Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Sozialstaat oder Marktwirtschaft

Die von der Wirtschaft und der überwiegenden Mehrheit der Ökonomen als Auflösung des Reformstaus gefeierte Agenda 2010 ist zweifellos der tiefste gesellschaftspolitische Einschnitt, den die Bundesrepublik seit ihrem Bestehen erlebt hat. Wenn die Mehrzahl der Politiker seither nicht müde wird, sie einer verunsicherten Öffentlichkeit als notwendigen Beitrag zur Aufrechterhaltung und nachhaltigen Stabilisierung des Sozialstaats zu verkaufen, dann ist das allenfalls die halbe Wahrheit, auf jeden Fall aber irreführend.

Von Joachim Weiner | 01.05.2007
    Wenn heute in den gebildeten und gut situierten Kreisen unserer Gesellschaft die politische und wirtschaftliche Lage der Nation zur Debatte steht, dann dauert es in der Regel nicht lange, bis das Lamento über den ausufernden und nicht mehr bezahlbaren Sozial- oder Wohlfahrtsstaat anhebt und man sich gegenseitig mit Vorschlägen zum Sozialleistungsabbau überbietet.

    Kritik am Sozialstaat gilt in der gehobenen Mittelschicht derweil als Modernitätsausweis. Sie signalisiert, dass man sich politisch auf der Höhe der Zeit und im Einklang mit den marktradikalen Positionen befindet, die übereinstimmend den Sozialstaat als zentralen Verursacher der Wachstumsschwäche der Wirtschaft und der Finanzkrise des Staates identifizieren.

    Dass er weder für die weltwirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre noch für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich ist, wird dabei geflissentlich ausgeblendet. Ebenso die Versäumnisse der Politik und der Wirtschaft, denen zu einem großen Teil die Finanzprobleme geschuldet sind, die heute allenthalben dem Sozialstaat angelastet werden, obwohl die Sozialleistungsquote seit nahezu drei Jahrzehnten konstant bei rund 30 Prozent liegt.

    Dass er gleichwohl im Bewusstsein der Öffentlichkeit als nicht mehr finanzierbare Wohlstandsbremse zirkuliert, geht nicht zuletzt auf das Konto der Medien, die in den letzen Jahren zunehmend dazu übergegangen sind, ihn als kostspieligen Selbstbedienungsladen zu denunzieren.

    Aufmacher wie "Die üblen Tricks der Hartz IV-Schmarotzer ... . und wir müssen zahlen" oder "Das Spiel mit den Armen. Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt" haben seit geraumer Zeit nicht nur im deutschen Blätterwald von Spiegel bis Bild Konjunktur. Auch in der ausgedehnten Talkshow-Landschaft wird derweil mit schöner Regelmäßigkeit über Themen wie "Melkkuh Sozialstaat - sind wir ein Volk von Abzockern?" diskutiert. Selbst hochrangige Politiker und renommierte Ökonomen schrecken in Fernsehdebatten kaum noch davor zurück, die arbeitsmarkt- und vereinigungsbedingten Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme der vermeintlichen "Abzockermentalität" der Transferempfänger anzulasten, um ihre meist den unteren Rand der Gesellschaft betreffenden Streichungsempfehlungen zu legitimieren.

    Der bescheidene Erkenntnisertrag der medial angeheizten Missbrauchsdebatte steht in keinem Verhältnis zu dem gesellschaftspolitischen Schaden, den sie anrichtet. Sie verstellt den Blick auf die tatsächlichen Ursachen der Krise unserer sozialen Sicherungssysteme und verhindert so eine sachorientierte und kritische Auseinandersetzung mit den als alternativlos hingestellten Umbaukonzepten von Politik und Wirtschaft.

    Darüber hinaus leistet sie auch der Diskreditierung des Solidargemeinschaftsprinzips Vorschub, auf dem unser Sozialstaat basiert. Dadurch trägt sie erheblich zur Verschlechterung des sozialen Klimas bei und zur Polarisierung der ohnehin schon verhärteten Fronten in der Auseinandersetzung über seine künftige Ausgestaltung.

