideologen, der ihm die Geschichte der Rettung seines Vaters erzählt.

    'Er wurde ganz in der Nähe von hier erschossen, im alten Kloster von Collell.’ Er schaute mich an. ’Waren Sie mal da? Ich auch nicht, aber ich weiß, dass es in der Nähe von Banyoles liegt. Es war gegen Ende des Krieges. Der 18.Juli hatte ihn in Madrid überrascht und er musste in der chilenischen Botschaft Zuflucht suchen, wo er mehr als en Jahr verbrachte. Ende 1937 floh er aus der Botschaft und verließ Madrid, versteckt in einem Lastwagen, vermutlich mit der Absicht, nach Frankreich zu gelangen. In Barcelona wurde er jedoch verhaftet und, als Francos Truppen die Stadt erreichten, nach Collell gebracht, was näher an der Grenze liegt. Dort hat man ihn erschossen. Es war eine Massenhinrichtung, bei der es ziemlich chaotisch zugegangen sein muß, denn der Krieg war ja verloren, und die Republikaner flohen Hals über Kopf in die Pyrenäen, und ich glaube, sie wussten nicht einmal, dass sie einen der Gründer der Falange erschossen, zudem einen enge Freund von José Antonio Primo de Rivera. Mein Vater bewahrte zu Hause die Jacke und die Hose auf, in der er erschossen wurde...die Hose war zerrissen, weil die Kugeln ihn nur streiften, als er das Durcheinander des Augenblicks nutzte, um in den Wald zu rennen und sich dort zu verstecken... Irgendwann hörte mein Vater ein Geräusch von Zweigen, drehte sich um und sah eine Milizionär, der ihm direkt ins Gesicht starrte. Im selben Moment kam von hinten der Ruf: ‚Ist er da irgendwo?’ Mein Vater erzählte, der Milizionär habe ihn noch einige Sekunden lang angesehen und dann ohne den Blick abzuwenden, gerufen.’ Hier ist niemand!’ Dann habe er sich umgedreht und sei davongegangen.’

    Diese zweifache Rettung vor dem Tode, verbürgt als historische Tatsache, durch den Sohn dokumentiert, wird im zweiten Teil des Buches vom Erzähler noch einmal in ihrer existenziellen Dramatik höchst poetisch "nachgestellt", wobei ihn die Frage nicht loslässt: Wer war dieser Milizionär? Was hat er wohl gedacht? Denn es ist diese Episode und das nachfolgende Überleben von Sánchez Mazas im Walde, wo ihn drei junge Deserteure der Nationalen Armee retten, was den Journalisten Javier allmählich zum Rechercheur werden lässt.

    Als läse man einen Kriminalroman, folgt der Leser gespannt diesem spanischen Meisterdetektiv beim Zusammensetzen der Mosaiksteine. Es gehört zum listigen Spiel des Erzählers, variantenreich zu thematisieren: alles sei wirklich und kein Roman, während er doch vor den Augen des Lesers sein überaus kunstreiches Netz aus Wirklichkeit und Imagination spinnt.

    Im ersten Teil des Romans, "Die Freunde des Waldes", gemeint sind Sánchez Mazas’ Retter, berichtet der Autor, wie sein Double, der Journalist Javier, das ganze Werk von Sánches Mazas liest, wie er noch die Bäuerin, die dem Falangisten mit Essen versorgte, und zwei der drei einstigen Deserteure ausfindig macht. Dies geschieht alles in einer zurückhaltenden, zweifelnden Art des Journalisten, dem sich aber deshalb seine Interviewpartner nicht verschließen. Von einem von ihnen, dem nun 82jährigen Angelats, erfährt er:

    Bevor er ging, hat Sánchez Mazas zu uns gesagt, er wolle ein Buch über die ganze Geschichte schreiben; ein Buch, in dem wir vorkommen würden. Er wollte es Soldaten von Salamis nennen. Komischer Titel, nicht? Er sagte auch, er wolle es uns schicken, aber das hat er nie getan.’[...] Am nächsten Tag in der Zeitung ging ich sofort zum Chefredakteur und handelte einen unbezahlten Urlaub aus. ‚Wofür, fragte er ironisch. ‚Für einen neuen Roman?’ ‚Nein antwortete ich äußerst zufrieden. ’Eine Erzählung nach der Wirklichkeit." Ich erklärte ihm, worum es in meiner Erzählung nach der Wirklichkeit ging. - ‚Gefällt mir’, sagte er. Hast du schon einen Titel?’ - ‚Ich glaube ja’, erwiderte ich. >Soldaten von Salamis<."

