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Sommerserie: Gerechtigkeit
Polnische Fahrer, deutsche Löhne

Auf deutschen Autobahnen fahren, aber den polnischen Lohn kassieren: Was deutsche Lkw-Fahrer ungerecht finden, halten osteuropäische Politiker für wichtig. Nur so könnten die heimischen Spediteure wettbewerbsfähig sein. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort - über diese Formel diskutiert Europa.

Von Alois Berger | 23.08.2017
    Lastwagen sind an der Raststätte Hannover-Garbsen (Niedersachsen) an der Bundesautobahn 2 abgestellt.
    Lkw-Fahrer aus vielen EU-Ländern arbeiten in Deutschland, bekommen aber unterschiedliche Löhne (dpa/Holger Hollemann)
    Die meisten Lastwagenfahrer an dieser Raststätte bei Köln sprechen kein Wort deutsch und haben auch keine Lust zu diskutieren. Sie wissen, dass sie bei den deutschen Lastwagen-Kollegen nicht gut angesehen sind.
    Die Lkw-Fahrer aus Osteuropa drücken die Löhne, schimpfen die Deutschen, das sei Dumping und ungerecht. "Wir kriegen die Daumenschrauben angelegt, und die können machen, was sie wollen. Das ist nicht richtig."
    Zwei Millionen Arbeiter in anderem EU-Land
    Die Einkommensunterschiede zwischen Ost und West gehören zu den heikelsten Herausforderungen der Europäischen Union. Seit mehr als einem Jahr wird in der EU um eine neue Regelung gestritten für die rund zwei Millionen Arbeitnehmer, die vorübergehend in einem anderen EU-Land arbeiten. Vor allem auf dem Bau, in Schlachthöfen und in der Altenpflege arbeiten viele Mittel- und Osteuropäer.
    Nur jeder Zehnte arbeitet als selbstständiger Pfleger oder Handwerker auf eigene Faust und eigene Rechnung. Die anderen 90 Prozent sind bei polnischen, rumänischen oder bulgarischen Firmen angestellt, die als Subunternehmer etwa auf deutschen Baustellen Fassaden dämmen oder Fliesen legen. Einige dieser Firmen zahlen zumindest den in Deutschland üblichen Mindestlohn, wie das Gesetz das vorschreibt, andere finden immer neue Tricks, um die Löhne noch weiter zu drücken.
    "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort"
    Unterschiedliche Löhne sind nicht per se ungerecht, räumt Anke Hassel vom gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Institut ein. Schließlich seien auch die Lebenshaltungskosten in Deutschland deutlich höher als etwa in Tschechien oder Bulgarien. Doch wenn Menschen aus diesen Ländern in Deutschland arbeiteten, dann, so die Wirtschaftsprofessorin, müssten sie auch den in Deutschland üblichen Lohn bekommen:
    "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort ist eines der wesentlichen Prinzipien, wie in den modernen Marktwirtschaften eigentlich Entlohnung stattfindet. Wir brauchen eine faire Entlohnung und zwar für alle, die die gleiche Arbeit an den gleichen Orten entrichten. Ja, das ist fair."
    Enorme Widerstände im Europaparlament
    Doch die Widerstände sind enorm - und sie kommen vor allem aus Mittel- und Osteuropa. Die rumänische Europaabgeordnete Renate Weber hält die Formel vom gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort für ausgesprochen ungerecht:
    "Viele sagen, dass wir die Würde der Arbeiter schützen müssen, und da stimme ich voll und ganz zu. Wir müssen den Arbeitern ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, aber wir müssen auch die Konsequenzen unserer Entscheidungen im Auge behalten. Wenn die Richtlinie so durchgeht, wie die EU-Kommission und eine Mehrheit im Parlament sie wollen, dann werden vor allem kleinere Unternehmen aus Mittel- und Osteuropa nicht mehr in der Lage sein, Arbeiter in den Westen zu schicken."
    Protektionismus oder Gerechtigkeit?
    So wie die liberale Abgeordnete aus Rumänien lehnen praktisch alle Europaparlamentarier aus Mittel- und Osteuropa - egal ob Konservative, Liberale oder Sozialdemokraten - die Formel vom gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort als unfair ab. Natürlich müsse man gegen Ausbeutung vorgehen, meint Renate Weber, dafür müsse es Kontrollen geben. Doch völlige Lohngleichheit führe nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu Protektionismus. Lieber schlechter bezahlt als gar keine Arbeit, sagt sie. Die osteuropäischen Unternehmen bräuchten den Wettbewerbsvorteil, um wirtschaftlich aufzuholen.
    Josef Janning vom European Concil on Foreign Relations in Berlin beobachtet seit Jahren die Stimmung in Europas Osten: "Da gibt's eine gewisse Ambivalenz. Auf der einen Seite wollen Entsende-Staaten eine gewisse Migration, weil sie den eigenen Arbeitsmarkt entlastet. Auf der anderen Seite würden sie es gerne sehen, wenn diese Arbeitskräfte einen entsprechend fairen und den Verhältnissen im Zielland entsprechenden Lohn bekämen. Kritik wird immer dann geübt, wenn man den Eindruck hat, dass die Richtlinien die Wirkung haben sollen, Arbeitskräfte abzuhalten."
    Frankreich fordert "égalité"
    Vor allem Frankreich drängt auf völlige Gleichstellung der entsandten Wanderarbeiter. Schon jetzt müssen sie die in jedem Land geltenden Mindestlöhne bekommen, künftig sollen auch noch alle Zuschläge, einschließlich 13. Monatsgehalts Pflicht sein. Die Europäische Union müsse ihre Bürger schützen, fordert der neue Präsident Emmanuel Macron, und er lässt keinen Zweifel, dass es ihm dabei um die französischen Bürger geht:
    "Ich werde mich gleich zu Beginn meiner Amtszeit für eine Reform der Entsenderichtlinie einsetzen, damit es keinen unfairen Wettbewerb mehr in Europa gibt."
    Ausnahmen von der Regel
    Welcher Lohn in Europa fair oder gar gerecht ist, hängt also nicht zuletzt von der Herkunft und vom Blickwinkel ab. Die Formel vom gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort stößt zudem auch an praktische Grenzen, etwa bei Lastwagenfahrern. Eine estnische Spedition etwa müsste ihrem Fahrer für einen Transport nach Portugal erst den lettischen, dann den litauischen, polnischen, deutschen, französischen und spanischen Lohn bezahlen. Immer für ein paar Stunden, und immer so, dass das jederzeit kontrolliert werden kann.
    Die EU-Kommission möchte deshalb Ausnahmen von der Regel einführen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, das schon, aber erst nach dem dritten Tag. Doch dagegen laufen die deutschen und auch die französischen Lastwagenfahrer Sturm. So wie die junge Truckerin an der Raststätte bei Köln: "Find ich nicht in Ordnung, wenn das noch gelockert wird."