    Die Zeiten, in denen sich unser nach dem II. Weltkrieg aufgebauter Sozialstaat eines breiten gesellschaftlichen Konsenses erfreuen durfte, sind allerdings schon lange vorbei. Im Zuge der bereits in den 60er Jahren einsetzenden und durch die mikroelektronische und digitale Revolution beschleunigten Transformation der Bundesrepublik von einer produktionsorientierten Industrie- zu einer wissensbasierten Informations- und Dienstleistungsgesellschaft ist er immer stärker unter Druck und in Misskredit geraten.

    Bereits im Gefolge der Rezession, die die erste Ölpreiskrise in den 70er Jahren der wachstumsverwöhnten deutschen Wirtschaft beschert hat, mutierte er von einem glanzvollen Ausweis für die Systemüberlegenheit der sozialen Marktwirtschaft zu einem allseits kritisierten Problemfall. Die Wirtschaft, weite Teile der Politik und der Medien sowie eine wachsende Zahl von Ökonomen begannen schon damals, ihn als ein nicht mehr finanzierbares, überbürokratisiertes und uneffizientes Instrument der sozialen Umverteilung zu diskreditieren und ihm die sinkenden Wachstumsraten der Wirtschaft anzulasten.

    Die zuwachsverwöhnten Sozialverbände und Wohlfahrtseinrichtungen hingegen monierten beharrlich seinen stagnierenden Ausbau und beklagten sich lautstark über seine unzureichende finanzielle Ausstattung und restriktive Umverteilungspolitik. Die radikalste Kritik erfuhr er in den 70er Jahren von einer vergleichsweise kleinen Gruppe marktradikaler Ökonomen aus dem Umfeld der "Chicago School of Economics". Deren angebotsorientierte, vom Marktliberalismus des österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek inspirierte Wirtschaftstheorie gewann mit dem Niedergang des Keynsianismus einen starken, bis heute anhaltenden politischen Einfluss auf die weltwirtschaftliche Entwicklung.

    Ihr bekanntester Vertreter ist der Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman, dessen Ansichten über die segensreichen Wirkungen einer weitgehend deregulierten Marktwirtschaft seit den 80er Jahren auch hierzulande verstärkt Eingang in die Sozialstaatsdebatte gefunden haben. Anders als die neoliberalen Konstrukteure der sozialen Marktwirtschaft, für die ein starker Staat ein notwendiges Korrektiv des freien Marktes darstellte, glaubte Friedman bedingungslos an die Selbstheilungskräfte des Marktes, die sich aus seiner Sicht nur im Rahmen eines schlanken, sich jedes Eingriffs in den Markt enthaltenden Staates zum Wohle aller entfalten können.

    Die interventionistische Praxis des keynsianischen Wohlfahrtsstaats geißelte er daher als uneffektiv, wettbewerbsverzerrend, demotivierend und wachstumshemmend. Die Chicagoer Variante der neoliberalen Sozialstaatskritik ist ein vehementes Plädoyer für einen radikalen Abbau der sozialstaatlichen Sicherungssysteme und Leistungsangebote, zugunsten eigenverantwortlicher, privater Vorsorge.

    Bis zu den 80er Jahren hielt sich hierzulande der neoliberale Einfluss auf die Sozialpolitik allerdings mehr oder weniger in Grenzen. Dafür sorgte schon das relative Kräftegleichgewicht zwischen den Gegnern und Befürwortern eines starken Sozialstaats. Die ideologische Frontlinie zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf der einen und der Wirtschaft, den Konservativen und den Liberalen auf der anderen Seite verhinderte, dass gravierende Einschnitte in das bestehende soziale Netz stattfanden und der Verteilungskampf um die sinkenden Zuwächse eskalierte. Der dadurch gewahrte soziale Friede täuschte aber darüber hinweg, dass die Fundamente des auf eine prosperierende Industriegesellschaft zugeschnittenen Sozialstaats seit den 60er Jahren zunehmend erodierten.

    Die fortschreitende Individualisierung und der durch die digitale Revolution eingeleitete Strukturwandel im Bereich der Informations- und Produktionstechnologie bewirkten eine schleichende Veränderung des ökonomischen und sozialen Gefüges der Industriegesellschaft, die sich auch auf die sozialen Sicherungssysteme auswirkte. Sie gerieten in eine finanzielle Dauerkrise und büßten zunehmend ihre Integrations- und Leistungsfähigkeit ein.