    Soldaten von Salamis lautet der Titel des zweiten Teils, der sich als der "Roman" Javiers, des Journalisten herausstellt, der uns nun die Geschichte und Gestalt von Rafael Sánchez Mazas präsentiert. Hatten wir atemlos verfolgt, wie Javier sich Kenntnis über Sánchez Mazas verschafft, den Dichter und Falangemitbegründer, und wie er die unermüdliche Suche nach den Personen, die an Sánchez Mazas Rettung beteiligt waren, vorantreibt, so fügt er jetzt, im zweiten Teil, dieses Puzzle zu einem plastischen Porträt "nach der Wirklichkeit" zusammen, in einer Mischung aus Bericht und Erzählung, Chronikalisch- Anekdotischem und Analyse. All dies wird geschildert in einem geschmeidigen, intelligenten Stil, einem unprätentiösen Erzählton. Dieser Javier Cercas zeichnet ein Bild, das keinerlei holzschnittartige Züge aufweist. Er schildert ein paar Augenblicke, da Sánchez Mazas als Minister Francos nicht nur jenen half, die ihm das Leben gerettet hatten.

    Er bewertet den Schriftsteller als einen guten, zweitrangigen Dichter, mehr könne man ja von einem guten Dichter nicht erwarten, der "die bittersüße Melancholie einer entfliehenden Zeit" besinge und der nicht uninteressante Romane verfasst habe. Aber, der Autor Cercas lässt auch keinen Zweifel, dass Sánchez Mazas ,der erste Faschist Spaniens, eine Brandfigur war, der in seinen Beiträgen vor dem Krieg die "heraufziehenden Blutwalze des Bösen" rechtfertigte. Fasziniert von Mussolinis "Bewegung", wandelte er sich in Rom, wo er Ende der zwanziger Jahre als Journalist für spanischen Blätter schrieb, zum einflussreichsten Theoretiker des spanischen Faschismus:

    Als überzeugter Monarchist und Konservativer glaubte Sánchez Mazas im Faschismus ein ideales Instrument gefunden zu haben, um seine Sehnsucht nach einem imperialen Katholizismus zu befriedigen, vor allem jedoch, um mit Gewalt die Hierarchien des früheren Regimes wieder aufzurichten... Anders gesagt, war der Faschismus für Sánchez Mazas vielleicht nur ein politischer Versuch, seine Dichtung Wirklichkeit werden zu lassen, jene Welt, die er in seinen Gedichten melancholisch beschwört, die ausgelöschte, erträumte und unmögliche Welt des Paradieses...In gewisser Weise ist ihm das gelungen. Denn die beste Zeit für Helden und Dichter ist der Krieg; und in den dreißiger Jahren verwandten wenige Menschen so viel Intelligenz, Anstrengung und Talent darauf wie er, dass es in Spanien zu einem Krieg kam.

    Hat der Roman mit dieser intelligent montierte Vita sein Bewenden? So fragt sich auch der Erzähler, der zu Beginn des dritten Teils ziemlich missmutig behauptet und von seiner Freundin Conchi, einer kleinen Dummschwätzerin, auch noch bestätigt wird, sein nun fertiges Buch über Sánchez Mazas "lahme", weil ein Teil fehle:

    Das Dumme war nur, dass ich nicht wusste, was für ein Teil dies war. Ich korrigierte das Buch von vorne bis hinten durch, schrieb den Anfang und das Ende neu, veränderte mehrere Kapitel, andere stellte ich um. Das Teil tauchte jedoch nicht auf; das Buch lahmte immer noch.

    Ich gab es auf. An dem Tag, als ich diese Entscheidung traf, ging ich abends mit Conchi aus, die mir wohl etwas anmerkte, denn sie fragte mich, was mit mir los sei. Ich hatte keine Lust, mit ihr darüber zu sprechen( in Wirklichkeit hatte ich keine Lust überhaupt zu sprechen, ja, nicht einmal Essen zu gehen), doch dann erklärte ich es ihr. ‚Scheiße!, rief Conchi.’ Ich hab dir gleich gesagt, du sollst nicht über Faschos schreiben. Diese Leute verderben alles, was mit ihnen in Berührung kommt. Du solltest das Buch vergessen und ein neues schreiben. Wie wär’s mit einem über García Lorca?’

