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Sozialpsychologe: Jugendliche nicht an den Pranger stellen

Rolf Pohl vom Institut für Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Hannover hat nach dem Amoklauf von Winnenden vor einer Überdramatisierung gewarnt. Das Ausmaß der Jugendgewalt habe in den letzten Jahren eher abgenommen. Wichtig sei es, die Pubertät Jugendlicher zu begleiten und ernst zu nehmen, um gerade junge Männer vor einem überzeichneten Männlichkeitsbild zu bewahren.

Rolf Pohl im Gespräch mit Jasper Barenberg | 17.03.2009
    Jasper Barenberg: Entsetzen, Fassungslosigkeit und Trauer, das waren die ersten Reaktionen auf den Amoklauf in Winnenden. Inzwischen aber ist auch eine vielschichtige Debatte bei Politikern und in der Öffentlichkeit über mögliche Konsequenzen dazugekommen: über die Verschärfung des Waffenrechtes, über die möglichen schädlichen Wirkungen von Killerspielen am PC und über Regeln für Schützenvereine. Hier und da aber taucht noch ein weiteres Thema auf, der Blick nämlich auf die Jugendlichen selber, genauer auf die jungen Männer, von denen einzelne auf dem Weg zum erwachsen werden zu Amokläufern werden. Das führt zu der Frage, in was für einer Welt junge Männer heute groß werden, welche Vorbilder sie haben und welche Korrektive, welche Rollenbilder prägen sie. - Am Telefon ist jetzt Rolf Pohl vom Institut für Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Hannover. Guten Morgen!

    Rolf Pohl: Guten Morgen.

    Barenberg: Herr Pohl, es gibt heute viele Formen von Gewalt und Gewalttätigkeit, Aggression an Schulen bei heranwachsenden jungen Männern. Was davon beunruhigt Sie?

    Pohl: Was daran beunruhigend ist, ist sicherlich die immer wieder das beklagte Sinken der Hemmschwellen, also die Bereitschaft, dann, wenn geprügelt wird, an bestimmten Punkten nicht aufzuhören. Das ist ein Intensitätsgrad, der sicherlich zugenommen hat. Was das Ausmaß der Gewalt insgesamt, der Jugendgewalt und so weiter angeht, gibt es eigentlich eher rückläufige Zahlen, auch wenn das nicht so gerne gehört wird. Ich glaube, dass man aufpassen muss, dass man nicht in so einen Alarmierungszustand verfällt und die Situation völlig überdramatisiert und damit eine ganze Generation von Jugendlichen an den Pranger stellt.

    Barenberg: Warum aber sind es meistens Jungen, die durch aggressives und unangenehmes Verhalten auffallen?

    Pohl: Da muss man sicherlich ein bisschen genauer eingehen auf das, was so die inneren Abläufe der durch die Pubertät in Gang gesetzten sogenannten Adoleszenz, also des gesamten Jugendalters, ausmacht, und das sind bestimmte Krisen, innere Krisen und Konflikte, an die wir uns selber nur sehr schwer - und das ist auch ein großes Problem - als Erwachsene erinnern können, weil wir das ein Stück abgehakt haben und das hat auch viel Scham ausgelöst.

    Die Tochter von Siegmund Freud, Anna Freud, hat einmal gesagt, dass wir uns sehr viel erinnern können an bestimmte Erlebnisse der eigenen Pubertät, aber eigentlich wenig uns an diese Affektzustände, diese Gefühlszustände und diese inneren Krisenlagen wirklich erinnern können. Deswegen besteht auch immer wieder die Gefahr, dass wir Jugend als eine Projektionsfläche nehmen. Also kurzum: wir müssen vielmehr genau schauen, was läuft eigentlich in der Innenwelt von Jugendlichen und besonders bei männlichen Jugendlichen ab, und da ist Pubertät allgemein ein Krisengelände, was von unglaublichen Extremen gekennzeichnet ist. Das weiß jeder, der mit Jugendlichen zu tun hat, als Lehrer oder auch als Eltern mit Heranwachsenden. Es gibt bei den Jungen noch mal eine besondere Situation, nämlich sie müssen in dieser Phase endgültig das erwerben, was die gesellschaftlich erwünschte Männlichkeit ausmacht. Da gibt es immer noch bestimmte Ideale, die mit einem klassischen Männlichkeitsbild sehr stark auch verknüpft sind und die immer wieder Konjunktur haben und gerade im Jugendalter auch gewisse Idealfunktionen übernommen haben.

    Barenberg: Würden Sie also sagen, dass junge Männer heute mit einem traditionellen und deswegen auch in gewisser Weise überholten Männlichkeitsbild aufwachsen?

    Pohl: Man kann sagen, es ist vielleicht etwas paradox, wenn man es so formuliert, dass gerade dort, wo versucht wird, ein anderes Männlichkeitsbild durch Erziehung, durch Sozialisation herzustellen und zu erzeugen, es auch immer gegenläufige Bewegungen gibt. Gerade dieses Krisengelände der Pubertät zeigt, dass nach Lösungen gesucht wird und dann oft zurückgegriffen wird auf traditionelle Muster von Männlichkeit, die eigentlich gesellschaftlich ein Stück weit überholt zu sein scheinen, und ich sage das ganz vorsichtig, weil es ja auch in der Gesellschaft immer wieder solche Tendenzen gibt, die man etwa Remaskulinisierung nennen kann.