    Statt dem gesellschaftlichen Wandel durch eine nachhaltige Strukturreform des Sozialstaats Rechnung zu tragen, begnügte man sich bis zu den 90er Jahren damit, an den Stellschrauben der einzelnen Sicherungssysteme zu drehen und auf einen neuerlichen Wirtschaftsaufschwung zu hoffen. Den durch die wachsende Arbeitslosigkeit bedingten Anstieg des Sozialhaushalts versuchte man vergeblich, durch Kürzungen und Streichungen zahlreicher Sozialleistungen einzudämmen. Auch die unter Begriffen wie Schlanker Staat und Lean-Management von der Kohl-Regierung eingeleitete Einführung eines markt- und kundenorientierten Steuerungsmodells in der Verwaltung, die den Wechsel von einer nachfrage- zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik markierte, brachte schon wegen der Wiedervereinigung keine spürbare Entlastung des Sozialhaushalts.

    Erst als Ende der 90er Jahre die sozialen Sicherungssysteme in Folge der Finanzierung der Wiedervereinigung aus den Rücklagen der Sozialversicherung und des fortlaufenden Anstiegs der Arbeitslosigkeit zu kollabieren drohten, sah sich die Politik gezwungen, einen grundlegenden Umbau des Sozialstaats in Angriff zu nehmen. Mit der Agenda 2010 legte die Rot-Grüne Bundesregierung dann 2003 ein überhastet aus den Versatzstücken der neoliberalen Markttheorie zusammen gebasteltes Konzept zur Reform des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme vor, von dem sie sich einen wirksamen Beitrag zur Sanierung der maroden Staatsfinanzen und einen Wirtschaftsaufschwung erhoffte.

    Das Reformpaket, dessen Herzstück die Hartz-Reform bildet, zielte darauf ab, ein weiteres Anwachsen des Sozialhaushalts zu verhindern und die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt durch eine Senkung der Steuer- und Abgabenlast zu stärken. Für eine spürbare Entlastung des Sozialhaushaltes sollte neben der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe, den Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitssystem und der Absenkung des Rentenniveaus vor allem der Abbau der Arbeitslosigkeit durch eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes sorgen.

    Damit folgte die Bundesrepublik dem Beispiel der Mehrheit ihrer europäischen Nachbarn, die - wie England, Dänemark oder Schweden - schon in den 80er und 90er Jahren vergleichbare Konzepte entwickelt hatten, um ihr wohlfahrtsstaatliches Arrangement an die veränderten Bedingungen des globalen Weltmarktes anzupassen.

    Die von der Wirtschaft und der überwiegenden Mehrheit der Ökonomen als Auflösung des Reformstaus gefeierte Agenda 2010 ist zweifellos der tiefste gesellschaftspolitische Einschnitt, den die Bundesrepublik seit ihrem Bestehen erlebt hat. Wenn die Mehrzahl der Politiker seither nicht müde wird, sie einer verunsicherten Öffentlichkeit als notwendigen Beitrag zur Aufrechterhaltung und nachhaltigen Stabilisierung des Sozialstaats zu verkaufen, dann ist das allenfalls die halbe Wahrheit, auf jeden Fall aber irreführend.

    Dabei wird nämlich unterschlagen, dass mit ihr in Wirklichkeit ein riskanter Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik vollzogen worden ist, der den endgültigen Abschied vom bisherigen industriegesellschaftlichen Sozialstaatsarrangement bedeutet. Markiert doch die Agenda 2010 den mit der Verwaltungsreform bereits eingeleiteten Übergang von einem versorgenden zu einem aktivierenden Sozialstaat, der eine tief greifende Veränderung unserer Gesellschaft in wesentlichen Bereichen bedeutet und das Verhältnis von Bürger und Staat auf eine neue Basis stellt.

