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Sozialarbeit in Schulen
"Wir würden knapp zwei Milliarden Euro jährlich brauchen"

Integration von Flüchtlingskindern, Prävention von Islamismus oder Hilfe bei Familienschwierigkeiten: Die Unterstützung von Schulsozialarbeitern in Deutschland ist gefragter denn je. Doch für Vollzeitstellen in der Schulsozialarbeit fehle das Geld, kritisiert Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im DLF.

Norbert Hocke im Gespräch mit Markus Dichmann | 04.12.2015
    Junge mit Tornister auf dem Rücken, der sich auf dem Schulhof hinter einem Baum versteckt.
    Schulsozialarbeiter können helfen, Schulverweigerung und Schulabstinenz schon im frühen Stadium zu erkennen, sagt Norbert Hocke im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance / dpa / Julio Pelaez)
    Markus Dichmann: Sie sind gefragter denn je – Schulsozialarbeiter in Deutschland. Neben den Kitas gehört die Schulsozialarbeit nämlich zu den am stärksten wachsenden Feldern im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, und das wird eigentlich erst dadurch ins rechte Licht gerückt, wenn man bedenkt, dass die Kita-Versorgung ja nun auch per politischem Willen bundesweit massiv ausgebaut wird.
    Aber der Bedarf nach Sozialarbeitern an Schulen wächst eben anscheinend ganz ähnlich wie der nach Kita-Personal. Dementsprechend gibt es einiges zu besprechen, wenn heute und morgen in Dortmund der Bundeskongress Schulsozialarbeit stattfindet. Auch beim Kongress involviert ist Norbert Hocke aus dem Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, und wir haben ihn gefragt, wieso der Bedarf nach Schulsozialarbeitern eigentlich so rasant steigt.
    "Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen sind schwieriger geworden"
    Norbert Hocke: Zum einen sind die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen spürbar schwieriger geworden, und in dieser Situation braucht Schule neben dem Bildungsauftrag der Wissensvermittlung auch einen Erziehungsauftrag, und der kann bei der bisherigen Ausbildung zu Lehrerinnen und Lehrer nicht allein von diesen bewältigt werden. Und so kommt es, dass die Gruppe der Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter stetig wächst.
    Und wir haben ja in den letzten Jahren mit dem Bildungs- und Teilhabepaket sehr wohl eine neue Erfahrung hinzugewonnen in den Schulen, dass diese Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sehr wohl Hilfestellung sind für die Kinder, für die Familien und für die Lehrer.
    Dichmann: Aber wo müssen denn die Sozialarbeiter genau Hilfestellung leisten, was sind so die Einsatzfelder an den Schulen?
    Hocke: Es ist sehr unterschiedlich. Zum einen geht es darum, individuell Hilfen zu geben, zum Beispiel, wenn es darum geht, Schulverweigerung, Schulabstinenz vielleicht im frühen Stadium schon zu erkennen. Deswegen ist es wichtig, in der Grundschule auch schon Sozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter zu haben.
    Der nächste Schritt ist dann bei Familienschwierigkeiten. Wir sehen in zunehmendem Maße, dass es Unterstützung innerhalb der Familie auch geben muss vonseiten der Schulsozialarbeit. Und ein dritter Punkt ist natürlich jetzt in zunehmendem Maße die Integration von Kindern mit Migrationserfahrungen, Migrationsgeschichte und geflüchteten Kindern.
    "Bedarf an Sozialarbeitern wird sich durch Flüchtlinge verstärken"
    Dichmann: Also in der aktuellen Situation mit den vielen Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, hat sich der Bedarf nach Sozialarbeitern noch mal verstärkt?
    Hocke: Er wird sich verstärken, weil noch sind die Jugendlichen ja nicht alle in den Schulen angekommen. Sie sind ja erst einmal in den Erstaufnahmelagern. Aber da wäre es schon wichtig, dass Schulsozialarbeiter auch die Möglichkeit kriegen, schon mal erste Kontakte, über das System der Hilfe in diesen Erstaufnahmelagern zu informieren.
