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Sommergäste in Trouville

"Ein Bild der Unruhe", der Titel ihres ersten Buches, kann als Chiffre für das Werk der jüngst verstorbenen Schriftstellerin Undine Gruenter stehen. Ihre Texte bannen die Bewegung, die das Leben durch die Zeit treibt und zur Geschichte werden läßt, in den zitternden Stillstand einer gefrorenen Kameraeinstellung. Wie Theaterfiguren irrlichtern die Menschen zwischen den wechselnden Kulissen des Bühnenraums:

Dorothea Dieckmann | 14.07.2003
    Wir bewegten uns durch die Straßen wie auf treibenden Eisschollen, ungesichert von einer zur anderen springend, während sie unter uns wegsprangen, aufstiegen und absanken. Manchmal beschleunigten wir unser Tempo, hetzten über den Asphalt, als wäre dies die einzige Möglichkeit, uns zu versichern, daß wir noch lebten.

    Der düstere Schauplatz dieses Romans von 1986 gewinnt gegen Ende die Züge von Paris – jener Stadt, in die Gruenter ein Jahr später zog und die von da an nicht nur die reale Umgebung ihres Schriftstellerdaseins darstellte, sondern auch den Schauplatz ihrer Prosa. In den Romanen erscheint Paris als mythisches Labyrinth, und die Erzählungen, die stets vom Scheitern der Liebe handelten, sind getragen von den Pariser An- und Durchsichten. Denn auch die Tradition der Stadt als Kapitale der Avantgarde, in der sich die bildende Kunst, die Literatur und das Kino von den Prinzipien des Realismus verabschiedeten, bildet den Hintergrund von Undine Gruenters Schreiben. Sie ist einer Ästhetik treu geblieben, die aus der unhintergehbaren Krise des Erzählens neue Formen schöpft, statt, wie es Markt und Zeitgeist verlangen, auf die Stufe naiver Unterhaltung zurückzufallen.

    Daß diese kompromißlose Schreibhaltung alles andere als starr und altmodisch ist, beweisen die posthum erschienenen Erzählungen "Sommergäste in Trouville". Sowohl den Schauplatz Paris als auch den Fokus auf das Thema Liebe hat die Autorin aufgegeben, freilich ohne das eine und das andere ganz aus dem Gesichtsfeld zu verlieren. Denn Trouville, dieser etwas heruntergekommene normannische Badeort, beherbergt nicht nur Rentner, Hotelangestellte, Lokalprominenz und ein paar reiche Adlige, sondern auch Pariser Gäste jeder Couleur, vom Anwaltsehepaar bis zum Dichter. Dieser ist einer der vielen, die Trouville in der kalten Nebensaison aufsuchen:

    Wieder gehe ich, gegen Abend, die Straße bis zum Ende, eine Straße mit vielen leeren Häusern und geschlossenen morschen Fensterläden, eine Straße, die wie die ganze Stadt ist ... Ich gehe ungestört auf und ab, die glühenden Kippen auf dem Fußboden ausstreuend, als wartete ich auf jemanden, der aus einer verschlossenen Tür herauskommt, bevor die Laternen ausgehen.

    Doch zugleich verdächtigt sich der Dichter selbst einer dekadenten Bohème-Mentalität, eines kitschigen Kults verlassener Städte, und darin schwingt ein leiser Spott der Autorin über die eigene romantische Melancholie mit. Selbstironie ist nur eins der Zeichen für die Souveränität dieser Geschichten, die von einem Abend auf der Terrasse eines Ferienhauses, vom Geburtstagspicknick eines pensionierten Operndirektors oder von einem Silvesteressen handeln, zu dem ein alternder Maler von seinen zwei jungen Geliebten eingeladen wird. Minutiös wie die Kamera in einem nouvelle-vague-Film zeichnet die Autorin die Schauplätze auf, heimlich-unheimliche Grenzgebiete zwischen Innen und Außen, und es ist kein Zufall, daß in der ersten Erzählung ein Magritte-Bild an der Wand hängt, auf dem sich das Innere eines Zimmers dem Auge des Betrachters wie im Guckkasten präsentiert. Im realen Zimmer vertreibt sich ein halbwüchsiges Mädchen die Ferienzeit mit der Erfindung lebender Bilder, unbewußt erotischen Theaterposen, bis eines Tages heimlich der Cousin hinterm Vorhang steht.

    Lebende Bilder sind all diese Geschichten, Film-stills, in die, vorbereitet von einer unauffälligen Dramaturgie, glück- oder schreckhafte déjà-vu’s einbrechen. Die aus dem Haarknoten fallende Haarnadel evoziert bei einer gerade verwitweten Frau die Vision, daß

    all die Haarnadeln, die ich ihn den letzten Monaten verloren hatte, ... auf einmal wie ein Platzregen zu Boden fielen

    ... und der Leser weiß, dies ist ein Todesbild, ohne daß irgendeine morbide Anspielung fällt. Erinnerungen werden zu Albträumen, Alltägliches verdichtet sich zu Zeichen, und heimliche Wünsche entladen sich in kühnen Rätseln, so, wenn die alte Mademoiselle Heuline, die sich über die strikte Abfallverordnung am Strand ärgert, eines Morgens einen Anblick von bizarrer Schönheit gewahrt:


    Der ganze Strand blinkte, der Regen war weg, eine blasse Sonne stand schon am Himmel, über und über bedeckt war der Sand bis zum Horizont mit glänzendem Silber, Stanniolpapier, Dosenmetall, eine endlose blinkende Fläche ... eine silberne Mondlandschaft.

    Undine Gruenter starb im vergangenen Oktober im Alter von 50 Jahren in Paris. Wie Ingeborg Bachmann, die 47jährig in Rom starb, hat sie es in ihren letzten Erzählungen zu einer Vollendung gebracht, in der die künstlerische Freiheit über jede Inhaltsschwere siegt. Sie sind wie farbige Scherben, in denen, streng nach den Prinzipien der Moderne und dennoch leicht und verspielt, der Moment der Erkenntnis aufblitzt. Am Ende entführt sie uns in eine Szenerie, die Balzac entworfen und Proust ausgestattet haben könnte, und nur eine Sichtblende trennt uns vom Anblick eines alten adligen Fräuleins, deren Stimme die zeitlose Stimme der Literatur selbst sein könnte:

    Die Prinzessin, die eine von Hunderten russischen Prinzessinnen im Ausland ist, hat natürlich ihr eigenes Emigrantenschicksal, und sie erzählt es ein wenig im Stil von Nathalie Sarraute, in Fragmenten, die mehr um sinnliche Impressionen mit Flakons, Zobelstolas und Karussells mit Holzpferdchen kreisen als um Onkel und Tanten. Da sitzen sie, eine kleine Schloßgesellschaft, und ich, hinter dem Paravent, der Lauscher, der ihre Stimmen auffängt wie der Paravent, der ein Tonschirm ist, durch den die Wellen laufen und gefiltert an mein Ohr dringen ... Rauschen von ferne ...