    Insofern ist der für den laufenden Umbau des Sozialstaats in Anspruch genommene Begriff der Reform, der landläufig die Optimierung eines in seiner Substanz fortbestehenden Systems meint, zumindest fragwürdig. Was derzeit hierzulande abläuft, ist weniger eine Re-formierung als eine Neu-formierung des Sozialstaats, von der bislang noch nicht feststeht, ob für deren Endergebnis der Begriff des Sozialstaats in seiner bisherigen Bedeutung noch in Anspruch genommen werden kann.

    Dazu müsste er für die postmoderne individualistische Konsumgesellschaft annährend die gleiche Inklusionsleistung erbringen, wie der versorgende Sozialstaat in seinen besten Zeiten für die organisierte Industriegesellschaft. Ob der aktivierende Sozialstaat allerdings in der Lage ist, die Lebensrisiken und sozialen Folgewirkungen der kapitalistischen Marktökonomie innerhalb derselben politisch erfolgreich zu bearbeiten, darf nach den ersten Erfahrungen bezweifelt werden.

    Um das Wohlergehen aller Mitglieder der Gesellschaft in grundlegenden Belangen zu gewährleisten, muss er durch die Bereitstellung geeigneter und gut funktionierender sozialer Einrichtungen dafür Sorge tragen, dass die sozialen Rechte des Einzelnen nicht nur formal gewahrt bleiben, sondern dass jedes Mitglied der Gesellschaft an allen Sozialsystemen beteiligt ist, dass es seine Rechte auch wahrnehmen kann. Deren formale gesetzliche Absicherung allein ist kein hinreichender Schutz vor Ausschluss.

    So verhindern etwa unzureichende ökonomische Ressourcen und daraus resultierende prekäre Familienverhältnisse in der Regel eine erfolgreiche Teilhabe am Bildungsprozess, ohne die keine hinreichende Integration in den Arbeitsmarkt stattfindet, die ihrerseits die Vorrausetzung ist für die Beteiligung an anderen gesellschaftlichen Bereichen. Es ist die unersetzliche Funktion des Sozialstaats in der modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, solchen Exklusionsketten vorzubeugen und zu gewährleisten, dass alle Bürger zur Teilhabe an der herrschenden Lebensweise tatsächlich befähigt werden.

    Der in den letzten Jahrzehnten von den Sozialwissenschaften registrierte Legitimationsverlust des versorgenden Sozialstaats ist vor allem darauf zurückzuführen, dass er aufgrund seines industriegesellschaftlichen Designs seit den 70er Jahren immer weniger in der Lage war, diese Funktion zu erfüllen.

    Nach dem Krieg aufgebaut, um die negativen strukturellen Folgen der Marktwirtschaft durch Ausbau von Schutzrechten der Arbeitnehmer und der Gewährung von Rechtsansprüchen auf materielle Leistungen zur Sicherung sozialer Risiken abzufedern, war sein zentrales sozialpolitisches Ziel die Freiheit von materieller Not. Diese versuchte er durch universalisierte und standardisierte Transferleistungen zu gewährleisten, für die keine entsprechende Gegenleistung zu erbringen war. Dabei orientierte er sich am Modell der traditionellen Hausfrauenehe mit einem männlichen Alleinverdiener und seiner von der Erwerbsarbeit freigestellten, für die unbezahlte Hausarbeit und die Betreuung der Kinder zuständigen Ehefrau.

    Auf diese patriarchale Familienkonstruktion waren der größte Teil der Sozialleistungen, die Steuerpolitik, das Gesundheitssystem und die Altersversorgung zugeschnitten. Frauen waren überwiegend auf nicht durch eigene Arbeit erworbene, sondern über die Familie, sprich: den männlichen Alleinernährer, vermittelte Versorgungsansprüche angewiesen.

    Auch Arbeitsrecht, Tarifgesetzgebung und Arbeitsschutz waren auf den Typ des männlichen Industriearbeiters zugeschnitten. Das diesem sozialstaatlichen Arrangement zugrunde liegende Steuerungsmodell war das des planenden Staates, der die Gesellschaft durch aktive Politik steuert und gestaltet.

