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Sozialsstaat unter Druck
Von Leistungen und Lücken

Die Debatte um Hartz IV ist ein Dauerthema mit großem Empörungspotenzial. Zuletzt provozierte Bundesgesundheitsminister Spahn mit der Aussage, Hartz IV sei nicht gleichbedeutend mit Armut. Kritiker monieren, der Staat komme seiner Fürsorgepflicht nicht nach. Wie aber kann die soziale Schieflage wieder austariert werden?

Von Claudia van Laak und Anja Nehls | 19.04.2018
    In der Berliner Arche bekommen Kinder kostenlos zu essen - manche von ihnen sind darauf angewiesen, weil es zu Hause zu wenig gibt
    In der Berliner Arche bekommen Kinder kostenlos zu essen - manche von ihnen sind darauf angewiesen, weil es zu Hause zu wenig gibt (Foto: Die Arche)
    Die 9-jährige Lina steht an der Essensausgabe im Untergeschoss eines Plattenbaus am nordöstlichen Berliner Stadtrand. Hier, in der ehemaligen Schule - heute die Hellersdorfer "Arche" vom Christlichen Kinder- und Jugendwerk - gibt es täglich ein warmes Mittagessen für bedürftige Kinder und deren Eltern.
    "Nudeln Bolognese - und ansonsten das, was ich aufgeschnitten hab, also noch Paprika, Gurke, Melone und die Früchte hier. Wir packen immer 100 Teller raus und ich denke mal so 80 dürften das schon gewesen sein."
    Weit über 100 Kinder kommen jeden Tag hierher, darunter auch Lina. Dass es wichtig ist, Geld zu sparen, hat die 9-Jährige schon verstanden.
    "Ich finde schön, dass sie hier ganz viele Sachen mit uns machen, zum Beispiel die Hoffeste und dass wir alles kostenlos haben, die Hüpfburgen - auch alles kostenlos -, Essen, und dass sie im Sommer auch mit uns schwimmen gehen. Weil die meisten ja hierher kommen, weil sie nicht so viel Geld haben fürs Essenkaufen und so."
    Das Geld reicht vorne und hinten nicht
    Linas Mutter Andrea ist 36 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von drei Mädchen. Keiner der verschiedenen Väter zahlt Unterhalt. Andrea arbeitet in Teilzeit bei einem sozialen Träger und verdient dabei so wenig, dass sie mit Hartz IV aufstocken muss. Nach Abzug der Kosten für zum Beispiel Miete, Strom oder Monatskarten für den Nahverkehr bleiben gut 500 Euro im Monat für sie selbst, Lina und deren zwei Schwestern. 4,80 Euro sind für einen Erwachsenen im Hartz IV-Regelsatz täglich für Essen und Getränke vorgesehen, 3,70 Euro für ein Kind zwischen 6 und 14 Jahren. Weil das Geld vorne und hinten nicht reicht, kommt Linas Mutter fast täglich zum Essen in die "Arche".
    "Um Geld zu sparen, weil Mittagessen jeden Tag für vier Personen ja auch kostet, weil man ja Kartoffeln kochen muss, und wenn es dann mal Fleisch oder irgendwas sein soll, bist du dann ja auch schon bei 10, 15, 20 Euro dabei, wenn es für alle reichen soll. Von daher gehen wir hier in der Woche essen."
    Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbandes, spricht am 14.09.2013 in Bochum (Nordrhein-Westfalen) während der Kundgebung des Bündnisses «Umfairteilen - Reichtum besteuern» bei einer Pressekonferenz. Die zentrale Demonstration fand in Bochum statt, wo sich insgesamt mehr als 12.000 Menschen an einem Sternmarsch beteiligten. Zeitgleich bildeten in Berlin Tausende eine Umfairteilen-Kette im Regierungsviertel. Auch in anderen Städten - darunter etwa Saarbrücken und Regensburg - fanden Veranstaltungen statt. Foto: Caroline Seidel/dpa | Verwendung weltweit
    "Umfairteilen - Reichtum besteuern" Demonstration in Bochum (dpa)
    Das eingesparte Geld verwendet sie dann lieber dafür, mit den Kindern mal ins Kino oder in den Tierpark zu gehen. Für Freizeit, Unterhaltung und Kultur gibt's nämlich laut Amt für Kinder täglich gerade mal 1,50 Euro. Viel zu wenig, um soziale Teilhabe zu ermöglichen, beklagen Sozial- und Wohlfahrtsverbände. Ein Thema, das zuletzt hochkochte, als Gesundheitsminister Jens Spahn sagte, Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut. Der CDU-Politiker hatte damit wiederum auf die Diskussion um die Essener Tafel reagiert, die kurzzeitig keine neuen ausländischen Kunden aufgenommen hatte.
    Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands und Mitglied der Linken, findet allerdings, Spahn habe in dem Zusammenhang nur das ausgesprochen, was alle bisherigen Arbeits- und Sozialminister so oder so ähnlich gesagt hätten.
    "Die werden immer behaupten, Hartz IV deckt alles ab, was man braucht, denn sonst müssten sie ja eingestehen, dass sie ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den Menschen, die in Not sind, als Sozialstaat nicht nachkommen."
    Kommt der Staat seinen Verpflichtungen nicht ausreichend nach?
    Der paritätische Gesamtverband kritisiert: Zunehmend müssten kirchliche und private Organisationen - zum Teil auch Ehrenamtliche - die Aufgaben übernehmen, die eigentlich originär staatliche seien. In Berlin-Hellersdorf zum Beispiel das Christliche Kinder- und Jugendwerk mit seiner "Arche". Weil das Hartz IV-Budget für Kinderkleidung nur knapp 44 Euro monatlich vorsieht, wird hier auch Secondhand-Kleidung angeboten. Die 8-jährige Doreen freut sich:
    "Ich find es schön, dass man sich da Kleider holen kann, also Sachen, wenn man nicht so viel hat. Manchmal Hose oder T-Shirt, Pullover oder Schuhe."
    In unmittelbarer Umgebung der "Arche" leben 80 Prozent der Menschen von Transferleistungen wie zum Beispiel Hartz IV oder der Grundsicherung. Die christliche Organisation setzt sich dafür ein, dass die betroffenen Kinder nicht noch mehr abgehängt werden - und bietet neben gesundem Essen und Kleidung auch Hausaufgabenhilfe, sinnvolle Freizeitangebote und nicht zuletzt auch Bezugspersonen. Denn die Eltern seien oft nicht nur finanziell, sondern auch persönlich überfordert, sagt Wolfgang Büscher von der "Arche". Die Mehrzahl der Familien sei nicht nur arm, sondern auch bildungsfern.
    "Ich selbst habe immer wieder erlebt, der Fernseher läuft von morgens 7 bis abends 23 Uhr, und es läuft nicht unbedingt das Bildungsfernsehen, um es mal salopp zu formulieren. Wenn man Hunger hat, kauft man auch schnell mal in der Tanke ne Pizza, und die kostet da nicht 2 Euro sondern 11 Euro. Und wir haben das hier sehr häufig, dass Eltern dann in der "Arche" nachfragen: 'Habt ihr Geld für mich, ich kann nichts mehr zu essen kaufen'."
    Viele gut gemeinte Leistungen des Staates kämen deshalb bei den Kindern gar nicht an, so Büscher. Eltern seien häufig nicht in der Lage, die Anträge auszufüllen, andere hätten schlicht kein Interesse.
    "Für unsere Eltern ist das sehr schwierig. Mir hat mal eine Mutter hier gesagt, 'Ich stelle mich doch nicht sechs Stunden in der Arbeitsagentur an, damit mein Kind eine Klassenfahrt mitmachen kann!'. Und dann hat dieses Kind keine Chance. Wir müssen den Filter 'Eltern' abschaffen", fordert Büscher. Er meint, der negative Einfluss bestimmter Eltern auf ihre Kinder müsse minimiert werden. Dazu brauche es einen starken Staat - für Büscher gleichbedeutend mit einem qualitativ guten und zeitlich umfangreichen Bildungs- und Betreuungsangebot von der Kita bis zur Ganztagsschule.
