Freitag, 29. März 2024

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Sommerreihe: Die Qual der Wahl
"Heute ist es ohne Weiteres möglich, nicht gläubig zu sein"

Wer heute gläubig sei, sei sich dessen voll bewusst, dass er oder sie genauso gut auch nicht gläubig sein könnte, meint der Sozialphilosoph Hans Joas. In die Attraktivität von Religionsgemeinschaften fließe auch immer ein, wie sie sich zu zentralen politischen Fragen wie sozialer Ungleichheit stellten.

Hans Joas im Gespräch mit Änne Seidel | 20.08.2017
    Ein steinernes Kreuz an der Kreuzung der Calle de Toledo und der Calle de los Cuchilleros im Zentrum der spanischen Hauptstadt Madrid.
    Ein steinernes Kreuz an der Kreuzung der Calle de Toledo und der Calle de los Cuchilleros im Zentrum der spanischen Hauptstadt Madrid. (imago / Mangold)
    Änne Seidel: Merkel oder Schulz? Nochmal GroKo oder neues Farbenspiel am Kabinettstisch? Weiter so oder politischer Richtungswechsel? In genau fünf Wochen haben wir die Qual der Wahl – dann ist Bundestagswahl. Und bis dahin sprechen wir hier in "Information und Musik" jede Woche über Entscheidungen. Heute geht’s um die Wahl zwischen Luther und dem Papst, zwischen Jesus und Mohammed, zwischen Theismus und Atheismus – es geht um religiöse Entscheidungen, denn anders als früher haben wir die Qual der Wahl heute ja auch angesichts von Religionen und Konfessionen: katholisches oder evangelisches Christentum, Islam, Buddhismus oder einfach an gar nichts glauben – all das und noch viel mehr ist möglich heutzutage. Was bedeutet dieses Überangebot der religiösen Möglichkeiten für unsere Entscheidungsfindung, wird die religiöse Wahl dadurch erst recht zur Qual? Oder – im Gegenteil – zu einem netten Bummel durch den Gemischtwarenladen der Religionen? Darüber habe ich gesprochen mit Hans Joas, Soziologe und Sozialphilosoph. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Religionssoziologie. Außerdem ist er auch selbst aktives und engagiertes Mitglied der katholischen Kirche – eine bewusste Wahl, Herr Joas?
    Hans Joas: Das ist ein vielstufiger Prozess. Ich bin schon katholisch aufgewachsen, und das war keine Entscheidung, sondern das gehört zu den vielen Dingen, die man eben vorfindet, wenn man als Kind geboren wird und aufwächst, aber dann gibt es sicher im Laufe des Lebens biografische Punkte, an denen man sich vom Glauben seiner Herkunft weiter entfernt oder erneut annähert, und in diesen Entfernungen und in diesen Annäherungen stecken auch Momente der Entscheidung.
    Änne Seidel: Und wann kam für Sie dieser Punkt, an dem Sie gesagt haben, ja, familiäre Prägung hin oder her, das ist meine Religion, und zwar aus guten Gründen?
    Joas: Ich glaube, zunächst einmal, das gilt heute für alle Menschen, dass sie sich in irgendeiner Weise bewusst und entschieden zu dem verhalten müssen, womit sie aufgewachsen sind, also auch jemand, der ganz ohne einen religiösen Zusammenhang aufwächst, wird ja im Laufe seines Lebens irgendwie konfrontiert werden, zumindest mit Mitmenschen, die religiös sind, und insofern auch irgendwie zu entscheiden haben, ob er oder sie dabei etwas attraktiv findet, mehr darüber wissen will, Erfahrungen damit machen will oder nicht. Im Einzelnen hängen diese Entscheidungssituationen natürlich mit bestimmten Regelmäßigkeiten zusammen. Also alle Jugendlichen zum Beispiel geraten eher in solche Grundlagenüberlegungen, was will ich mit meinem Leben anfangen, als Kinder oder Erwachsene, aber es gibt dann auch einzelne Lebensereignisse. In meinem Leben war ein zentrales Lebensereignis in dieser Hinsicht der Tod meines Vaters, der bestimmte fundamentale Einstellungen geprägt hat.
