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Sonderweg aus der Sackgasse

Ein Kölner Lehrer für Erziehungshilfe hat ein Rückschulungsprogramm ins Leben gerufen, das Förderschülern den Weg auf "normale" Schulen ebnen soll.

Von Ulrich Kreikebaum | 03.04.2010
    85 Prozent der deutschen Förderschüler werden auf eigenen Schulen unterrichtet. Die wenigsten von ihnen schaffen den Sprung auf eine normale Schule. Daniel Mays, Lehrer für Erziehungshilfe und Doktorand an der Universität Köln, hat ein Rückschulungsprogramm gestartet, das beweist: Wenn sie auf dem Weg dorthin intensiv begleitet werden, kommen viele verhaltensauffällige Jugendliche auf einer Haupt- oder Realschule gut zurecht. Wie der 17-jährige Christian Hövel.

    "Es war mir unangenehm, darüber zu sprechen. Ich habe auch manchmal gelogen und gesagt, dass ich nicht auf einer Sonderschule sei. Es war mir richtig unangenehm, weil man aus meiner Sicht für doof erklärt worden ist, wenn man auf einer Sonderschule ist."

    "Ich habe mir gedacht, wenn ich mich irgendwann mal bewerbe – wenn ich mich bewerbe – mit einem Sonderschulzeugnis, dann gucken die da drauf und sagen, so einen Chaoten wollen wir hier nicht haben. Daher habe ich geguckt, dass ich auf jeden Fall auf eine Hauptschule komme."

    Christian hat geschafft, was in Deutschland nur wenige Förderschüler schaffen. Seit drei Jahren besucht der sportliche Kerl mit den wachen Augen eine Hauptschule. Auf seinem letzten Zeugnis hatte Christian keine Fünf, in der letzten Mathearbeit sogar eine zwei. Den Schritt zurück erleichterte Christian das Rückschulungsprogramms "In steps": Eine Sonderpädagogikstudentin begleitete Christian bei den ersten Schritten auf der Hauptschule: Schnupperstunden, dreiwöchiges Praktikum, halbjähriges Praktikum. Die Studentin half Christian bei den Hausaufgaben und sprach regelmäßig mit Lehrern und Eltern. Christian weiß die Vorteile einer Hauptschule heute zu schätzen.

    "Auf der Förderschule, da war mir alles egal, was ich gemacht habe. Der Unterschied zwischen Haupt- und Sonderschule ist, dass man den Umgang mit Mitschülern anders erlebt. Man hat nicht mehr die aggressiven Einstellungen der Mitschüler im Kopf. Und das Gute daran ist auch noch, dass da auch Mädels sind, mit denen man sich gut verstehen kann."

    "Ich bin stolz darauf, dass ich das gepackt habe."
    Als er hört, dass Christian an der Berufsschule angenommen wurde und in den Osterferien ein freiwilliges Praktikum in einer Bäckerei macht, spannt sich ein Lächeln über Daniel Mays' Gesicht. Mays war Christians Klassenlehrer auf der Förderschule in Frechen bei Köln. Der 35-jährige hat das Projekt "In Steps" ins Leben gerufen – weil er selbst frustriert war.

    "Nach meiner ersten Zeit als Sonderschullehrer habe ich schnell gemerkt, dass ich einem Dilemma ausgesetzt bin beziehungsweise meine Schüler ein massives Problem hatten, von der Förderschule auf eine normale Schule zu wechseln. Zum einen habe ich im Studium gelernt, dass die Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung eine Durchgangsschule ist, habe dann aber in der Realität festgestellt, dass nur ganz, ganz wenige Schüler eine erfolgreiche Rückschulung bewerkstelligen. Dies ist aus meiner Sicht ein Umstand, der nicht zu akzeptieren ist."

    Die Zahl der Schulen für Erziehungshilfe hat sich seit Ende der 80er-Jahre verdreifacht. Nur jeder zehnte Förderschüler mit Verhaltensauffälligkeiten wird Mays zufolge in NRW in eine normale Schule integriert. Mit mehr Personal und Zeit könnten sie jeden dritten Schüler zurückschulen, glauben die meisten der Sonderpädagogen, die Daniel Mays für seine Doktorarbeit befragt hat. Um zumindest einigen Schülern den Weg auf die Regelschule zu ebnen, wollen Mays und seine Mitstreiter Unternehmen und Stiftungen von ihrem Projekt überzeugen. Ihre Idee: Rückschulung ersetzt Studiengebühren. Die Geldgeber zahlen Studenten der Erziehungshilfe die Studiengebühren, die Studenten schulen Förderschüler zurück. Um für diesen Sonderweg aus der Sackgasse zu werben, verweist Mays am liebsten auf Jugendliche wie Christian."

    "Ich möchte jetzt erstmal ein Praktikum machen als Bäcker, um zu gucken, wie das ist. Was ich auch im Kopf habe, ist Einzelhandelskaufmann. Das sind zwar Welten, die da aufeinanderprallen, aber da würde ich auch gern noch ein Praktikum machen. Es ist mir wichtig, jetzt ein ordentliches Zeugnis zu kriegen; vor allem mein Abschlusszeugnis, wenn ich jetzt auf die Berufsschule gehe und da mein zehntes Schuljahr nachmache, ist mir extrem wichtig, dass ich da nur gute Noten habe. Dann gehen, leider, dass ich das sagen muss, meine Freunde nach."