    Auch die Politik fordert stärkere Interventionen
    Eine deutliche Stärkung der staatlichen Institutionen in diesem Bereich will auch Franziska Giffey, die neue Bundesfamilienministerin von der SPD.
    "Wenn die Kinder in einer guten institutionellen Förderung sind, dann kann ein Stück weit ausgeglichen werden, was im Elternhaus nicht geleistet werden kann. Ich bin der Meinung, dass die Eltern im Grundsatz das Beste für ihr Kind wollen, aber viele können es nicht so, wie es eigentlich nötig wäre, und dann muss aus meiner Sicht der Staat auch als Ausfallbürge dieses kompensieren."
    So will die neue Bundesregierung mit 2 Milliarden Euro die Ganztagsbetreuung an Grundschulen ausbauen. Für die frühkindliche Bildung stehen laut Giffey weitere 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Hartz IV-Sätze oder andere Sozialleistungen massiv zu erhöhen - wie es zum Beispiel die Linke seit Jahren vehement fordert - ist für die SPD-Politikerin und frühere Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Neukölln nicht die Lösung.
    "Ich komme ja aus einer Kommune, in der jedes Jahr 75 Prozent des Gesamtbudgets für Sozialleistungen ausgegeben worden sind. Und ich fand immer, unser Ziel muss sein, dass wir davon irgendwann mal wegkommen. Nicht, weil wir die Sozialleistungen kürzen, sondern weil wir es schaffen, mehr Menschen in ein selbstbestimmtes Leben zu bringen. Und das ist etwas, was wir für ganz Deutschland immer wieder als Richtschnur haben müssen."
    Die Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Franziska Giffey (SPD).
    "Mehr Menschen in ein selbstbestimmtes Leben bringen": Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) will die staatlichen Institutionen deutlich stärken (picture alliance / dpa / Sophia Kembowski)
    Die neue SPD-Bundesfamilienministerin macht damit indirekt klar: Vom Vorschlag ihres Parteifreundes Michael Müller hält sie nicht viel. Berlins Regierender Bürgermeister hatte bereits Ende letzten Jahres vorgeschlagen, das System Hartz IV durch ein "Solidarisches Grundeinkommen" zu ergänzen. Dafür sollten Langzeitarbeitslose freiwillige und unbefristete Tätigkeiten bei Kommunen aufnehmen, zum Beispiel Parks reinigen, Alte und Kinder betreuen. Die Bezahlung entspräche mindestens dem gesetzlichen Mindestlohn.
    Doch Müller dürfte es schwer haben, in der eigenen Partei das Konzept des solidarischen Grundeinkommens durchzusetzen, von der Großen Koalition ganz zu schweigen. Der Koalitionsvertrag sieht einen sogenannten "Sozialen Arbeitsmarkt" für maximal 150.000 Langzeitarbeitslose vor - zeitlich beschränkte Lohnkostenzuschüsse für Unternehmen, Verbände und Kommunen, die Langzeitarbeitslose beschäftigen. Beim Koalitionspartner CDU trifft Müllers Vorschlag erst recht nicht auf Verständnis. Hartz IV solle nicht angetastet werden, sagt die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer.
    "Ich halte es für ein schwieriges Signal in der deutschen Politik, dass wir in einer Zeit, in der wir auch im Gegensatz zu anderen Staaten eine robuste Verfasstheit auch am Arbeitsmarkt haben, eher das Problem haben, Arbeitsplätze auch besetzen zu können, dass wir die Diskussion über die Frage, Wohlstand, was bedeutet Wohlstand und Teilhabe, eben am System Hartz IV beginnen."
    Kein Konzept der GroKo gegen die "soziale Schieflage"?