    Änne Seidel: Nun sind Sie Wissenschaftler und deshalb ja schon von Berufs wegen her dazu verpflichtet, zu zweifeln und die Dinge zu hinterfragen, aber wie sieht es aus in der gesamten Gesellschaft? Also würden Sie tatsächlich sagen, dass die Menschen heute die Entscheidung für eine bestimmte Religion oder auch gegen eine bestimmte Religion, dass sie diese Entscheidung heute tatsächlich bewusster treffen als in früheren Jahrhunderten?
    Nicht gläubig zu sein, ist heute akzeptiert
    Joas: Ganz so würde ich es, glaube ich, nicht ausdrücken. Also, was sicher ein großer Unterschied unserer Gegenwart zu den meisten Jahrhunderten in der Geschichte des christlichen Europa ist, ist, dass es heute ohne Weiteres möglich ist, nicht gläubig zu sein. Bis zum 18. Jahrhundert wäre ein öffentliches Bekenntnis zum Unglauben mit einem beträchtlichen persönlichen Risiko verbunden gewesen. Das ist heute überhaupt nicht mehr so. In einer bestimmten Hinsicht ist es eher umgekehrt. Es kommt auf das Milieu an natürlich und den beruflichen Zusammenhang, in dem man ist, aber heute könnte es eher sein, würde ich sagen, dass das Bekenntnis zum Glauben ein bestimmtes Risiko darstellt als das Bekenntnis zum Nichtglauben. Was mich sehr interessiert in meinen Arbeiten ist, diese Veränderung, also eben diese Verfügbarkeit, dass heute niemand mehr gläubig ist, ohne zu wissen, ohne sich dessen voll bewusst zu sein, dass er oder sie genauso gut auch nicht gläubig sein könnte. Das ist eine fundamentale Veränderung. Ich würde aber irgendwie gern sagen, dass mir die Überbetonung der Begriffe Wahl und Entscheidung ein leichtes Unbehagen bereitet.
    Änne Seidel: Warum?
    Joas: Weil meines Erachtens in den Prozessen, in denen Menschen zu einem religiösen Glauben finden oder übrigens auch zu säkularen Überzeugungssystemen, in denen sie, was weiß ich, Marxisten werden oder Nationalisten oder Liberale, da spielt ganz stark etwas eine Rolle, was man irgendwie ein Ergriffensein von etwas nennen müsste.
    Änne Seidel: Also auch eine emotionale Komponente, so ein bisschen die Bauchentscheidung spielt auch eine Rolle. Ist es das?
    Glauben oder nicht - auch eine Frage der Ergriffenheit
    Joas: Ja, also das Emotionale würde ich betonen, aber auch das, wie soll ich sagen, das Passivische daran. Also der Eindruck, dass einem etwas ganz offensichtlich einleuchtet, dass einem etwas ganz offensichtlich wichtig ist, was man nicht selber gemacht hat, sondern was man schon vorfindet, das spielt in diesen Prozessen eine ganz wichtige Rolle, und das geht etwas unter, wenn man von Wahlen und Entscheidungen redet, weil das klingt immer so, als würde man einen Katalog von Möglichkeiten durchblättern und dann eben sagen, ach, so ungefähr innerlich eigentlich unbewegt, nehme ich das eine oder nehme ich das andere, während es doch darum geht, dass einen etwas im Kern berührt und ergreift. Das spielt bei dem Prozess des Wegs zum Glauben und natürlich auch bei Prozessen, die vom Glauben wegführen, glaube ich, die zentrale Rolle.
    Änne Seidel: Würden Sie also umgekehrt sagen, dass jemand, der jetzt eher so ein Kopftyp ist und der rein rational denkt und immer alles hinterfragt und erst dann eine Entscheidung trifft, würden Sie sagen, dass bei solchen Menschen die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich gegen den Glauben, gegen die Religion entscheiden, größer ist?
