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Sozialverband VdK
Verfassungsbeschwerde für menschenwürdige Pflege

Mit dem demografischen Wandel steigt die Zahl der Pflegebedürftigen. Immer mehr Menschen brauchen Hilfe beim Aufstehen, Anziehen und Einkaufen. Die Politik wirkt überfordert, Pfleger stehen vor dem Burn Out. Jetzt will der Sozialverband VdK vor dem Bundesverfassungsgericht für eine bessere Pflegepolitik kämpfen.

Von Svenja Pelzel | 07.11.2014
    Ein Mann begleitet am 07.05.2014 einen älteren Herren in einem Rollstuhl um den Malchower See in Berlin.
    Die Pflegebedürftigkeit soll in Zukunft nicht mehr nach Minuten bemessen werden. So soll die Betreuung alter und kranker Menschen individueller und damit besser werden. (picture alliance / dpa / Christoph Schmidt)
    "Die Menschlichkeit einer Gesellschaft muss sich gerade darin zeigen, wie wir mit Pflegebedürftigen umgehen. Ich freue mich, dass diese Bundesregierung sich einen wirklichen Kraftakt zur Verbesserung der Situation von Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und von Pflegekräften auf die Agenda gesetzt hat."
    Solche Sätze sollen zeigen, dass es Gesundheitsminister Hermann Gröhe mit der Pflegereform sehr ernst ist. Wie alle, die sich mit dem Thema Pflege beschäftigen, weiß auch der CDU-Minister – obwohl erst seit knapp einem Jahr im Amt -, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Die Situation von Pflegebedürftigen, von Pflegenden und Angehörigen muss in Deutschland grundlegend verbessert werden. Das ist Konsens.
    Allerdings erscheinen die dafür notwendigen Korrekturen extrem schwierig und weniger konsensfähig zu sein. Seit die Pflegeversicherung vor 20 Jahren eingeführt wurde, haben zahlreiche Minister Reformen versprochen und versucht – an den Problemen geändert haben sie nichts: Es herrscht weiter Pflegekräftemangel, das vorhandene Personal ist oft am Rande eines Burnouts, viele Angehörige sind überfordert, die Pflegebedürftigen oft nur satt und sauber – und manchmal noch nicht einmal das.
    Aus diesem Grund reichen sieben Betroffene mit Unterstützung des Sozialverbands VdK nun Verfassungsbeschwerde für eine menschenwürdige Pflege ein. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe soll prüfen, ob der Staat bislang seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen verletzt. Auf der Grundlage einer Arbeit seiner Doktorandin Susanne Moritz hat Alexander Graser für den Sozialverband die Beschwerde ausgearbeitet. Er ist Professor für Verfassungsrecht an der Universität Regensburg:
    "Wichtig ist dabei - natürlich jetzt mit Bezug auf die Debatten, die wir über das Vorhaben in den letzten Wochen hatten -, klarzustellen, dass natürlich nicht behauptet wird, dass jeder in einem Pflegeheim befindliche Mensch misshandelt wird und auch ganz bestimmt nicht, dass jedes Pflegeheim unzureichende Pflege leistet. Es geht um Einzelfälle, aber in unseren Augen um sehr viel mehr als bloß einzelne Einzelfälle. Es sind viele Fälle und Fälle in einem Umfang, die durchaus eben den Begriff des Pflegenotstands rechtfertigen, jedenfalls aber Anlass sind, ein stärkeres gesetzgeberisches Eingreifen zu fordern."
    Anhand von Musterklagen will der Verband – ähnlich wie bei der Harz-IV-Gesetzgebung oder dem Abtreibungsparagraphen – ein Grundsatzurteil herbeiführen. Karlsruhe soll klären, welches die Mindeststandards für eine menschenwürdige Pflege sind. Die juristische Begründung ist etwas kompliziert. Normalerweise darf Karlsruhe nur dann angerufen werden, wenn der Weg durch die gerichtlichen Instanzen voll ausgeschöpft ist. Das ist in diesem Fall faktisch unmöglich.
