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Soziale Sicherung
Tschechiens steigende Armut

Ein harter Sparkurs und Sozialkürzungen hinterlassen Spuren in Tschechien. Jeder zehnte Bürger lebt mittlerweile unter der Armutsgrenze. Längst sind nicht mehr nur Rentner und Arbeitslose auf die kostenlose Verteilung von Lebensmitteln angewiesen.

Von Stefan Heinlein | 26.11.2013
    Ein Bettler kniet auf der Karlsbrücke in Prag am Boden.
    Ein Bettler auf der Karlsbrücke in Prag. (dpa / Bodo Marks)
    Nudeln, Reis, Mehl und Tütensuppen. Kistenweise schleppt Alois Stary die Lebensmittel in den Kofferraum seines Mittelklasse-Kombis. Zweimal die Woche kommt der freiwillige Mitarbeiter des Roten Kreuzes zur Lebensmittelbank am Prager Stadtrand.
    „Wir geben diese Lebensmittel an Obdachlose und Senioren. Diese Hilfe ist notwendig wie das Salz in der Suppe. Es gibt bei uns immer mehr arme Menschen - leider Gottes aber nie genug Hilfe.“
    Große Supermarktketten und die Hersteller sind bislang die Hauptlieferanten der Lebensmittelbank. Produkte kurz vor dem Ablaufdatum und angeschlagene Markenartikel werden den Helfern kostenlos zur Verfügung gestellt. Zum ersten Mal hat die Lebensmittelbank jetzt öffentlich auch an die Hilfsbereitschaft der Kunden appelliert. An einem Wochenende konnte jeder einen Teil seines Einkaufes am Ausgang spenden. Über 60 Tonnen wurden so landesweit gesammelt. Eine Hilfe, die dringend notwendig ist, so die Leiterin der Prager Lebensmittelbank Viera Douschova:
    „Es ist leider wahr. Die Zahl armer Menschen steigt bei uns von Jahr zu Jahr. Wir können die Nachfrage kaum befriedigen. Das ist eine direkte Folge einer schlechten Sozialpolitik und der drastischen Sparmaßnahmen“
    Arm in Tschechien ist, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohns zur Verfügung hat. Vor allem in den großen Städten kommt man mit diesen umgerechnet rund 580 Euro kaum über die Runden. Hinzu kommt eine Politik, die mit drastischen Sparmaßnahmen versucht, das öffentliche Defizit zu verringern, kritisiert der Soziologe Martin Potutschek:
    „Sieben Jahre lang hat die konservative Regierung überall gekürzt und gleichzeitig die Steuern deutlich erhöht. Die Sozialleistungen sind mittlerweile auf ein Minimum beschränkt. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit durch die Wirtschaftskrise gestiegen. Ganz normale Menschen, denen es vor zehn Jahren noch gut ging, sind deshalb jetzt an der Grenze zur Armut oder darunter“
    Tatsächlich ist die offizielle Zahl armer Menschen in Tschechien innerhalb der letzten fünf Jahre um rund 200.000 auf jetzt über eine Million gestiegen. Ein Thema, das nun zum ersten Mal auch in den Medien breit diskutiert wird. Die wahrscheinlich neue Regierung aus Sozialdemokraten und der Protestpartei ANO hat im Wahlkampf angekündigt, sich in Zukunft stärker um die sozial Schwachen kümmern zu wollen. Doch eine Umkehr der Abwärtsspirale für weite Teile der tschechischen Gesellschaft bleibt schwierig, so der Soziologe Potutschek:
    „Eigentlich bin ich immer ein Optimist, aber diesmal weiß ich nicht, ob wir die Verbreitung der Armut stoppen können. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Tschechien wirtschaftlich und politisch wieder stärker in Richtung Osten entwickelt.“
    Viele Tschechen haben mittlerweile tatsächlich den Glauben an eine bessere Zukunft verloren. Nicht wenige träumen von vergangenen Zeiten. Bei den Parlamentswahlen Ende Oktober wurde die orthodox-kommunistische Partei mit fast 15 Prozent drittstärkste Kraft im neuen Parlament.