    Den Vorschlag nimmt Javier natürlich nicht auf, sondern geht zur Zeitung zurück, wo man ihm den Auftrag gibt, diesmal Interviews über bedeutende Leute zu machen, die nicht in der Region um Girona geboren sind. Sein erster Interviewpartner ist der chilenische Exil-Schriftsteller Roberto Bolaño, dessen elaborierte Bücher inzwischen auch in Deutschland erscheinen. Aber wie alle Literaten, die in diesem Buch befragt werden, angefangen bei Sánchez Ferlosio, der die Episode der Rettung seines Vaters erzählt, tritt auch Bolaño nicht als Schriftsteller auf, sondern als sympathischer Zulieferer von Materialien und Fakten für den Roman, der ja laut Erzähler-Ich keiner sein soll, weil immer schön nach der Wirklichkeit erzählt wird.

    Bolaño liefert mit seinem Bericht von dem einstigen Republikaner und Fremdenlegionär Miralles, den er in den siebziger Jahren auf einem Campingplatz an der Costa Brava kennen gelernt hatte, den krönenden Schlussstein für Javier Cercas Romantryptichon Soldaten von Salamis. Miralles hatte Bolaño in langen Nächten seine Kriegserlebnisse erzählt, aber nicht wie Sánchez Mazas mit der hochtrabenden Euphorie des Siegers, sondern als wären es gar nicht seine eigenen. Miralles , der besiegte Republikaner im Bürgerkrieg, der Kämpfer unzähliger Schlachten, der unter dem französischen General Leclerc in Afrika Tausende von Kilometern marschiert war, um die Fahne der Freiheit in einer französischen Kolonie aufzupflanzen, die unter de Gaulles Kommando stand, Miralles, der dann an der Befreiung Frankreichs beteiligt war, er ist der anonyme und unfreiwillige Held des Krieges.

    Der Journalist Javier, beeindruckt von Bolaños Bericht, will daraus eine Geschichte machen. Da kommt ihm schlaflos im Morgengrauen ein Gedanke:

    Ich dachte an die Erschießung von Sánchez Mazas und daran, dass Miralles während des ganzen Bürgerkriegs unter Líster gedient hatte, mit dem er in Madrid, in Aragón, am Ebro und auf dem Rückzug in Katalonien gewesen war. >Warum nicht im Kloster El Collell?<, dachte ich. Und im selben Moment – mit der ebenso trügerischen wie überwältigenden Hellsichtigkeit der Schlaflosigkeit, wie jemand, der durch einen ganz unwahrscheinlichen Zufall, und nachdem er die Suche längst aufgegeben hatte(man findet ja nie, was man sucht, sondern nur das,was die Wirklichkeit einem gibt), das fehlende Teil für einen Mechanismus findet, mit dem dieser endlich die Funktion erfüllen kann, für die er ersonnen wurde – hörte ich mich in der lichtlosen Stille meines Schlafzimmers murmeln:>Er ist es<.

    Es zeigt, wie sehr dieser Erzähler im Grunde ein berufener Schriftsteller ist, auch wenn er es immer abstreitet; aber er muß nun Bolaño bekennen, was er vor hat, um an Miralles heranzukommen. Und der antwortet ihm nun:

    ’Verdammt noch mal, Javier! rief Bolaño.’Das ist ein fabelhafter Roman. Ich wusste doch, dass du schreibst.’ ‚Ich schreibe gar nicht.’ Ohne mich um den Widerspruch zu scheren, fügte ich hinzu: ‚Außerdem ist es kein Roman. Es ist eine Erzählung mit wirklichen Personen und Ereignissen. Eine Erzählung nach der Wirklichkeit. - ‚Ist doch das Gleiche’, erwiderte Bolaño. ‚Alle guten Erzählungen sind Erzählungen nach der Wirklichkeit; zumindest für den Leser, und der ist der Einzige, der zählt. Ich verstehe allerdings nicht, wie du so sicher sein kannst, dass Miralles der Milizionär war, der Sánchez Mazas das Leben rettete. - ‚Wer hat dir gesagt, dass ich sicher bin? Ich bin ja nicht einmal sicher, ob er überhaupt in El Collell war. Ich sage nur, Miralles hätte dagewesen sein können, und daher könnte er der Milizionär sein.’

    Es beginnt eine spannende Suche des Erzählers nach Miralles, obschon Bolaño ihm sagt, es sei sinnlos, ihn zu finden, er solle lieber einen Miralles erfinden, der echte sei wahrscheinlich dann doch eine Enttäuschung: weil die Realität immer trügerisch sei, müsse man ihr zuvorkommen, indem man sie zuerst betrüge.