    Doch genau das fordert Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband. Natürlich müsse bei einer Debatte über Armut, Wohlstand und Teilhabe mit dem System Hartz IV begonnen werden.
    "Der Koalitionsvertrag zeigt, was Armutsbekämpfung anbelangt, eine fast skandalöse Leerstelle. Dieser Koalitionsvertrag führt eigentlich die soziale Schieflage, die wir in der Sozial- und Familienpolitik haben, aus der letzten Groko in der neuen Groko weiter."
    Doch: Grundsätzlich mehr Geld für Sozialleistungen auszugeben und die Hartz IV-Sätze anzuheben, ohne die Strukturen zu reformieren, das dürfte Armen in vielen Fällen nicht weiterhelfen.
    Ein Beispiel: Von einer Erhöhung des Kindergelds profitieren Mütter und Väter im Hartz IV-Bezug nicht, denn deren Kindergeld wird mit dem Anspruch aus Hartz IV verrechnet. Gleiches gilt für den Unterhaltsvorschuss, den der Staat zahlt, wenn Väter ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen.
    So ist die Mutter der 9-jährigen Lina aus Berlin-Hellersdorf aus dem ergänzenden Hartz IV herausgefallen, nachdem sie den Unterhaltsvorschuss vom Sozialamt erhalten hat. Das bedeutet für sie nun: weniger Vergünstigungen. Unter dem Strich also nicht mehr Geld.
    "Ich habe die Fahrkartenvergünstigung nicht mehr, ich habe die GEZ nicht mehr, das muss ich alles selber bezahlen jetzt. Und wenn ich berechne, für so ein Hartz IV Ticket, also für so ein Berliner S-Bahn Ticket, würde ich bezahlen: 27,50 Euro, jetzt zahle ich für eine Fahrkarte 63,42 Euro. Also das sind Gelder, die sind auch ganz schön hoch."
    Auch die Schulbücher für ihre drei Töchter muss sie nun wieder selbst bezahlen sowie die normalen Eintrittspreise für Berliner Museen und Freibäder. Und sollte ein Kind aus einer Hartz IV Familie doch mal auf die Idee kommen, in den Ferien zu arbeiten, um mehr Geld zu haben, wird es schnell merken, dass sich das nicht lohnt. Gerade mal 100 Euro im Monat bleiben anrechnungsfrei. Von jedem zusätzlich verdienten Euro müssen 80 Cent abgegeben werden. Die Folge: Viele Familien bleiben lieber im Hartz-IV-System.
    Ähnlich beim Kinderzuschlag - diese staatliche Leistung können Eltern mit niedrigen Löhnen beantragen, dadurch sind sie nicht zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Hier immerhin will die Große Koalition ansetzen. Familienministerin Franziska Giffey.
    "Wir haben Leute, die sich ausrechnen: 'Lohnt sich das überhaupt, arbeiten zu gehen?', und das darf ja nicht sein. Der Kinderzuschlag, den wir jetzt haben, muss zu einem echten "Familienaufstiegsgeld" entwickelt werden, wo Familien sagen, 'Es lohnt sich, wenn wir mehr tun. Es lohnt sich, wenn wir mehr verdienen!'. Und wir haben dann trotzdem einen positiven Effekt und wir kommen weg vom Rückfall in die Sozialleistung und hin zu einer wirklichen Möglichkeit, dann auch das eigene Leben selbst zu finanzieren und zu gestalten."
    Zahl der Obdachlosen steigt dramatisch
    Das eigene Leben selber finanzieren und gestalten - davon sind viele Obdachlose weit entfernt. Zwar gibt es nur Schätzungen, aber ihre Zahl ist in den letzten Jahren drastisch angestiegen. So geht die "Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe" davon aus, dass derzeit eine knappe Million Menschen in Deutschland keine Wohnung haben. Über 52.000 lebten dauerhaft auf der Straße und die Zahl werde weiter steigen, warnt der Interessenverband. Immer mehr Menschen in den Großstädten würden aus ihren angestammten Quartieren verdrängt und viele landeten so auf der Straße. Auch dem Berliner Siegfried-Ernst Muschak wäre es beinahe so ergangen.