    Als Mitte der 70er Jahre deutlich wurde, dass sich die durch die Ölpreiskrise ausgelöste Rezession nicht mehr mit dem Instrumentarium einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik überwinden ließ, geriet der patriarchale Sozialstaat der Industriegesellschaft in eine gravierende Steuerungskrise. Diese weitete sich in den folgenden Jahren vor allem unter dem Druck der Frauenbewegung, des fortschreitenden Abbaus der industriellen Arbeitplätze und der Individualisierung der Lebens- und Arbeitsformen zu einer handfesten Legitimationskrise aus, die sich seither kontinuierlich verschärft hat.

    Seine durch zahllose unkoordinierte und halbherzige Korrekturen unübersichtlich gewordene bürokratische Struktur und sein standardisiertes Leistungsangebot sind heute kaum noch geeignet, die sozialen Risiken des postindustriellen Lebens- und Arbeitszusammenhanges hinreichend abzufedern. Zudem haben zahlreiche sozialwissenschaftliche Untersuchungen in den letzten Jahre den Nachweis erbracht, dass die bestehenden Sozialprogramme und Leistungsangebote ihr Ziel zum Teil verfehlen, weil sie bei einem Teil der Transferempfänger Motiv- und Verhaltensänderungen bewirken, die den Intentionen des Sozialstaats zuwider laufen. So etwa, wenn die Gewährung von Lohnersatzleistungen beim Verlust der Arbeit dazu führt, dass deren Empfänger ihr Leben darauf einstellen, anstatt sich um eine neue Beschäftigung zu bemühen.

    Die durch den kulturellen Wandel und die globalisierungsbedingten Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt immer deutlicher zu Tage tretenden strukturellen Defizite des versorgenden Sozialstaates ließen das Vertrauen der Bevölkerung in seine Leistungsfähigkeit seit den 80er Jahren kontinuierlich absinken. Insbesondere der starke Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge bei gleichzeitiger Einschränkung der Leistungskataloge in den einzelnen Sozialsystemen hat dazu geführt, dass er heute vor allem jüngeren Leuten mit guter Ausbildung und einem festen Arbeitplatz nicht mehr verteidigungswürdig erscheint. Manche von ihnen scheinen ihn nur für ein beliebig manipulierbares Appendix der modernen Marktgesellschaft zu halten, auf das zur Not verzichtet werden kann.

    Es verwundert daher nicht, dass der Ende der 90er Jahre von der Rot-Grünen Bundesregierung eingeleitete Paradigmenwechsel vom versorgenden zum aktivierenden Sozialstaat von weiten Teilen der Bevölkerung vergleichsweise gelassen hingenommen worden ist und die Proteste der Gewerkschaften und Sozialverbände kaum Wirkungen zeigten. Vor allem die in den Zukunftsbranchen beschäftigten Teile des Mittelstandes waren durchaus angetan von dem, was damals in vielen Grundsatzpapieren als dritter Weg zwischen dem alten sozialdemokratischen und dem von neoliberalen Hardlinern angestrebten minimalistischen Sozialstaat propagiert wurde.

    Aus ihrer Sicht war die im Konzept des aktivierenden Sozialstaats vorgenommene Neubestimmung des Verhältnisses des Staates zu seinen Bürgern, insbesondere zu denen, die in der Vergangenheit ohne entsprechende Gegenleistungen in den Genuss finanzieller Transfers zum Lebensunterhalt gekommen waren, ebenso überfällig wie der darin vorgesehene Rückzug des Staates auf seine Kernaufgaben. Sie hatten daher keine großen Vorbehalte gegen das neue, mehr auf Leistungs- als auf Verteilungsgerechtigkeit setzende sozialstaatliche Arrangement, das der damalige Kanzleramtsminister Bodo Hombach 1999 in einem Beitrag für die Zeitschrift "Soziale Sicherheit" wie folgt skizziert hat:

    "Der Staat muss nicht nur die negativen Auswirkungen eines Subsystems (Wirtschaft, Gesellschaft, Politik) auf das andere ausgleichen, bzw. regulativ verhindern, sondern gewährleisten, dass Subsysteme optimal aufeinander bezogen sind. Beispielsweise muss das Sozialsystem so konzipiert sein, das es die Wiederaufnahme von Erwerbsarbeit und die Eigeninitiative optimal vorbereitet und unterstützt. Eine neue Balance zwischen individuellen Rechten und Pflichten, die Forderung der verwaltende, Rechtsetzende und Daseinsvorsorge betreibende Staat müsse seinen Bürgern wieder mehr zutrauen und zumuten - das alles bedeutet nicht den kaltschnäuzigen Rückzug des Staates aus der Verantwortung. Im Gegenteil: Es geht um ein neues Steuerungsmodell, das sehr vielmehr Kreativität braucht, Innovationsbereitschaft und den langen Atem vorausschauender, aktivierender Politik."