    Ein wunderbarer Auftakt für die reale Suche nach Miralles, die romanhaft schließlich zum Erfolg führt! Javier trifft in einem Altersheim in Dijon auf die Figur, die ihm hilft, den Roman wirklich zu Ende zu führen; und diese letzten 20, 30 Seiten des Buches, das Gespräch mit Miralles, sind der erzählerische Höhepunkt des Romans. War Miralles nun in Collell oder nicht? War er der Milizionär? Während des Hin- und- Hers aber rückt uns die Gestalt eines alten, sehr menschlichen Mannes nahe, der erst schroff dem jungen Journalisten bescheinigt, er sei sechzig Jahre nicht gefragt worden, niemand habe ihm je gedankt, seine Jugend im Kampf um ein beschissenes Land geopfert zu haben. Aber die beiden sind sich am Ende eines Tages sehr nahe, der junge Autor, der sich eine republikanische Sicht der Dinge für sein Buch erhofft und sein alter Milizionär, – bis zur letzten Frage:

    ’ Bolaño sagte mir, Sie tanzten sehr gut Pasodoble.’ ‚Das hat er ihnen gesagt?’, lachte er. ’Verdammter Chilene!’ ‚Einmal hat er sie gesehen, wie Sie vor Ihrem Wohnwagen mit ihrer Freundin Suspiros de España getanzt haben.’ [...] ‚Es ist ein sehr schöner Pasodoble, finden Sie nicht? Ah, hier kommt ihr Taxi’. - Das Taxi hielt an der Ecke, direkt neben uns. - ‚Also, sagte Miralles.’Ich hoffe, Sie kommen bald mal wieder.’ - 'Ich komme bestimmt. < - Darf ich Sie um einen Gefallen bitten? - Bitten Sie, worum Sie wollen. - Den Blick auf die Ampel gerichtet, sagte er: - Seit Jahren schon habe ich keinen Menschen mehr umarmt. - Ich hörte Miralles’ Stock auf den Gehweg fallen, fühlte, wie seine kräftigen Arme mich zerquetschten, während meine ihn kaum ganz umfassten, und ich fühlte mich klein und zerbrechlich; ich roch Medizin und jahrelange Inhäusichkeit und gekochtes Gemüse, vor allem aber roch ich Alter, und ich wusste, dies war der niederträchtige, der erbärmliche Geruch des Helden. - Wir lösten unsere Umarmung... - ‚Da gibt es etwas, was ich Ihnen noch nicht erzählt habe’, sagte ich zu Miralles.’ Sánchez Mazas kannte den Soldaten, der ihn gerettet hat.. Er hat ihn einmal in dem Garten des Klosters einen Pasodoble tanzen sehen. Allein. Es war der Pasodoble Suspiros de España.’ Miralles trat ans Taxi und legte seine große Hand auf die heruntergedrehte Scheibe. Ich war sicher, seine Antwort zu kennen, denn ich glaubte nicht, dass Miralles mir die Wahrheit verweigern konnte. Fast flehend fragte ich:’Das waren Sie, nicht?’ - Nach einem Augenblick des Zögerns lächelte Miralles breit und gewinnend, ließ seine Doppelreihe wackeliger Zähne aufblitzen und antwortete:’Nein.’ - Er nahm die Hand vom Fenster und gab dem Taxifahrer ein Zeichen loszufahren. Danach stieß er brüsk etwas hervor, das ich nicht verstand...

    Im Zug zurück Richtung Girona sieht Javier, der Ich-Erzähler, im Spiegel des Fensters sein Konterfei und sein Buch vollendet; euphorisch sagt er sich, jetzt konnte er es zu Ende schreiben: er hatte den gefunden, den er in Wirklichkeit immer gesucht hatte.

    Cavier Cercas schrieb vor einiger Zeit in einem Artikel, dass spanische Abiturienten sich genauer über die Seeschlacht von Lepanto auslassen könnten als über die militärische Revolte vom 18.Juli 1936. Sein Buch wäre freilich schlecht bewertet, wäre es nur ein Buch gegen die spanische Amnesie, den historischen Gedächtnisverlust. Mit scheinbar leichter Hand entwickelt er seinen kriminologisch konstruierten Plot, eine wahrlich artistische Konstruktion um Heldentum, Moral, politischer Gesittung im Kontext der Bürgerkriegsepisode von Sánchez Mazas. In dem Maß, in dem in seinem Buch beteuert wird, es sei alles wahr, liefert uns Javier Cercas ein geglücktes Werk der Fiktion, den zweifellos besten Roman der jüngeren spanischen Literatur.