    Im Fernsehen läuft SOKO Wismar. Davor auf einem Stuhl, eingequetscht zwischen Eisenbett und einem kleinen Holztisch, sitzt Muschack, 65 Jahre alt, fast weiße, halblange Haare, orangefarbenes Polohemd.
    Berlin: Ein Obdachloser liegt auf der Tauentzienstraße in der Nähe des Kurfürstendamms.
    Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit eine knappe Million Menschen in Deutschland keine Wohnung haben. Im Bild: Ein Obdachloser in der Nähe des Kurfürstendamms, Berlin (imago/Jürgen Ritter)
    "Langsam hängen einem die Krimis zum Halse raus, wenn man will, man kann durchgucken von halb elf bis tief in die Nacht."
    Sechs Jahre wohnt Muschack schon hier, auf 12 qm, im Erdgeschoss der "Teupe", einem Heim für Wohnungslose. Damit ist er einer der vergleichsweise wenigen Glücklichen, die das Amt untergebracht hat, als die Obdachlosigkeit drohte.
    "Dass ich aus meiner Wohnung geflogen bin, war meine eigene Schuld, weil ich damals nicht zum Sozialamt gegangen bin, als ich arbeitslos wurde, bin immer ungefähr 120 Euro von der Miete schuldig geblieben, und dann kamen natürlich irgendwann Mahnschreiben und dann kam die fristlose Kündigung und Räumungsklage natürlich."
    Siegfried-Ernst Muschack hat schwere Arthrose, ist Alkoholiker, inzwischen Rentner und in eine eigene Wohnung kaum mehr vermittelbar. Dass er nicht wie viele andere unter der Brücke schlafen muss, bezeichnet er als Glücksfall.
    "Ich war erst mal froh, dass ich eine Decke über den Kopf hatte und eben nicht auf der Straße gelandet bin, also das wäre nun für mich schauderhaft gewesen, wie für jeden Menschen, das ist ja für niemanden angenehm."
    Obdachlose aus Südosteuropa
    In Berlin kommt ein großer Teil der Obdachlosen aus Südosteuropa. Da innerhalb der EU Freizügigkeit gilt, dürfen sie sich in Deutschland aufhalten. Solange sie nicht arbeiten, haben sie aber keinen Anspruch auf Sozialleistungen und werden deshalb von einigen Bezirksämtern nicht oder nur für sehr kurze Zeit untergebracht. Auch ihnen stünde ein Platz im Wohnheim zu, meint Thomas Specht von der "Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe".
    "Die Kommunen sind verpflichtet, rechtlich verpflichtet, nach Ordnungsbehördengesetz alle obdachlosen Menschen, das ist juristisch betrachtet eine Störung der öffentlichen Ordnung, so heißt das leider, diese Störung zu beseitigen. Und das hat sie zu tun durch die Bereitstellung von Unterkunftsplätzen. Und die Kommunen, einige Kommunen, auch Berlin, stellen für die Gruppe der Zuwanderer aus der Europäischen Union diese Unterkünfte nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung. Ich sage klar: Das ist rechtswidrig."
    Dennoch sei das in Berlin gängige Praxis, betont Robert Veltmann vom Sozialträger Gebewo, der diese und drei weitere Unterkünfte in Berlin betreibt. Einige Bezirke würden sich darauf berufen, dass laut Gesetz nur Menschen untergebracht werden müssten, die nicht freiwillig obdachlos seien.
    "Wir wissen, dass es gelegentlich so interpretiert wird, dass jeder, der nicht freiwillig in sein Herkunftsland zurückkehrt, ist ja nicht unfreiwillig, sondern freiwillig obdachlos, weil er ja nicht das tut, was er tun könnte, um seine Obdachlosigkeit zu beseitigen."
