Donnerstag, 25. April 2024

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Sommerreihe "Fremde Welten"
Tunesien und die lange Geschichte des arabischen Herbstes

Von Alexander Göbel | 07.09.2014
    Arbeit, Freiheit, Würde – danach rufen sie noch immer in Tunesien, und ganz besonders laut in Sidi Bouzid – heute so wie damals, vor mehr als drei Jahren, als hier die Revolution begonnen hat.
    Die trostlose Stadt tief im Süden Tunesiens hat einen berühmten Sohn: Mohamed Bouazizi. Ende 2010 übergießt sich der junge Gemüsehändler vor dem Rathaus mit Benzin und zündet sich an. Wenige Tage später stirbt er, die Bilder von den Protesten im Landesinneren erreichen die Hauptstadt Tunis, der Druck der verzweifelten Massen wird immer größer, die Armee greift nicht ein, am 14. Januar 2011 flieht Präsident Ben Ali mit seiner Familie nach Saudi Arabien: Tunesien läutet eine neue Zeit ein. Ausgang: Ungewiss.
    In Sidi Bouzid fühlen sie sich noch immer vergessen. Tunesien stand schon auf der Kippe, drohte an den Folgen einer schweren politischen Krise fast schon zu ersticken. Kaltblütige Morde an zwei linken Oppositionellen hat das Land erlebt, Anschläge durch den gewaltbereiten Flügel der erzkonservativen Salafisten, die den Koran streng auslegen. Dann die Lähmung des Parlaments, Rücktritte von Übergangsregierungen, den Absturz der Wirtschaft, immer wieder verschobene Wahltermine: Kaum jemand glaubte mehr an Staatspräsident Moncef Marzouki und seine Durchhalteparolen. 2014, sagte er in seiner Neujahrsansprache, werde das Jahr der Entscheidungen.
    Tatsächlich: Nach jahrelanger Verzögerung ist es endlich so weit. Tunesien hat seine neue Verfassung. In Artikel 1 heißt es wörtlich: „Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat. Der Islam ist seine Religion, das Arabische seine Sprache und die Republik seine Staatsform." Ein klares Bekenntnis zum Islam als Glaubensrichtung, aber ebenso eine Abkehr vom Islam als Rechtsquelle. Anders als von vielen Islamisten gefordert, soll die Scharia keine Grundlage für staatliches Handeln sein.
    Tunesien hat nun auch eine neue Übergangsregierung aus Experten, doch sie trifft nun auf eine politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität, die härter, angespannter und konfliktgeladener kaum sein könnte: Die Sicherheitslage bleibt angespannt, immer wieder werden Waffenlager von Islamisten entdeckt, radikale Kämpfer haben sich in den Bergen im Süden verschanzt, die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Nachbarland Libyen machen den Menschen Sorgen.
    Außerdem ist die politische Klasse Tunesiens extrem gespalten – so wie auch die Gesellschaft. Jeder hat seine Definition von Demokratie. Man jongliert mit Begriffen wie Freiheit, Gleichheit und Religion, begleicht alte Rechnungen; manche werden wieder zu Spitzeln wie im alten Regime, andere leiden an schwersten Traumata aus Zeiten der Foltergefängnisse und schlagen aus der Opferrolle politisches Kapital. Kein Wunder, sagt der tunesische Philosoph Youssef Seddik: Ben Alis Schatten seien eben lang. Sehr lang.
    „Arabischer Frühling", oder „Arabischer Winter" – das sind nur Metaphern. Aber eines ist ganz reell: der Zusammenbruch der Diktatur. Und das Ende dieser Diktatur hat sozusagen den Blick freigelegt auf den Körper Tunesiens – der ist nämlich voller Abszesse und blauer Flecken. Und mit diesen Verletzungen lebt Tunesien schon lange, seit der Gründungsphase des Staates. All die Jahre wollte niemand sehen, wie krank dieses Land ist. Und jetzt bin ich froh, dass wenigstens frei darüber gesprochen werden kann. Bis auf weiteres...
    Trotz Verfassung: Tunesiens Gretchenfrage bleibt unbeantwortet. Wie hältst Du es mit der Religion? Was bedeutet arabisch-islamische Identität? Und vor allem: Wie wird diese religiös geprägte Identität politisch benutzt – von den verschiedenen politischen Lagern? Bei der bisherigen Regierungspartei Ennahdha glaubt man weiter an den politischen Islam – und geht damit auf Stimmenfang vor den Wahlen, die noch in diesem Jahr stattfinden sollen. Der Islam habe seinen Platz in der Demokratie, heißt es bei Ennahdha – er sei die einzige, die absolute Kategorie für die politischen Entscheidungsprozesse. Die Religion von der Politik zu trennen, sei wie ein Körper, der ohne Seele leben muss. Der Philosoph Youssef Seddik widerspricht:
    Es gibt keinen gemäßigten politischen Islam! Sobald der Islam eine politische Dimension bekommt, fordert er per Definition das Ende des Pluralismus. Es gibt keinen politischen Islam, der regierungsfähig wäre. Kann er auch nicht, denn im Islam ist letzten Endes Gott der einzige, der regiert – nicht der Mensch. Der politische Islam wird immer versuchen, im Sinne Gottes zu regieren. Und das hat nichts mit Demokratie zu tun, sondern mit ihrem Gegenteil. Es geht dann nur noch um das Recht des Stärkeren.
    Es verwundert nicht, dass Youssef Seddik seine Diplomarbeit in den Sechziger Jahren über den Bibelkritiker Spinoza geschrieben hat. Seddik selbst ist ein Freigeist, Zeit seines Lebens hat er sich mit der Aufklärung ebenso beschäftigt wie mit dem Koran. Seine eigene liberale und individuelle Lesart des Islam will er sich nicht nehmen lassen. Eine Lesart, die er im neuen Tunesien gefährdet sieht. Durch Fundamentalisten, die mit einfachen Botschaften eine frustrierte und in weiten Teilen unkritische Jugend manipulieren.
    Tunesien hat ein Jahrhundert lang versucht, eine souveräne, unabhängige Nation zu werden, mitten in diesem heißen Magma, dieser schwer greifbaren Arabischen Welt, dieser Islamischen Welt. Kulturell sind wir Araber, und wir sind ein islamischer Staat, aber Bourguiba, der Staatsgründer, wollte damals, dass wir als Avantgarde mit diesem kulturellen Erbe umgehen. Jetzt macht Tunesien aber Rückschritte – die Ideologen definieren uns in erster Linie als Muslime, und dann erst als Tunesier. Das ist eine Lesart, die uns in die Katastrophe führen könnte.
    „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten." Gerne zitiert Youssef Seddik diesen Satz von Jean-Jacques Rousseau. Und hofft, dass der Geist der Aufklärung auch durch Tunesien weht. Eines Tages, als frische Brise.
    Ich denke, alle Revolutionen, alle tiefgreifenden Umwälzungen, die es in der Geschichte gegeben hat, sind sich ähnlich. Vom Prinzip her – natürlich nicht, was die Dimension betrifft – sind die Ereignisse in Tunesien vergleichbar mit der Französischen Revolution. 1789 hat die Revolution ihre Kinder gefressen, die Guillotine wütete, es gab Kaiser, und dann später erst die Commune, ein Aufbegehren des Bürgertums. Heute ist Frankreich eine stabile Demokratie. Für diesen Weg brauchen wir viel Geduld, und die müssen die jungen Leute jetzt aufbringen. Für uns Ältere ist diese Revolution zu spät – wir sind die Sündenböcke einer unvollendeten Revolution.