    Dichmann: Vieles passiert gerade auch im Bereich der Prävention von Islamismus. Nächste Woche wird es eine Konferenz des Landes Niedersachsen dazu geben, heute legt das Land und die Stadt Berlin ein neues Programm zur Prävention von Islamismus auf, auch mit Schulsozialarbeitern dabei. Ist das auch ein wichtiges Thema?
    Hocke: Es ist ein wichtiges Thema, aber wir dürfen die Schulsozialarbeit auch nicht überfrachten. Sie müssen überlegen, dass wir an Berufsschulzentren für rund zwei- oder dreitausend Schülerinnen ein oder zwei Schulsozialarbeiterinnen haben. Das ist natürlich überhaupt keine Zahl. Die Frage nach Islamismus ist eine, die wir sehr stark in Kooperation mit den Projekten "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage", die ja langjährige Erfahrung haben und die die Schülerinnen und Schüler selbst beteiligen an der Frage und dem nachgehen in ihrer jeweiligen Schulsituation. Das ist ein Projekt, das zwischen den Ländern und dem Bund gefördert wird und wo dieses Projekt ja eigentlich eines ist, das wirklich auf Langzeit angelegt ist und bisher sehr gute Erfahrungen gemacht hat.
    "Noch nicht mal ein Schulsozialarbeiter für jede Schule"
    Dichmann: Also, es gibt eine Menge Bereiche, in denen Schulsozialarbeiter in Zukunft gefordert sind und gefordert werden. Wie steht es denn da aber um die Decke, Herr Hocke? Ist sie dick oder dünn, diese Decke? Gibt es genügend Sozialarbeiter in Deutschland?
    Hocke: Die Decke ist ausgesprochen dünn. Wir müssen feststellen, dass wir ja noch nicht mal für jede Schule in Deutschland einen Schulsozialarbeiter haben, obwohl wir dies benötigen. Die Dortmunder Kolleginnen und Kollegen werden am Abschluss eine Erklärung abgeben, bei der wird es darum gehen, dass wir unbefristete Vollzeitstellen je 150 Schüler brauchen.
    Sie müssen sich vorstellen, dass eine Schulsozialarbeiterin für drei Schulen zuständig ist, aber nur auf Projektbasis, und sie muss jedes Jahr am Jahresende damit rechnen, dass diese Stelle ausläuft. Das sind Bedingungen, die sich ganz langsam verändern. Wir haben, Gott sei Dank, erste Länder wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und auch Niedersachsen in Anfängen, die beginnen, aus Projektstellen feste Stellen zu machen. Und das ist ein Signal, was wir bräuchten.
    Der Bundestag hat im Oktober lange über Schulsozialarbeit diskutiert. Aber als es dann darum ging, eine Verbindlichkeit der Schulsozialarbeit in das Sozialgesetzbuch VIII, das Kinder- und Jugendhilfegesetz zu schreiben, da gab es keinen Kollegen mehr im Bundestag, der die Hand gehoben hat. Weil das kostet dann Geld. Wir bräuchten im Prinzip knapp zwei Milliarden Euro, um Schulsozialarbeit systematischer und flächendeckender aufzubauen.
    Dichmann: Jährlich?
    Hocke: Jährlich.
    "Schulsozialarbeiter müssen auch ihre eigene Familien ernähren können"
    Dichmann: Ist der Job also einfach aktuell zu unattraktiv, was Arbeitspensum und Bezahlung angeht?
    Hocke: Er ist hochinteressant, und ich war gerade in Niedersachsen bei einem Treffen von Schulsozialarbeitern aus Niedersachsen, die alle hoch motiviert agieren, weil sie sich für ihre Kinder, für die Jugendlichen, für die Familien, für die Lehrerinnen und Lehrer einsetzen. Aber auch immer wieder die schwierige Situation, wenn ich irgendwo anders eine feste Stelle angeboten bekomme, komme ich schon ins Grübeln, ob ich nicht meine Schulsozialarbeit verlasse. Das ist ein Punkt, wo wir auch daran denken müssen, dass die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter auch eigene Familien haben, und diese müssen sie ernähren können von einem festen Job.
    Dichmann: Sagt Norbert Hocke aus dem Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Wir sprachen über die Schulsozialarbeit in Deutschland. Danke, Herr Hocke!
    Hocke: Gern geschehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.