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Olympischer Gigantismus II
Gigantische Ausbeutung von Putins Gnaden

Fremdenfeindlichkeit, geprellte Löhne, Körperverletzungen: Der Alltag der Gastarbeiter auf den Baustellen der Sportstätten gehört zu den Schattenseiten der Winterspiele 2014 - genauso wie das Schicksal von rund 2000 Menschen, die zwangsumgesiedelt wurden. Teil II unserer Serie rund um den Gigantismus von Sotschi.

Von Arne Lichtenberg | 11.01.2014
    Arbeiten für die Olympischen Spiele in Sotschi.
    Unter dem Gigantismus in Sotschi leiden auch die Arbeiter auf den Baustellen für die Sportstätten. (Karpov Sergei - dpa/picture alliance )
    Mardiros Demertschan ist gezeichnet. Noch heute kann er kaum laufen, der Rücken schmerzt, der Kopf tut weh. Jeden Tag muss er viele Tabletten schlucken. Dabei ist der Vorfall, der sein Leben radikal veränderte, schon über ein halbes Jahr her.
    Der Mann aus Abchasien, ein autonomes Gebiet, das von Georgien beansprucht wird *, arbeitete im Frühjahr 2013 auf den Olympia-Baustellen von Sotschi. In den Unterkünften für die Polizisten und die Volunteers, also die freiwilligen Helfer, verlegte er Stromleitungen und -verteiler auf den Etagen. 1500 Rubel bekam er dafür pro Tag - umgerechnet gut 30 Euro. Für den 38-Jährigen war das ein guter Lohn. Deshalb nahm er die neue Arbeit an. Doch schon nach zwei Monaten war er den Job wieder los. Der Grund: Er würde zu langsam arbeiten. Dazu wollte man auch noch die Hälfte seines Lohnes einbehalten. Doch das war nur der Anfang. Man bezichtigte ihn des Diebstahls.
    Verhaftung vor ehemaligen Arbeitskollegen
    Demertschan stritt die Straftat ab, da er unschuldig war und nicht für die Tat eines anderen büßen wollte. Zwei Wochen nach der Kündigung bestellte man ihn unter einem Vorwand in ein Lager. Dort würden andere Arbeitskollegen auf ihn warten. Es gebe etwas zu besprechen. Am Treffpunkt angekommen steht Demertschan ehemaligen Arbeitskollegen und unbekannten Leuten gegenüber. Es gibt eine Ansprache: Wer von den Versammelten hat Stromleitungen von der Baustelle entwendet. Als Demertschan wieder verneint, bekommt er Handschellen angelegt und wird zur Polizeistation gebracht.
    "Dann hat man uns in unterschiedliche Zimmer gebracht. Man setzte mich auf einen Stuhl. Die beiden Polizisten, die bei mir im Raum waren meinten: Einer von Euch muss die Schuld auf sich nehmen. Dabei haben sie sich Boxhandschuhe angezogen. Ich habe verstanden, dass sie mich schlagen werden."
    Die Schläge prasseln auf Demertschan ein. Schnell verliert er das Bewusstsein.
    "Dann haben sie mich mit kalten Wasser bespritzt. Kurze Zeit später bin ich wieder wach geworden. Dann haben sie mich weiter geschlagen. Von hinten hat mich auch einer ohne Handschuhe geschlagen. Dann bin ich wieder ohnmächtig geworden und dann erneut aufgewacht. Dann haben sie mich erneut gefragt: Also, wirst Du das jetzt sagen, dass Du es getan hast oder nicht? Nein, habe ich gesagt, diese fremde Schuld werde ich nicht auf mich nehmen."
    Folter und willkürliche Polizeigewalt
    Demertschan muss eine mehrstündige Folteraktion über sich ergehen lassen. Als er mental und körperlich am Ende ist, setzt er seine Unterschrift unter ein Papier, in dem er den ihm vorgeworfenen Diebstahl zugibt. Noch heute leidet er unter den Folgen der grausamen Aktion. Er ist arbeitsunfähig und muss fast den ganzen Tag liegen. Ein Rechtsanwalt hat sich seines Falls angenommen. Demertschan hofft, dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die ihm das angetan haben. Von Olympia in Sotschi will er nichts mehr wissen.
    Einigen Gastarbeitern in Sotschi ist es ähnlich wie Demertschan ergangen. Semjon Simonow von der russischen Menschrechtsorganisation Memorial betreibt seit Juni 2012 ein Büro in Sotschi, welches sich um die Belange der Gastarbeiter kümmert. Zu Anfang hatte er noch nicht viel zu tun. Kaum jemand wusste von der Existenz der Einrichtung. Das hat sich geändert. Im Jahr 2013 hatte er mehrere Fälle zu behandeln, in denen insgesamt 1500 Gastarbeiter involviert waren.
    "Jedes große Bauprojekt in Russland findet mit Gastarbeitern statt. Die Bauherren versuchen, einen Teil der Kosten zu sparen. Bei den Löhnen kann man gut sparen. Das Weltwirtschaftsforum in Wladiwostok, die Universiade in Kazan oder große Baustellen in Moskau - überall sind Gastarbeiter beteiligt. Man kann es so sehen: Ohne Gastarbeiter kommt Russland nicht aus."
    Rund 2000 Zwangsumsiedlungen
    Doch es sind nicht nur Ausländer, die ihm Zuge der Olympischen Spiele in Sotschi benachteiligt worden sind. Auch die einheimische Bevölkerung traf es hart, wenn sie im Weg war. So wie Andrej Martinew. Sein Haus stand einmal dort, wo heute die Eishockey-Arena "Scheibe" steht. Martinew hatte auf dem Gelände des Olympia-Parks ein Haus gekauft. Doch mit den Papieren stimmte etwas nicht.
    "Wir haben einem Makler 20.000 Dollar gegeben, damit er unsere Papiere fertig macht - und er ist dem Geld einfach abgehauen. Dann habe ich mich selber zwei Jahre lang um die Papiere gekümmert und bin immer wieder zur Stadtverwaltung gegangen. Und von einem Tag auf den anderen wurde uns das Haus einfach weggenommen."
    Weil Martinew nicht eindeutig nachweisen konnte, dass das Haus ihm gehört, wurde es einfach kurzerhand abgerissen. Seit Januar 2013 wohnt er nun mit seiner Frau in einem ehemaligen sowjetischen Gasthof auf acht Quadratmetern. In ihrem Zimmer ist nur Platz für ein Bett und einen Schrank. Insgesamt spricht man noch von 2000 Zwangsumgesiedelten in Sotschi. Einige bekamen neue Häuser und Wohnungen in der Nähe des Olympia-Parks zugewiesen. Martinew nicht - weil seine Dokumente ungültig waren.
    Gigantismus ohne Rücksicht
    Auf den Baustellen für Sportgroßereignisse gibt es menschenverachtende Auswüchse, die Sklavenarbeiter in Katar und menschenunwürdige und korrupte Behandlungen in Sotschi nicht nur der Gastarbeiter, stehen beispielhaft dafür. Der Gigantismus nimmt auf niemanden Rücksicht.
    * Im Originalbeitrag wird Abchasien als "autonome Republik, die von Georgien besetzt ist" bezeichnet. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. Die Red.