    Hier würde sich der Staat seiner Fürsorgepflicht entziehen, kritisieren soziale Träger - zumal das Recht auf Wohnen auch ein Menschenrecht sei. Über 30.000 Personen sind in Berlin auf Grundlage des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes, kurz ASOG, in Heimen oder Pensionen untergebracht - geschätzt über 3.000 sind obdachlos.
    Auch die "Teupe" ist voll belegt. In einem der Häuser wohnen 150 hauptsächlich alleinstehende Männer und ein paar Frauen mit deutschem Pass, in einem anderen Haus sind es Familien mit Kindern, fast alle Osteuropäer. Selbst wenn die Bezirksämter die Menschen herschickten, weigerten sich oft die Jobcenter, dafür zu bezahlen, erzählt Heimleiter Marcel Deck:
    "Verkehrte Welt, weil eigentlich ein Anspruch, der da sein sollte, Unterbringung nach ASOG, muss eigentlich von unserer Seite dann wieder eingeklagt werden mit den Bewohnern zusammen. Da krankt es dann schon im System an der Stelle."
    "Unser Sozialstaat muss besser werden, fairer werden"
    Genau wie beim Thema Kinderarmut zeigt sich bei der Bekämpfung der Obdachlosigkeit: Mit dem gleichen Geld könnte der Sozialstaat mehr erreichen, würden Strukturen reformiert und bürokratische Hemmnisse beseitigt. So wären soziale Träger wie die "Gebewo" bereit, ihr Angebot auszuweiten und mehr Wohnungslose zu betreuen, sie finden aber keine geeigneten Häuser. Trotz drohender Obdachlosigkeit sei es aber nicht erlaubt, diese Menschen etwa in umgebauten Gewerbeobjekten unterzubringen, erläutert Sozialmanager Robert Veltmann.
    Der Generalsekretär der FDP Nordrhein-Westfalen, Johannes Vogel, spricht in der Landespressekonferenz Nordrhein-Westfalen.
    "Der Sozialsstaat macht den Menschen unnötig das Leben schwer": Johannes Vogel, FDP (pa/dpa/Balk)
    "Da gibt es einfach das deutsche Baurecht, das sagt, dass im Gewerbegebiet Menschen nicht wohnen dürfen, für Flüchtlinge wurden Ausnahmen geschaffen. Wohnungslose Menschen darf man in den gleichen Gebäuden nicht unterbringen."
    Dieses Beispiel bestärkt den FDP-Sozialpolitiker Johannes Vogel in seiner Haltung, demzufolge Deutschland nicht etwa zu wenig Geld im sozialen Bereich ausgebe. Die Lücken im Netz entstünden, weil das Geld nicht zielgerichtet eingesetzt werde, so Vogel.
    "Unser Sozialstaat muss besser werden, fairer werden. Er ist oft bürokratisch, er macht den Menschen unnötig das Leben schwer, er macht es zu schwer rauszukommen aus der Abhängigkeit, Stichwort Aufstiegschancen bei Langzeitarbeitslosen, da müssen wir etwas tun."
    Parallel zum Bürokratieabbau fordern Linke und Sozialverbände, generell die staatlichen Sozialleistungen zu erhöhen. Der Staat habe dafür zu sorgen, dass jeder in Deutschland ein Leben in Menschenwürde führen könne, sagt Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband.
    "Wenn wir jetzt fragen, 'Was tut der Staat tatsächlich, was gewährt er?', dann müssen wir sagen, er kommt dieser Verpflichtung ganz objektiv nicht nach. Weil die Leistungen definitiv zu gering bemessen sind, um die Grundbedürfnisse abzudecken."
    Die Schlangen an den Essensausgaben der Tafeln werden mit Sicherheit nicht kürzer, prophezeit Schneider, sie blieben für viele Menschen mit wenig Geld attraktiv. Sei es, um damit ein Grundbedürfnis zu befriedigen oder um dadurch Geld zu sparen und sich so einen Kinobesuch leisten zu können.