Dienstag, 19. März 2024

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Soziale Ungleichheit
"Es geht darum, bessere Arbeit zu besseren Löhnen zu ermöglichen"

Die deutsche Wirtschaft brummt, die öffentlichen Kassen erwirtschaften enorme Überschüsse und die Beschäftigung in Deutschland steigt. Dennoch geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf. Ein Grund dafür sei, dass die Löhne am unteren Ende kaum steigen würden, sagte der Wirtschaftsforscher Marcel Fratzscher im Dlf.

Marcel Fratzscher im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker. | 16.11.2017
    Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher.
    Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. (imago / IPON)
    Ann-Kathrin Büüsker: Die deutsche Wirtschaft brummt. Die öffentlichen Kassen erwirtschaften enorme Überschüsse. 28 Milliarden könnten Ende des Jahres auf der Rechnung stehen. Und die Beschäftigung in Deutschland steigt. Das klingt alles richtig gut. Auf der anderen Seite steigt die Zahl der Wohnungslosen, weil bezahlbarer Wohnraum fehlt. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf. Das ist zwar nichts Neues, aber eine kontinuierliche Entwicklung. Das zeigt zum Beispiel eine Erhebung der Credit Suisse. Demnach gehört Deutschland zu den Ländern mit besonders ungleich verteilten Vermögen.
    Wie kann das sein bei so einer guten Wirtschaftsleistung und was ließe sich dagegen tun? Darüber möchte ich jetzt mit Marcel Fratzscher sprechen, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Guten Morgen!
    Marcel Fratzscher: Guten Morgen.
    Büüsker: Herr Fratzscher, gute wirtschaftliche Situation und trotzdem eine so fortschreitende Ungleichheit. Regelt der Markt am Ende doch nicht alles zum Guten?
    "Nicht alle partizipieren am Wachstum"
    Fratzscher: Nein, der Markt regelt das sicherlich nicht zum Guten. Denn viele Menschen haben an diesem Aufschwung keine Beteiligung und profitieren davon nicht. Gleichzeitig muss man natürlich auch sagen: Ein wichtiger Grund für diese Zunahme der Ungleichheit ist, dass nicht alle an dem Wachstum teilhaben.
    Es geht ja nicht darum, dass Menschen nicht mehr genug zu essen haben, kein Dach überm Kopf haben, sondern das Problem ist häufig, dass einige von dem Aufschwung profitieren, andere nicht. Wir sehen, dass die Löhne am unteren Ende kaum steigen. Also es ist eine sehr, sehr ungleiche Verteilung und letztlich tut die Politik zu wenig, um das wirklich zu adressieren.
    "Viele haben das Gefühl, ich kann hier nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen"
    Büüsker: Bevor wir gleich vielleicht zu den Maßnahmen kommen, was die Politik denn tun könnte, müssen wir vielleicht noch mal über das sprechen, was Sie gerade gesagt haben, dass viele nicht beteiligt sind. Sollte man da beziehungsweise darf man da tatsächlich dann den Begriff Armut schon verwenden, oder ist das schon ein bisschen zu übertrieben?
    Fratzscher: Nein, es geht um Armut. Aber bei Armut verstehen viele etwas anderes. Bei Armut verstehen viele, dass die Leute kein Dach überm Kopf haben, nichts zu essen haben. Darum geht es eigentlich nicht, denn Deutschland hat ja einen sehr starken und guten Sozialstaat. Sondern es geht um Chancen, es geht um Teilhabe. Es geht darum, dass viele das Gefühl haben, ich kann hier nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, ich kann nicht mehr ins Theater oder im Café etwas essen gehen oder meinen Kindern etwas bieten, was andere Eltern ihren Kindern bieten können. Darum geht es, dass viele Menschen sich abgehängt fühlen und sagen, ich kann doch überhaupt nicht daran teilnehmen, ich habe nicht die gleichen Chancen.
    Büüsker: Also brauchen wir mehr Umverteilung, um diese Teilhabe zu sichern?
    Fratzscher: Nein. Ich glaube, Umverteilung wird das langfristig alleine nicht richten. Denn wir haben in Deutschland doch heute eine solche wirtschaftliche Situation, dass eigentlich genug für alle da ist. Es gibt mehr als ausreichend Jobs, die gut bezahlt sind. Gleichzeitig ist einer von fünf Angestellten heute in Deutschland in atypischer Beschäftigung, also hat ganz geringe Löhne.
    Es geht also darum, bessere Arbeit zu schaffen, erst mal die Menschen, die keine Arbeit haben, in Arbeit zu bringen, und dann denen, die Arbeit haben, bessere Arbeit zu besseren Löhnen zu ermöglichen, damit die für sich selber sorgen können. Das erfordert Qualifizierung, denn wir haben in Deutschland einen zu großen Anteil an Menschen, die zu geringe Qualifizierung haben, zum Teil noch nicht mal einen Schulabschluss haben. Es geht aber auch darum, dass die Menschen im Prinzip einen fairen Wert für ihre Arbeit bekommen. Und wenn das gelingt, dann würden sich auch viele dieser Armutsprobleme lösen lassen.
    Büüsker: Fordern Sie bessere Löhne in Deutschland?
    "Selbst wenn Menschen Vollzeit arbeiten, kommen sie nach 40 Jahren nicht über die Altersarmut hinaus"
    Fratzscher: Ja! Die Löhne sind ein Riesenproblem. Deutschland hat den Mindestlohn eingeführt 2015. Wir wissen aber, gleichzeitig erst mal ist der Mindestlohn immer noch relativ gering bei 8,84 Euro. Das heißt: Wenn die Menschen selbst Vollzeit arbeiten, würden sie beispielsweise selbst nach 40 Jahren im Alter nicht über die Altersarmut hinauskommen, müssten also auch im Alter dann staatliche Leistungen erhalten. Wir wissen, dass der Mindestlohn zum Teil umgangen wird. Wir wissen, dass viele Menschen, die im Niedriglohnbereich tätig sind, nicht wirklich durch Tarifverträge abgedeckt sind, also nicht wirklich eine faire Leistung für ihren Lohn bekommen. All das sind Punkte, die bedeuten, viel geht über Arbeit, viel geht über gute Arbeit, und damit hätte man schon einen großen Teil dieses Verteilungsproblems gelöst in Deutschland.
    Büüsker: Ich könnte mir vorstellen, dass jetzt viele Unternehmer, die zuhören, die Hände überm Kopf zusammenschlagen, wenn Sie höhere Löhne fordern, weil die Unternehmer dann wahrscheinlich auf ihre Wettbewerbsfähigkeit verweisen, die ihnen abhanden geht, wenn sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mehr zahlen müssen. Was sagen Sie denn diesen Unternehmern?
    Fratzscher: Ich würde den Unternehmern sagen, Deutschland ist selten so wettbewerbsfähig gewesen wie heute. Die deutschen Exportunternehmen haben ein Rekordjahr nach dem anderen, haben hohe Erträge. Das gilt sicherlich nicht für jedes Unternehmen, ganz klar. Es gibt auch Unternehmen, die damit Probleme haben. Aber der Großteil der Unternehmen steht hervorragend da, hat Exportüberschüsse, ist wettbewerbsfähig, und es geht ja darum, die Menschen auch zu qualifizieren.
    Das heißt, wenn die Menschen bessere Qualifikationen haben, können sie ja auch produktiver sein, und dann rechnet sich das sowohl für die Unternehmen, die gut qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben. Viele Unternehmen haben offene Jobs. Über eine Million offener Jobs gibt es in Deutschland. Viele Unternehmen suchen händeringend nach qualifizierten Leuten. Und das ist doch auch im Sinne der Unternehmer.
    "Viele Menschen mit geringem Einkommen haben einfach keine Lobby bei der Politik"
    Büüsker: Herr Fratzscher, wenn Sie das so schildern, dann klingt das alles so leicht und so einfach und so logisch. Aber warum passiert es denn dann nicht?
    Fratzscher: Viele Menschen mit geringem Einkommen haben einfach auch bei der Politik keine Lobby. Wenn man sich jetzt mal die Diskussion um die Steuersenkung anschaut, dann geht es eigentlich nur um die oberen ein Drittel: Abschaffung des Solis, Kalte Progression, Mittelstandsbauch. Da geht es eigentlich eher um die Besserverdienenden. Menschen mit geringem Einkommen, die von Armut bedroht sind, die Kinder haben, die hohe Ausgaben haben und wo auch die Kinder in Armut leben, die zahlen ja eigentlich häufig keine Einkommenssteuer oder sehr wenig. Die kann man damit nicht erreichen.
    Da muss die Politik andere Wege gehen zu sagen, wie kann man zum Beispiel über die Sozialversicherungsbeiträge die Menschen entlasten, wie kann man vor allem Kinder stärker fördern, und da ist dann wirklich in der Tat Umverteilung gefragt, nämlich höheres Kindergeld gerade für die Menschen, die es brauchen, also nicht für die Menschen mit hohen Einkommen, sondern Menschen mit geringen Einkommen. Die Politik kann eine Menge machen, aber leider ist es so, dass die Menschen, die wenig Einkommen haben, die atypisch beschäftigt sind, häufig in der politischen Diskussion gar nicht auftauchen, weil sie keine Lobby haben.
    Büüsker: Nun haben sich die Jamaika-Sondierer in Berlin darauf verständigt, dass sie Familien stärken wollen. Sie wollen das Kindergeld erhöhen und sie wollen auch den Kinderzuschlag automatisch auszahlen. Das geht aus einem Papier hervor, was die Nachrichtenagentur Reuters vorlegt. Das wäre ein bisschen mehr Geld für die Familien, ein bisschen mehr Umverteilung. Aus Ihrer Sicht dann ein richtiger Schritt?
    Fratzscher: Absolut richtig. Es geht ja darum, erst mal die Menschen, die Gruppen zu identifizieren, die von Armut besonders stark bedroht sind, und das sind zum einen Kinder. Dann sollte man aber wirklich gucken, dass nicht der Freibetrag auch so erhöht wird, dass die Besserverdienenden wieder am meisten davon haben, sondern eher Menschen mit geringen Einkommen. Es sollten Alleinerziehende entlastet werden. Hier ist das Armutsrisiko besonders groß. Eine von vier Alleinerziehenden in Deutschland lebt unter der Armutsrisikogrenze.
    Zum Beispiel auch beim steuerlichen Thema: Ehegattensplitting hilft Paaren, aber nicht Kindern und nicht Alleinerziehenden. Ein besseres Bildungsangebot, dass gerade Alleinerziehende besser auch hier vom Staat unterstützt werden, dass sie überhaupt arbeiten oder Vollzeit arbeiten können. Mir ist das zu wenig auf die Menschen konzentriert, die diese Hilfe wirklich benötigen. Für mich ist das noch zu sehr bei allen Parteien eine Klientelpolitik und nicht wirklich eine Politik, die wirtschaftlich sinnvoll ist, die Menschen entlastet, den Menschen hilft, die diese Hilfe wirklich benötigen.
    Büüsker: … sagt Marcel Fratzscher. Er ist Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
    Fratzscher: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.