    Was Hombach hier beschreibt, ist der Wechsel von einem Leistungs- zu einem Gewährleistungsstaat, der sich vom integrativ-egalitären Anspruch des alten Sozialstaates gelöst hat und mit seiner Sozialpolitik vorwiegend arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Ziele verfolgt. Sein zentrales sozialpolitisches Ziel ist nicht mehr die Vermeidung von Armut oder die halbwegs gerechte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sondern die Integration aller arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft in den Arbeitsmarkt.

    Für die jetzt unter das Motto "Fördern und Fordern" gestellte arbeits-marktorientierte Sozialpolitik sind Sozialleistungen in erster Linie Investitionen in die Bewahrung, Herstellung und Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit der Bürger. Wer aus welchen Gründen auch immer aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert wird oder gar nicht erst hineinkommt, hat zwar nach wie vor einen Rechtsanspruch auf finanzielle Transferleistungen, nur dass ihre Gewährung nicht mehr ohne Gegenleistung erfolgt. Sie ist jetzt an die Bedingung geknüpft, sich mit allen Kräften um Arbeit zu bemühen, die eigene Beschäftigungsfähigkeit durch Fort- und Weiterbildung aufrecht zu erhalten oder herzustellen und jede angebotene Beschäftigung anzunehmen.

    Wer sich seiner zur staatsbürgerlichen Pflicht erhobenen Arbeitsaufnahme aus einem für den Staat nicht akzeptablen Grund verweigert, muss mit einer stufenweise erfolgenden Kürzung der staatlichen Zuwendungen und bei dauerhafter Arbeitsverweigerung mit ihrem gänzlichen Wegfall rechnen. Diese Einschränkungen und Sanktionen erfüllen eine doppelte Funktion. Zum einen sollen sie den Sozialstaat vor jeder ungerechtfertigten Inanspruchnahme seines Leistungsangebots schützen und zur Verbesserung seiner Kostenstruktur beitragen. Zum anderen zielen sie darauf ab, die Transferempfänger zu mehr Eigenverantwortung anzuhalten und ihre Motivation zu einer möglichst raschen Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu fördern.

    Die Pflicht, die der aktivierende Sozialstaat seinen Bürgern gegenüber hat, beschränkt sich im Wesentlichen darauf, sie bei der Erhaltung oder Wiederherstellung ihrer Beschäftigungsfähigkeit und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt so weit wie möglich zu unterstützen. Um diese Aufgabe halbwegs erfolgreich zu erfüllen, muss er für alle, die eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt aus eigner Kraft nicht schaffen, ein qualitativ hochwertiges und einzelfallorientiertes Förder-, Beratungs-, und Fortbildungsangebot vorhalten und sie bei der Arbeitssuche durch eine umfangreiche Vermittlungstätigkeit unterstützen.

    Ferner ist er dazu angehalten, eine ganze Reihe infrastruktureller, auf die modernen Arbeitsstrukturen zugeschnittener Dienstleistungen zu erbringen; angefangen bei einem flächendeckenden Ganztagsschulangebot und einem garantierten Kindergartenplatz bis hin zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum und einem bedarfsgerechten Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel. Schließlich tragen auch sie nicht unerheblich zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit bei.

    Vor allem aber müsste ein Sozialstaat, der seine Bürger zur Erhaltung ihrer Beschäftigungsfähigkeit nötigt, bei einer konsequenten Umsetzung seiner Ziele faktisch ein Recht auf Arbeit durch staatliche Beschäftigungsangebote gewähren. Angesichts einer mindestens bis zur Mitte des nächsten Jahrzehnts zu erwartenden Sockelarbeitslosigkeit von 3 Millionen Menschen und einer weiteren Abschmelzung des Sozialhaushaltes ist daran allerdings kaum zu denken.