    "Ein Faktor ist, dass die übliche Verweildauer in Pflegeheimen relativ kurz ist. Zugespitzt: Die wenigsten würden das Ende eines normalen Verfahrens noch erleben, einfach weil man relativ kurze Zeit im Durchschnitt im Pflegeheim lebt. Zweiter Aspekt ist, dass die Menschen im Pflegeheim meistens in einem Zustand sind, in dem sie häufig gar nicht in der Lage sind, ein solches Verfahren zu betreiben."
    Gröhes Pflegereform passierte jüngst den Bundesrat
    Aus diesem Grund ist Graser zuversichtlich, dass die Karlsruher Richter die Verfassungsbeschwerde zulassen. Ob und wann dies geschieht, ist offen. Auch die neuesten Reformpläne aus dem Bundesgesundheitsministerium ändern am Ärger des VdK nichts. Gröhes Reform passierte heute den Bundesrat.
    Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) spricht am 04.07.2014 in Berlin vor dem Bundestag.
    Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) spricht am 04.07.2014 in Berlin vor dem Bundestag. (picture-alliance / dpa / Soeren Stache)
    "Alles, was an Verbesserung kommt, ist uns sehr willkommen. Ob die Verbesserungen ausreichen werden? Ich bin im Moment skeptisch, auch mit Blick auf die letzten – man kann fast sagen – Jahrzehnte an Pflegereformen, die wir gesehen haben. Häufig sieht man da sehr hohe Ansprüche und Erwartungen, was die Reform angeht. Und wir haben leider noch wenig wirklich tiefgreifende Veränderungen erlebt. Das ist ja nun der Anlass unserer Bemühungen hier in dem Fall."
    Das Pflegestärkungsgesetz, wie es von Minister Gröhe genannt wird, besteht aus zwei Schritten. Schritt eins greift ab dem 1. Januar 2015 und ist leicht umzusetzen. Der Beitragssatz der Pflegeversicherung wird um 0,3 Prozent erhöht, auf dann 2,35 Prozent bzw. 2,6 Prozent für Kinderlose. Dies führt zu Mehreinnahmen von etwa 3,6 Milliarden Euro. Die eine Hälfte davon fließt in einen sogenannten Pflegefonds, mit dem ein Beitragsanstieg in Zukunft abgemildert werden soll. Mit der anderen Hälfte werden professionell Pflegende, Angehörige und Bedürftige besser unterstützt.
    So soll zum Beispiel in der professionellen Pflege in den Heimen bereits ab Januar die Zahl der Betreuungskräfte von jetzt 25.000 auf 45.000 aufgestockt werden. Betreuer gehen mit den Heimbewohnern spazieren, lesen vor, spielen oder basteln. Je mehr Betreuer auf einer Station arbeiten, desto mehr Zeit bleibt für die pflegebedürftigen Senioren. Von dieser Reform profitieren Arbeitskräfte und Bewohner also gleichermaßen. Zudem soll ein Teil der aufwendigen Dokumentationspflichten entfallen.
    Am meisten ändert die Gröhe-Reform für die pflegenden Angehörigen. Mit dem Gesetz "zur besseren Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf" - das allerdings erst noch verabschiedet werden muss - wollen Gröhe und seine Kabinettskollegin Manuela Schwesig von der SPD zum 1. Januar eine neue, zehntägige Familienpflegezeit einführen. Arbeitnehmer können sich zehn Tage freinehmen und bekommen dafür Lohnersatzleistungen, das so genannte "Pflegeunterstützungsgeld". Außerdem werden die Zuschüsse zum Wohnungsumbau auf 4.000 Euro erhöht, pro Monat sind ferner 104,- Euro für Haushaltshilfen und Sachleistungen wie zum Bespiel Gehhilfen eingeplant. Braucht ein pflegender Angehöriger eine kurze Auszeit, so kann er zudem unkompliziert einen vorübergehenden Kurzzeitpflegeplatz beantragen.