    Man kann das an einzelnen Indizien vielleicht festmachen. 2003 gab es eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr in Strausberg, wo festgestellt worden ist, dass innerhalb der Bundeswehr dieses alte Leitbild des Bürgers in Uniform, der inneren Führung, seine Prägekraft ganz stark verloren hat und eigentlich wieder tendenziell so ein altes klassisches Kriegerbild von Männlichkeit entsteht. Das ist so ein Indiz dafür, was damit zusammenhängt, dass die Bundeswehr von einer klassischen Verteidigungs- und Standortarmee zu einer weltweit operierenden Interventionsarmee wird. Das sind Tendenzen in der Gesellschaft, die solche klassischen Männlichkeitsbilder auch ein Stück weit wieder befördern und beflügeln, und dazu gehört immer die Idee, dass Konflikte mit Militanz, Gewaltbereitschaft und Aggressivität gelöst werden sollen. Das ist mit diesem alten Männlichkeitsbild verknüpft.

    Barenberg: Ist es also für Jungen heute schwieriger, in einem positiven Sinne zu erfahren, was ihre Männlichkeit ausmacht?

    Pohl: Das ist eine schwierige Frage. Was heißt "in positivem Sinne" und was ist "eine positiv erwünschte Männlichkeit"? Das ist ja keine Zielkategorie, wo man sagen kann, die Pädagogik hat die Aufgabe, mit bestimmten Mitteln, mit dem Einsatz bestimmter Methoden jemand zu diesem Ziel hinzubringen. Das kann nur funktionieren, wenn man wirklich sich auch mit der inneren Dimension und den inneren Erlebnisweisen und den Konflikten auch wirklich auseinandersetzt und sie nicht frühzeitig verteufelt. Das ist unglaublich wichtig - das ist ein Anerkennungsproblem, was jetzt auch immer wieder in den Mittelpunkt gerückt wird -, dass diese Krisen nicht abgewehrt, sondern erkannt, anerkannt und ein Stück weit auch begleitet werden.

    Barenberg: Heißt das denn auch, dass Raufen, Toben, Lärmen dann einfach dazugehört bei jungen heranwachsenden Schülern sagen wir und dass das aus dem Blick gerät oder nicht gestattet wird?

    Pohl: Das ist ja noch relativ harmlos. Man darf darin nicht das Vorzeichen sehen, jemand, der ein bisschen rumrauft, ein bisschen aggressiver ist, ist potenziell ein zukünftiger Amokläufer. Das wäre natürlich vollkommen fatal, das zu sehen. Ich finde aber auch nicht, dass man Aggression und Gewalt und Gewaltausübung sozusagen grenzenlos tolerieren kann oder tolerieren soll. Es liegt nicht in der Natur der Männer, sondern man muss das noch mal deutlich sagen. Es liegt nicht in der Natur einer von der Evolution her starken Männlichkeit, wie das jetzt auch im Moment in der Öffentlichkeit einige wieder ganz stark betonen, sondern es liegt daran, dass diese Art von Männlichkeitsbild der Versuch ist, ein Ideal zu konstruieren, was eine Krise löst. Da muss sozusagen interveniert werden oder aufgepasst werden, dass das nicht Überhand nimmt und nicht diese negativen Vorbilder zu stark in den Mittelpunkt gerückt werden und dann eine Idealfunktion erfüllen, die Ulrike Brunotte in den 90er-Jahren mal, finde ich, unter dem richtigen Stichwort "Helden des Tötens" genannt hat. Das sind negative Vorbildfunktionen, wenn so ein überzeichnetes Männlichkeitsbild praktisch in die Pathologie abgleitet.

    Barenberg: Und wie könnte ein positives aussehen und wer kann junge Männer auf diesem Weg begleiten?

    Pohl: Ich glaube, dass die Diskussion, wie sie heutzutage geführt wird, indem gesagt wird, grundsätzlich müssten mehr Männer überhaupt als Vorbilder vorhanden sein, ist noch keine Garantie dafür, dass es zu einer Pazifizierung, zu einer Entwicklung zu mehr Friedfertigkeit in der Konfliktaustragung führt, wenn nicht gleichzeitig mit systematisch überlegt wird, was für ein Männlichkeitsbild und auch Weiblichkeitsbild diese männlichen Vorbilder haben und an den Tag legen, denn sonst besteht immer wieder die Gefahr, dass im Prinzip Männer die Männer erziehen, junge Männer zu Männern machen und so weiter, eine Mentorenfunktion erfüllen, teilweise in Abgrenzung zu Frauen und zu Weiblichkeit, eigentlich sozusagen die besseren Vorbilder darstellen, und dann sind wir wieder bei dem Problem, dass Männlichkeit sich heutzutage immer noch darin beweisen muss, dass sie nicht nur ein anderes Geschlecht darstellen, sondern immer ein Stück weit auch dem Druck unterliegen, sich zu beweisen, ein überlegenes und wichtigeres Geschlecht zu sein. Wenn das nicht systematisch mit einbezogen wird in die Selbstreflexion der Erziehung und der Pädagogik, dann ist die Frage nach den männlichen Vorbildern alleine keine automatische Sicherheit, dass wir zu einer Befriedigung der Verhältnisse kommen.

    Barenberg: Ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch Rolf Pohl, Sozialpsychologe an der Universität Hannover.

    Pohl: Bitte sehr.