    Joas: Nein. Also ich würde zunächst einmal jemanden, wenn es den so gibt, wie Sie ihn gerade beschrieben haben, als jemanden beschreiben, der tief, und zwar auch emotional, davon überzeugt ist, dass rationales Denken etwas Gutes sei. Also der ist nicht einfach nur jemand, der rationaler denkt als andere, sondern es ist zunächst einmal jemand, der glaubt, dass das rationale Denken der richtige Weg sei, um zu den richtigen Entscheidungen in allen Lebenslagen zu kommen. Man braucht nur, wenn man einen Augenblick den Glauben, den religiösen Glauben einklammert und an andere wesentliche existentielle Entscheidungen denkt, etwa die Herausbildung von Liebesbeziehungen und Freundschaftsbeziehungen, wenn man diese Parallele zieht, das auf Ihren Fall anwenden, ich glaube, man sieht schnell, dass niemand wirklich ernsthaft sagen kann, ich treffe die Entscheidung über meine Freundschaften oder meine Liebesbeziehungen ausschließlich auf dem Wege rationaler Argumentation. Natürlich spielt für die Entstehung solcher menschlichen, zwischenmenschlichen intensiven Beziehungen vieles andere eine Rolle, und es wäre sogar zerstörerisch für die Entstehung solcher Beziehungen, wenn man das alles durch Voteilskalkulationen oder so etwas auf den Prüfstand stellen würde, und diese Parallele würde ich gerne ziehen zur Entstehung fundamentaler Werteüberzeugungen und religiöser Überzeugungen.
    Änne Seidel: Also eine sehr komplexe Entscheidung auf jeden Fall und auch eine nicht ganz unanstrengende Entscheidung. Könnte man sagen, dass heute Glauben deutlich anstrengender geworden ist, weil erst mal muss man nun die richtige Entscheidung für eine Religion treffen, und dann muss man sich für diese Entscheidung, wie Sie ja vorhin auch gesagt haben, gegebenenfalls auch noch ständig rechtfertigen, nämlich gegenüber denjenigen, die nicht glauben?
    Joas: Also diese Folge kann einen treffen, aber ich glaube, man muss genauso stark betonen, dass alle Menschen, wenn sie sich zu dem entschieden haben, von dem sie das Gefühl haben, dass es für sie genau das Richtige ist, dabei auch ein Gefühl der Befreiung und Entlastung verspüren. Also insofern müssen wir jetzt, glaube ich, beides in die Rechnung aufnehmen, was Sie gerade gesagt haben, nämlich der neue Aufwand, der entsteht durch Rechtfertigung einer gefundenen Überzeugung gegenüber Dritten oder anderen, aber auch dieses innere Befreiungsgefühl, ich bin jetzt mit mir mehr identisch als ich vorher war, als ich schwankte, suchte, unsicher war.
    Änne Seidel: Da sind wir jetzt schon bei den Gründen, aus denen sich Menschen für die Religion entscheiden oder auch gegen die Religion entscheiden. Würden Sie sagen, dass wir heute etwas anderes im Glauben suchen als früher? Haben sich diese Gründe verändert?
    Joas: Grundsätzlich glaube ich, dass immer viel mehr Gründe als nur im engen Sinn religiöse eine zentrale Rolle dafür gespielt haben, zu welchen Kirchen und Religionsgemeinschaften oder Religionen, oder zu welchen säkularen Werten Menschen sich hingezogen fühlen. Es fließt in die Attraktivität von Religionsgemeinschaften zum Beispiel immer auch ein, wie diese sich zu zentralen politischen Fragen stellen. Im 19. Jahrhundert in Deutschland wird die Arbeiterbewegung weitgehend säkular, weil die Arbeiter vor allem von den protestantischen Kirchen zutiefst enttäuscht waren. In anderen Ländern ist das anders, weil meinetwegen in Polen die Menschen überzeugt sein können, dass es gerade die katholische Kirche ist, die auch die Interessen der nationalen Identität der Polen mit verteidigt. Insofern habe ich jetzt nur zwei Beispiele gegeben. Also soziale Ungleichheit, nationale Unabhängigkeit, die in die Annäherung oder die Abstoßung von Religionsgemeinschaften mit hineinspielen. Ich glaube, man kann überhaupt nicht übersehen, dass das heute natürlich auch so ist. Für viele Frauen ist es zumindest ein Stolperstein, was ihr Verhältnis zur katholischen Kirche betrifft, dass die katholische Kirche so große Schwierigkeiten hat, sich auf die epochale Emanzipation der Frauen in den letzten 150 Jahren einzustellen und sozusagen an diese anzupassen, und so gibt es also ein ganzes Spektrum von Motiven, das bei allen religiösen Entscheidungen eine Rolle spielen.
    Änne Seidel: Es bleibt also kompliziert mit den religiösen Entscheidungen. Die Qual der Wahl – heute mit dem Religionssoziologen Hans Joas. Alle Interviews dieser Gesprächsreihe können Sie auch im Internet nochmal nachhören, unter www. deutschlandfunk.de.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.