    Schritt zwei der Reform ist wesentlich ambitionierter und deshalb auch umstritten und schwieriger umzusetzen. 2017 wird die Pflegeversicherung noch einmal um 0,2 Prozent angehoben. Die damit verbundenen Einnahmen will Minister Gröhe verwenden, um den Begriff der Pflegebedürftigkeit neu zu definieren. Statt drei Pflegestufen soll es künftig fünf so genannte Bedarfsgrade geben. Welcher Mensch was noch kann oder nicht mehr kann, wie viel Hilfe er dabei benötigt und wie lange er diese Hilfe braucht, sind zentrale Streitpunkte beim Thema Pflege.
    Bereits 2013 hat ein Expertenbeirat seine Empfehlungen zur konkreten Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes vorgelegt. Derzeit unterzieht Gesundheitsminister Gröhe diese neue Definition einem Praxistest. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen begutachtet 4.000 pflegebedürftige Menschen zuhause und in Heimen doppelt - nämlich nach altem und neuem Bedürftigkeitsbegriff. Gröhe lässt einen Teil dieser Daten anschließend von der Uni Bremen auswerten.
    Genauere Beurteilung der Bedürftigkeit soll für bessere Pflege sorgen
    "Mit der wissenschaftlichen Auswertung rechne ich am Ende des Jahres, sodass wir im ersten Quartal 2015 auf der Grundlage der Arbeit dieser Erprobungsphase die Gesetzgebung vorantreiben können. Unser Ziel ist es, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff umfassend in dieser Legislaturperiode umzusetzen. Deswegen zügige Gesetzgebung. Denn dann folgt eine Phase der Implementierung in die Pflegeeinrichtungen und deswegen: Ja, wir geben da richtig Gas."
    Einer dieser Gutachter ist Sebastian Keller.
    "Ah, da ist er. Hallo, - Guten Tag, - Hallo, Tag, Guten Tag, Keller ist mein Name."
    Sebastian Keller wird von Rudi Rühr bereits erwartet und freundlich im engen Flur der kleinen Etagenwohnung in Berlin-Mitte begrüßt. Der 78-Jährige geleitet den Gutachter ins Wohnzimmer, wo seine Frau Rita zusammengesunken auf dem Sofa sitzt. Keller packt seinen Laptop aus, er tippt sofort ein, was der alte Mann ihm erzählt. Keller war bereits vor ein paar Monaten bei dem Ehepaar, seitdem haben sich der Gesundheits- und vor allem der geistige Zustand von Frau Rühr rapide verschlechtert.
    FSJ-ler Paata Zhgenti malt gemeinsam mit Helmut Paus im Alexianer Krankenhaus Münster.
    FSJ-ler Paata Zhgenti malt gemeinsam mit Helmut Paus im Alexianer Krankenhaus Münster. (Deutschlandradio / Sarah Zerback)
    "Innerhalb von drei Tagen ist es so schlecht geworden. Anfang der Woche waren wir noch einkaufen, und dann war das innerhalb von drei Wochen war dann ganz aus. Dann hat sie gesagt, ich kann das einfach nicht mehr, ich weiß das nicht mehr oder wenn ich mal irgendwas sage, sie merkt das ja, ist ja nicht, dass sie es nicht merkt. Vorhin liefen die Tränen, weil sie dastand und weiß nicht, was sie anziehen sollte, Also, habe ich ihr das rausgesucht und habe sie angezogen, ja. Ich bin schon schusselig, aber sie hat mich jetzt weit überholt."