    In dieser Hinsicht bleibt er nach wie vor auf den guten Willen der Wirtschaft angewiesen, die in den neuen Pakt zwischen Bürger und Staat nur noch schwach eingebunden ist und den staatlichen Arbeitszwang schon seit längerem dazu nutzt, die Kosten für weniger anspruchsvolle Arbeit zu senken. Von ihr hat der Sozialstaat in Zukunft ohnehin kaum noch etwas zu erwarten, außer dass sie ihn, weiter für ihren Rendite orientierten Arbeitsplatzabbau in Anspruch nimmt.

    Dass der Sozialstaat von arbeitslosen Transferempfängern eine im Rahmen ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten liegende Gegenleistung einfordert, ist in Ordnung. Auch dass er auf offensichtlichen Sozialmissbrauch mit angemessenen Sanktionen reagiert. Problematisch wird die Sache erst, wenn er Arbeitslose in so genannte Ein-Euro-Jobs für unqualifizierte Tätigkeiten rekrutiert und das als Qualifizierungsmaßnahme verkauft; oder aber wenn er Arbeitslose getreu dem Motto " Du hast keine Chance, aber nutze sie" zur Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen nötigt, von denen alle Beteiligten wissen, dass sie nichts bringen.

    Eher schon makaber ist es, Arbeitslosengeld II-Empfängern, deren Mietwohnung die zugebilligte Quadratmeterzahl überschreitet, die Nutzung eines Raumes ihrer Wohnung zu untersagen und das amtlich zu kontrollieren. Geradezu perfide aber ist es, bei dem zu geringen Arbeitsangebot in der Öffentlichkeit systematisch den Eindruck zu erwecken, dass die überwiegende Mehrheit der Arbeitslosen nur deshalb keine Beschäftigung hat, weil es ihr an Qualifikationen und an Eigenverantwortung mangelt.

    Weitaus bedenklicher als der zum Teil schikanöse und diffamierende Umgang mit den Arbeitslosen ist das zutiefst fragwürdige Menschenbild, auf das die aktivierende Sozialpolitik rekurriert. Ihr Leitbild ist der bildungsorientierte, innovative, flexible, mit einem unternehmerischen Selbst ausgestattete Arbeitskraftunternehmer, der unablässig darum bemüht ist, sein Beschäftigungsprofil den ständig wachsenden und sich verändernden Anforderungen des Marktes anzupassen.

    Diesen Typus verkörpern die der gehobenen Mittelschicht angehörenden postmodernen Symbolproduzenten, für die der amerikanische Ökonom Richard Florida den Begriff der "Kreativen Klasse" geprägt hat. Zu ihr zählen vor allem die hoch qualifizierten Dienstleister der relevanten Berufsgruppen in den Bereichen Informationstechnologie, Medien, Kunst, Design, Wissenschaft und Management, die mit der eigenständigen und kreativen Produktion innovativer symbolischer Güter befasst sind und als die neuen Eliten der Informations- und Wissensgesellschaft gehandelt werden.

    Von ihnen ist das neue sozialpolitische Leitbild abgeleitet, dem die Aktivierungspraxis des aktivierenden Sozialstaates mit ihrem vormodernen Erziehungsanspruch verpflichtet ist. Dahinter steckt die betriebswirtschaftliche Überlegung, die Ressourcen des Sozialstaats vorrangig für solche Bürger zu verwenden, die bereit sind, ihr Leben und ihre Einstellung zur Arbeit an diesem Leitbild auszurichten. Wer diese Einschätzung des aktivierenden Sozialstaats für abseitig und völlig unbegründet hält, sei auf einen im November 2003 in der "ZEIT" erschienenen Artikel unseres Finanzministers Peer Steinbrück über das neue Sozialstaatsarrangement verwiesen, in dem es am Ende unmissverständlich heißt:

    "Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für diejenigen zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die - und nur um sie - muss sich Politik kümmern."

