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Sozialenzyklika von Franziskus
Ott: "Ich erwarte von einem Papst, dass er Visionen und Utopien hat"

Der Papst legt eine politische Utopie vor - und findet kaum ein Echo in der Politik. Jochen Ott, SPD-Landtagsabgeordneter und Katholik, bedauert das. Für ihn sei das Schreiben ein "moralischer Kompass", sagte er im Dlf. Aber die katholische Kirche habe ähnliche Probleme wie die SPD.

Jochen Ott im Gespräch mit Christiane Florin | 07.10.2020
Jochen Ott, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und schulpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion NRW
Jochen Ott, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und schulpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion NRW (Stephen Petrat / Jochen Ott)
Franziskus fordert in seiner Enzyklika "Fratelli tutti" eine solidarische Migrationspolitik und eine an der Menschenwürde orientierte Wirtschaftsordnung. Die Politik ist also angesprochen. Aber die Resonanz von Politikerinnen und Politikern auf das Schreiben fällt zurückhaltend aus, kaum jemand nimmt öffentlich dazu Stellung.
Auf die Frage, warum das Echo so bescheiden ausfällt, sagte Jochen Ott, SPD-Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen und engagierter Katholik, im Interview mit dem Dlf:
"Für mich ist die Frage: Wer kann in dieser Welt auch moralische Impulse geben? Der Papst beschreibt einen Kompass, dem sich viele Leute verpflichten könnten, unabhängig von der Frage, ob sie der katholischen Kirche Glauben schenken oder nicht."
Die Enzyklika sei nicht "für den Tag" geschrieben. Er werde sie auf jeden Fall Kolleginnen und Kollegen zur Lektüre empfehlen, denn ihm spreche das Schreiben aus der Seele. Allerdings gebe es nicht mehr die eine umumstößliche Autorität, auch ein Papst sei nur eine Stimme unter vielen, so Ott.
Ott sieht in dem Schreiben konkrete Handlungsanweisungen für die Politik. Franziskus mache am Beispiel des barmherzigen Samariters alltagstaugliche Vorschläge: Es reiche nicht, den Armen einfach Geld zu geben, es müsse immer versucht werden, den Menschen mittels Arbeit ein würdiges Leben zu ermöglichen. Da sei Franziskus ziemlich nah am sozialdemokratischen Begriff von Arbeit. Auch seine Gedanken zur Flüchtlingspolitik seien weitsichtig. Er habe gerade diejenigen im Blick, die Flüchtlingen skeptisch gegenüber stünden, weil sie selbst in einer schwierigen sozialen Situation seien.
"Wir Europäer sind bisher nicht in der Lage, angemessen zu reagieren. Mit unserer christlichen Geschichte ist das wirklich eine Schande", sagte Ott.
Neue Sozialenzyklika des Papstes: Theologin Nothelle-Wildfeuer vermisst Selbstkritik der Kirche
Die Theologin Ursula Nothelle-Wildfeuer lobt das neue Papstschreiben "Fratelli tutti" für seine friedensethischen und sozialpolitischen Gedanken. Sie vermisst aber Selbstkritik. "Wir können eigentlich nur dann glaubwürdig sein, wenn wir uns an den eigenen Kriterien messen lassen", sagte die Theologin im Dlf.
Franziskus mahnt unter anderem an, "politische Liebe" walten zu lassen, eine ungewöhnliche Anforderung im politischen Alltag.
"Ich deute es so: den anderen nicht als Feind zu sehen, sondern als Träger von anderen Interessen", so Ott.
"Wenn man die Geschichte 'Die Schöne und das Biest' betrachtet, dann kann man erkennen, dass sich am Ende das Biest nur verändern kann, wenn es geliebt wird."
Man dürfe sich nicht eingraben, sondern müsse aus den Gräben rauskommen. Dies zeige vor allem der Blick in die amerikanische Gesellschaft.
"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!"
Der Papst versteht seine Sozialenzyklika als Utopie, als politischen Traum. "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen", sagte einst Helmut Schmidt, Sozialdemokrat und ehemaliger Bundeskanzler. Ist ein Papst, der eine Utopie entwirft, auch ein Fall für die Medizin? Ott widersprach:
"Ich erwarte von einem Papst, dass er Visionen und Utopien hat."
Gerade heute sei ein "Hoffnungsüberschuss" wichtiger denn je, sagte der Sozialdemokrat.
Er sehe einige Gemeinsamkeiten zwischen der katholischen Kirche und der SPD, beide seien aufgerufen, sich mit anderen Positionen auseinanderzusetzen, anstatt nur Gleichgesinnte wahrzunehmen. Er verzweifle manchmal ebenso an seiner Partei wie an der Kirche.
An dem Titel "Fratelli Tutti" gab es schon vor der Veröffentlichung des Schreibens Kritik, weil damit nur die Brüder angesprochen seien und nicht die Schwestern. Auch Jochen Ott sieht den Titel kritisch:
"Dem Papst hätte es gut angestanden, das anders zu fassen. Die Enzyklika kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kirche in Sachen Geschlechtergerechtigkeit nicht gerade glaubwürdiger wird, wenn sie sich nicht bewegt."
Auch die SPD singt noch immer den Klassiker "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!". Gemeint sei jedoch Geschwisterlichkeit, so Ott.