    Sebastian Keller kommt mit dem Tippen kaum nach, so schnell erzählt Rudi Rühr. Zwischendurch stellt der Gutachter immer wieder Fragen, auch sehr persönliche und intime. "Das muss sein", erklärt der Mann vom Medizinischen Dienst, schließlich habe er pro Patient nur eine Stunde Zeit, um sich ein umfassendes Bild zu machen.
    "Wir kommen um das Thema nicht drum herum, Thema Toilettengänge, Wasserlassen, Stuhlgang. Gibt es da Schwierigkeiten müssen sie zum Beispiel nachts raus? – Am Tage geht es halbwegs. Ich geh zwar immer nach, hinterher gucken. Spülen vergisst sie grundsätzlich jetzt. Und nachts da steh ich meistens mit auf, weil sie dann wackelig ist, ja. Toi, toi noch ist sie nicht umgefallen."
    Rudi Rühr ist am Ende seiner Kraft. Das merkt man ihm an. Auch Rita Rühr ist erschöpft, fängt zwischendurch immer wieder an zu weinen. Die beiden Senioren hoffen, dass Sebastian Keller für die Ehefrau eine Pflegestufe festlegt, damit beide schnell Hilfe erhalten, zum Beispiel durch eine Tagespflegeeinrichtung.
    Vor allem für Menschen wie Rita Rühr, die körperlich noch einigermaßen fit, aber eindeutig demenzkrank sind, soll der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff Verbesserungen bringen. Familie Rühr ist der erste Fall, den Sebastian Keller an diesem Tag für die Studie des Gesundheitsministeriums doppelt begutachtet.
    "Wie am Telefon schon angekündigt wird gerade eine Studie durchgeführt, wo diese Begutachtungssystematik umgestellt werden soll. Mit der normalen Begutachtung hat das jetzt nichts zu tun, damit sind wir jetzt abgeschlossen. Diese Fragen dienen eben dieser Studie, wo das vorbereitet wird. Tun Sie mal die Hände hoch, so wie im Westernfilm..."
    Sebastian Keller bittet Rita Rühr darum, ihre Arme zu heben, die Finger einzeln zusammenzubringen und mit der Hand ihre Füße zu berühren. Er will sehen, was die alte Frau motorisch noch kann.
    "Es ist ein neuer Ansatz, weg von den Defiziten, hin zu dem Blick auf die Selbstständigkeit. Ich verspreche mir davon einen etwas ganzheitlicheren Blick auf den Menschen. Einfach dass es weggeht von dem relativ strikten Blick auf Waschen, Anziehen, Toilettengänge hin zu: Was ist erforderlich, wo sind die Hilfen nötig, um dem Menschen wieder zu einer größeren Selbstständigkeit zu verhelfen, zu mehr Teilhabe auch im öffentlichen Leben? Und das ist etwas, wo ich schon denke, dass es da durchaus neue Ansätze geben kann in der neuen Begutachtung."
    Nach dem alten Einstufungssystem sollte Sebastian Keller nur feststellen, ob jemand stehen, gehen, aus dem Bett aufstehen, Treppen steigen, die Wohnung verlassen und sich alleine an- und ausziehen kann. Im neuen Verfahren gibt es dafür Abstufungen. Beispiel Treppensteigen: Keller muss notieren, ob der Pflegebedürftige eine Treppe problemlos, mit großer Mühe oder gar nicht mehr steigen kann, ob er eine Gehhilfe oder sogar die Hilfe einer anderen Person benötigt. Auch spielen viel mehr Faktoren als bislang eine Rolle. Braucht der Patient Hilfe, um seine Medikamente einzunehmen, kann er Sozialkontakte selbstständig pflegen, schafft er es alleine zum Arzt?
    "Gibt es ansonsten Auffälligkeiten im Alltag, zum Beispiel, dass viel an Schränke gegangen wird, da sortiert wird, geguckt wird? – Da wird sortiert und umgeschichtet auch im Krankenhaus, die haben gesagt, sie ist andauernd an ihren Schrank rangegangen und da Ordnung geschafft. – Also, im Krankenhaus war jetzt ja auch eine unbekannte Situation, wie ist das hier in der Häuslichkeit, wie oft tritt das auf? - Jeden Tag, irgendwas räumt sie um. Vor allen Dingen hat sie dann so viele Häufchen, und dann weiß sie nicht weiter."
    Nach einer Stunde klappt Sebastian Keller seinen Laptop zu, verabschiedet sich von Familie Rühr.
    "Schönen Dank, auf Wiedersehen."
    Fünf Fälle begutachtet Keller in der Regel am Tag. Deutschlandweit hat der MDK, der Medizinische Dienst der Krankenkassen, für den Keller arbeitet, im vergangenen Jahr knapp 1,3 Millionen Pflegegutachten erstellt. Diese Zahl ist imposant und wird in Zukunft noch weiter steigen. Im Moment gibt es in Deutschland 2,5 Millionen Menschen mit Pflegebedarf. In den nächsten 15 Jahren werden es nach Schätzungen eine Million Personen mehr sein, viele davon demenzkrank. Martina Stahlberg ist beim MDK Berlin Fachreferentin für Pflegebegutachtungen. Sie findet es gut, dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff durch ihre Mitarbeiter einen Praxistest erlebt.
    "Für uns war einfach wichtig, auch Zeit zu berücksichtigen, wo einfach ein Gespräch notwendig ist, wo an mehr die Schmerzen berücksichtigen kann, wo man also weg von diesen Minuten. Wir haben ja Zeitorientierungswerte in der Begutachtungsrichtlinie, wir müssen begründen, wenn wir von diesen Orientierungswerten abweichen, das ist ja alles möglich, aber wer steht schon immer mit einer Stoppuhr da und kann genau sagen, wie lange habe ich denn jetzt gebraucht, um die Haare zu waschen und die Zähne zu putzen? Und das fällt weg und das ist, denke ich, schon mal ganz gut."
    Finanzierungslücke bei Gröhes Pflegevorhaben
    Vor allem eines freut Martina Stahlberg an den Plänen von Gesundheitsminister Gröhe besonders:
    "Jeder schimpft jetzt immer über die Pflegeminuten, die wir angeben in unseren Gutachten. Nachher gibt es in unseren Gutachten keine Pflegezeiten mehr. Dann gibt es einfach die Grade und weg von den Minuten. Deswegen ist es ganz schwer, zu sagen, der braucht eine Stunde oder der braucht zwei Stunden. Wir sagen dann nichts mehr über Zeiten, sondern nur noch: Was kann er, und was kann er nicht mehr."
    Wenn ein Mensch etwas nicht mehr kann, braucht er Hilfe. Das ist klar. Wie lange diese Hilfe dauern darf, ist allerdings wieder so ein Dauerstreitpunkt beim Thema Pflege. Aus diesem Grund wird die Studie zum Pflegebedürftigkeitsbegriff auch bundesweit in 40 Pflegeeinrichtungen durchgeführt. Hier soll detailliert erforscht werden, wie viel Zeit für welche Hilfe tatsächlich benötigt wird. Die Unterschiede sind von Fall zu Fall enorm. So kann beispielsweise ein dementer Mensch eine Tasse motorisch leicht bewegen, die Pfleger müssen ihm aber tagtäglich aufs Neue erklären, was man mit einer Tasse überhaupt macht. Das kostet viel Zeit.
    Bewohnerin eines Altenpflegeheims
    Bewohnerin eines Altenpflegeheims (picture alliance / dpa)
    Die Stimmung auf dem Flur des Diakonie-Seniorenheimes Bethanien in Berlin Steglitz ist ausgesprochen freundlich und entspannt. Alles hier ist hell, sauber, gemütlich und farbenfroh eingerichtet. Ein paar Bewohner laufen langsam im Flur auf und ab, irgendwo staubsaugt jemand, eine alte Dame plaudert fröhlich mit sich selbst. 70 Prozent aller Senioren werden zuhause gepflegt, die meisten von ihren Angehörigen. Knapp 750.000 Männer und Frauen leben derzeit in Pflegeheimen wie dem Haus Bethanien. Burkhardt Bachnick ist für das Pflegemanagement im Bethanien zuständig. Seit 17 Jahren arbeitet er hier, zehn sind es noch bis zur Pensionierung.
    "Also, ich glaube nicht, dass ich die Pflegereform in meiner berufstätigen Zeit noch erleben werde. Ich hab schon sehr viel in den vergangenen Jahren erlebt, als die Pflegepersonalbemessung in den Krankenhäusern eingeführt wurde, die dann in kurzer Zeit durch ein anderes System ersetzt wurde, weil es nicht finanzierbar war. Und so wird es letztendlich auch hier sein. Es ist am Ende nicht klar, wie es finanziert werden soll. Die Gesellschaft hat auch gar keine Lust, das zu finanzieren."
    Bachnick hat in seinem eigenen Haus bereits die Konsequenz gezogen und geändert, was im Rahmen der bestehenden Gesetze nur eben möglich war. Seine Pflegekräfte arbeiten in der Tagschicht maximal sechs Stunden. Dadurch fühlt sich niemand überfordert, die Ausfallzeiten sind geringer, Mitarbeiter kündigen nur selten. Die Bewohner werden erst um 8 Uhr morgens geweckt, bleiben abends länger auf und sind ausgeglichener. Für die eigene Demenz-Abteilung hat Bachnick mit den Kostenträgern einen höheren Personalschlüssel vereinbart.
    Schritt eins der Gröhe-Reform, mit der mehr Geld in das bestehende System fließt, ist für Bachnick nur ein "kleiner Tropfen", wie er sagt. Der zweite, viel wichtigere Schritt, mit dem der Pflegebedürftigkeitsbegriff verändert werden soll, wird seiner Befürchtung nach nie kommen. Die doppelte Begutachtung ist für den Pflegemanager wichtig, aber letztendlich überflüssig.
    "Ich denke, das gab's in der Vergangenheit schon häufig. Es gibt genügend Erhebungen europaweit, die dazu dienen, solche Pflegebedürftigkeit und den Aufwand zu ermitteln. Da braucht man nur in die Nachbarländer gehen. Holland ist nicht so weit, Dänemark ist nicht so weit. Es gibt Länder, in denen jetzt schon Dinge umgesetzt werden, die dort möglich sind. Also, von daher, die Zeit kann man, glaube ich, für andere Dinge verwenden."
    Dass der Sozialverband VdK Deutschland in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde für eine menschenwürdige Pflege einlegt, verfolgt Burkhardt Bachnick deshalb gespannt.
    "Das halte ich für sehr sinnvoll, dass letztendlich auch mal dem einzelnen Bürger, den Bewohnern, den Angehörigen auch klar gemacht wird, was ist Mindeststandard in der Pflege, was müssen wir leisten? Um das zu vergleichen, dann was letztendlich geleistet wird. Weil man auch manchmal denkt, die Bevölkerung denkt, das ist hier alles all-inklusive. Und dann kann man darüber nachdenken, wenn ihr mehr wollt, wenn mehr Leistung gefordert wird, was kostet das?"
    Burkhardt Bachnick ist sich sicher, dass es letztendlich am Geld fehlen wird. Auch Kritiker der Gröhe Reform aus den Reihen des Koalitionspartners SPD, der Krankenkassen und der Wissenschaft rechnen schon jetzt mit einer Unterfinanzierung des neuen Systems von einer Milliarde Euro. Sie fordern deshalb, den geplanten Vorsorgefonds aufzugeben und dessen Finanzvolumen stattdessen direkt in die Pflege zu investieren.