    Es ist Steinbrück hoch anzurechnen, dass er in einer ansonsten zutiefst verlogenen Sozialstaatsdebatte an dieser Stelle das Visier aufgeklappt und das Selbstverständnis des aktivierenden Sozialstaates offen dargelegt hat. Dieser möchte keine soziale Reparaturwerkstatt mehr sein, sondern begreift sich in erster Linie als Investitionsstaat, der vorrangig in das investiert, was die individuellen Beschäftigungs- und Leistungsfähigkeit befördert.

    Im investiven Sozialstaat spielt Verteilungsgerechtigkeit daher nur noch eine nachgeordnete Rolle. Auch Chancengleichheit hat offensichtlich als regulative Idee ausgedient, wenn man an das schon widersinnig anmutende Festhalten an einem hochselektiven Bildungssystem denkt.

    Der investive Sozialstaat konzentriert sich auf die Hilfe zur Selbsthilfe für diejenigen, die sich seiner Arbeitsideologie und seinem Wohlverhaltenskatalog fügen und zur Steigerung des Bruttosozialprodukts beitragen. Sein zentrales Interesse besteht nicht darin, sich vor allem um die zu kümmern, die am dringendsten seiner Hilfe und Unterstützung bedürfen, sondern zu ermitteln, welche Sozialinvestitionen die höchste Rendite für den Markt und ihn selbst abwerfen.

    Da seine Ressourcen begrenzt sind und Zuwächse nicht mehr zu Lasten der Wirtschaft generiert werden sollen, ist er bestrebt, seine Fördermittel so weit wie möglich für produktive gesellschaftliche Gruppen zu verwenden und die anderen nur noch mit dem allernötigsten zu versorgen. Das trifft vor allem Alte, Kranke, Langzeitarbeitslose, gering Qualifizierte mit erheblichen Bildungsdefiziten und alle die, die schwerwiegende soziale Defizite aufweisen. Bei diesen Gruppen wird mit großem Personaleinsatz nach jedem unrechtmäßig erworbenen Cent und jeder noch so geringen Einsparmöglichkeit auf der Ebene der Sozialtransfers und der personellen Betreuung gefahndet. Und das, obwohl eine personelle Aufstockung der Steuerfahndung ein Vielfaches von dem generieren würde, was sich bei den sozial Schwachen abzwacken lässt.

    Der aktivierende, von Verteilungsgerechtigkeit auf Leistungsgerechtigkeit umgestellte Sozialstaat, der sich seit der Agenda 2010 hierzulande abzeichnet, ist auf dem besten Weg zur Karikatur eines Sozialstaats zu werden, weil er den Ausschluss von gesellschaftlichen Gruppen am unteren Rand der Gesellschaft, die er eigentlich verhindern soll, zunehmend selbst betreibt. Sein rein betriebswirtschaftlich orientiertes Steuerungsmodell erweist sich zunehmend als eines zur systematischen Aussteuerung des unteren Drittels der Gesellschaft aus dem Zuständigkeitsbereich der staatlichen Sozialsysteme. Sie werden zunehmend in die Obhut der heute so viel beschworenen Bürgergesellschaft und ihrer mildtätigen Einrichtungen abgedrängt oder ganz einfach sich selbst überlassen. Als nächste wäre dann die untere Mittelschicht an der Reihe, die bereits heute stark abstiegsgefährdet ist.

    Bevor die laufenden Sozialstaatsreform vollends auf die falsch gestellte Alternative Marktgesellschaft oder Sozialstaat hinausläuft, sollte man den eingeschlagenen Weg verlassen und mit dem zweifellos notwendigen Umbau unseres Sozialstaates noch einmal neu beginnen. Diesmal aber nicht mit einer Diskussion über die kostengünstigste Variante, sondern mit einer darüber, wie unter den Bedingungen der globalen Wirtschaft ein Sozialstaat aussehen muss, der seine für den Zusammenhalt der Gesellschaft unverzichtbare Inklusionsfunktion erfüllt.

    Falls man unterdessen vergessen hat, was damit gemeint ist, sollte man zum Auftakt den politisch Verantwortlichen einen Abschnitt aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973 an die Hand geben, in dem es unmissverständlich heißt:

    "Von der Gemeinschaft aus betrachtet, verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Für- und Vorsorge für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit, oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind."