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Soziologie
Ängste und Sorgen der Mittelschicht

Rational betrachtet ging es den Deutschen noch nie so gut wie zur Zeit. Doch die Ängste und Sorgen, in Armut und Altersarmut abzurutschen, sind groß. In den vergangenen Wochen beschäftigten sich gleich zwei soziologische Tagungen mit der Spaltung in der Gesellschaft und der Gefühlslage der Deutschen.

Von Ingeborg Breuer | 12.04.2018
    Ein Mann sucht in Berlin in einem Papierkorb nach Pfandflaschen oder Pfanddosen.
    Viele Deutsche befürchten sinkenden Wohlstand im Alter (picture alliance / Wolfram Steinberg)
    "In den Sozialwissenschaften generell gibt es ein Problem. Die Beobachter sind selber Teil dessen, was sie beobachten und das führt dazu, dass eigene Wertvorstellungen, z.B. Kritik einer gegebenen Gesellschaftsordnung auch die eigenen Analysen beeinflussen können."
    "Häufig in den Sozialwissenschaften sieht man, dass Kolleginnen und Kollegen steile Thesen vertreten und äußerst selektiv Daten präsentieren, die ihre Thesen untermauern."
    "Wir vermuten, dass diese Gesellschaftsdiagnosen in ein bisschen zu düsteren Farben gemalt sind und wollen jetzt mal versuchen, mit den Mitteln der Umfrageforschung zu gucken, wie viel Ängste haben die Deutschen, wie viel Sorgen haben sie?"
    "Immerschlimmerismus" nannte der Zukunftsforscher Matthias Horx den in den Medien wie auch in den Wissenschaften vorzufindenden Trend, den Zustand der Gesellschaft in finsteren Farben auszumalen. Ein Trend, den so manche Soziologen auch für ihr eigenes Fach auszumachen glauben. Bücher prominenter Sozialforscher mit Titeln wie "Die Abstiegsgesellschaft" von Oliver Nachtwey, "Die Gesellschaft der Angst" von Heinz Bude oder "Das metrische Wir" von Steffen Mau zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die geprägt ist von Abstiegs- und Verarmungsängsten, genötigt zum Optimierungswahn, fremdgesteuert durch Algorithmen. Und dies alles als Ergebnis einer von neoliberaler Kälte gezeichneten Zeit.
    Selektive, anekdotische Berichte
    "Es wird häufig sehr schnell auf die üblichen Verdächtigen rekurriert, die Globalisierung, der Kapitalismus, die neoliberale Deregulierung, das sind etwas undifferenzierte Großtheorien aus unserer Sicht", so Katrin Auspurg, Professorin für Soziologie an der Uni München.
    "Es wird zumindest Anspruch und Aufgabe, die Thesen in einem nächsten Schritt auch mit Daten zu belegen und zu stützen. Also häufig findet man nur selektive anekdotische Berichte über Einzelfälle, das ist dann doch keine solide Wissenschaft."
    Gleich zwei soziologische Tagungen machten sich in den vergangenen Wochen zur Aufgabe, die "Großtheorien" soziologischer Bestsellerliteratur einer kritischen empirischen Prüfung zu unterziehen. "Zwischen Abstiegsangst und Zufriedenheitshoch – Was wissen wir über die Gefühlslage der Deutschen?" fragte eine Tagung im März an der Uni Duisburg. Und "Wachsende Ungleichheit – gespaltene Gesellschaft?" war das Thema der neu gegründeten "Akademie für Soziologie", die vergangene Woche in München zur Konferenz geladen hatte. Beide Veranstalter fühlen sich jener Soziologie verpflichtet, die die pessimistische Kulturkritik einiger Kollegen durch die Anwendung kontrollierter empirischer Methoden verifizieren oder falsifizieren will. Dr. Christiane Lübke, Soziologin an der Uni Duisburg:
    "Es gibt einmal Fallurteile, an denen man sich orientieren kann. Und dann auch Umfragedaten, die es erlauben, repräsentative Aussagen zu machen, um ein Bild für die gesamte Gesellschaft zu zeichnen. D.h. was in einzelnen Fallbeispielen sich sehr sorgenvoll und angstvoll zeigt, muss nicht für die gesamte Gesellschaft zutreffen."
    Deutschland steht relativ moderat da
    Zunächst aber einmal besteht Einhelligkeit unter den Soziologen darüber, dass die Ungleichheit – übrigens nicht nur in der deutschen Gesellschaft – zunimmt.
    "Es gibt global gesehen einen weltweiten Anstieg der ökonomischen Ungleichheit Es gibt auch ne Phase, in der die Ungleichheiten ein Stück zurückgehen oder insgesamt stagnieren. Aber es gibt kaum globale systematische Ausnahmen von diesem Trend", so Prof. Olaf Groh-Samberg auf der Münchener Tagung. In Bezug auf Deutschland konkretisierte der Bremer Soziologe:
    "Deutschland steht innerhalb der OECD, was das Niveau der Ungleichheit betrifft noch relativ moderat da. Aber es gibt auch diesen sehr starken Anstieg zwischen 99 und 2005 und der ist auch im internationalen Vergleich relativ rasant. Also dass die Ungleichheit in einem Land in einem kurzem Zeitraum so stark gestiegen ist, das ist international ungewöhnlich. Das heißt die obersten Einkommen bewegen sich immer weiter weg vom Mittelwert, aber auch die untersten Einkommensgruppen bewegen sich immer weiter weg von der Mitte. Wir haben eine Spreizung über die ganze Verteilung."
    Prof. Josef Brüderl, Soziologe an der Uni München und Mitveranstalter der Tagung konkretisierte die Gründe für diese Spreizung:
    "Einer der Gründe ist die Entwicklung der Löhne, Stichwort Globalisierung. Damit steigen die Löhne an der Spitze, Stichwort Managergehälter. Andererseits wurde Anfang der Nuller Jahre der Niedriglohnsektor eingeführt, um die damals hohe Arbeitslosenzahl zu reduzieren. Viele Arbeitslose haben dann auch Jobs im Niedriglohnsektor bekommen, … das führt natürlich zu Spreizung der Löhne und damit zum Anstieg der Ungleichheit. Und der weitere Faktor war die Senkung der Spitzensteuersätze. Die Regierung Schröder / Fischer hat die Spitzensteuersätze von 53 Prozent auf 42 beziehungsweise 45 Prozent gesenkt. Es wird seitdem weniger umverteilt und damit steigt die Ungleichheit."

    Seit 2005, so Olaf Groh-Samberg, sei allerdings der Anstieg der Ungleichheit weitgehend gestoppt. Und sogar dort, wo die Löhne lange stagnierten, sei mittlerweile eine leichte Bewegung nach oben zu verzeichnen.
    "Am aktuellen Rand sehen wir, dass die Brutto-Stundenlöhne in den unteren Lohngruppen tatsächlich Zugewinnen verzeichnet, das kann ein Mindestlohneffekt sein."
    Der untere Teil der Einkommensverteilung
    Doch trotz stagnierender Ungleichheit und einer blendenden Konjunktur nimmt die relative Armut – also die Anzahl jener, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens verdienen - in Deutschland nicht ab. Im Gegenteil, sie steigt immer noch leicht. Dr. Mara Boehle, Soziologin an der Uni Mainz hat diesen Sachverhalt genauer untersucht.
    "Da sprechen wir auch immer über den unteren Teil der Einkommensverteilung, der hat zugenommen seit den70er- Jahren und erreicht aktuell einen Stand von 14 Prozent, was der höchste Stand seit 40 Jahren ist. Und da fragt man sich schon, wie denn angesichts der guten wirtschaftlichen Lage und niedriger Arbeitslosigkeit so ein hoher Prozentsatz zustande kommt."
    Mara Boehle, deren eigene Armutsstudie im Herbst erscheinen wird, untersuchte vor allem jene Gruppen, die besonders armutsgefährdet sind, Alleinerziehende nämlich sowie Mehrkind- als auch migrantische Familien. Und es seien vor allem zwei Gründe, die zu dem Armutsanstieg in Haushalten mit Kindern geführt hätten.
    "Meine Ergebnisse zu den Ursachen sind, dass eben innerhalb des Familiensektors Haushaltstypen anteilig zugenommen haben, die mit einem hohen Armutsrisiko konnotiert sind. Also Alleinerziehende sind mehr geworden und dass im Familiensektor die traditionellen Erwerbsmuster, die heute armutskonnotiert sind, Hausfrauenehe, Zuverdienermodelle seit den 70er-Jahren stabil geblieben sind, während in den Nichtfamilien die wohlverdienenden Doppelverdienerkonstellationen angestiegen sind."
    Also: Einerseits ist die Zahl der – oft schlecht verdienenden Alleinerziehenden angestiegen. Zudem ist der Anteil der Erwerbstätigen in Familienhaushalten besonders in Westdeutschland von 1976 bis 2009 nahezu gleich geblieben. Andererseits aber stieg die Erwerbsbeteiligung bei Kinderlosen im gleichen Zeitraum stark an. Heißt: Die Zahl überdurchschnittlich einkommensstarker kinderloser Paarhaushalte nimmt zu. Und diese Zunahme verschiebt das gesellschaftliche Durchschnittseinkommen nach oben, was statistisch zum Anstieg der Zahl armer Familien beiträgt.
    "Das heißt es ist ein wichtiger Aspekt, dass die Erwerbsbeteiligung in Familien stagniert, während sie in den Nichtfamilien angestiegen ist. Und wenn Sie das relative Einkommensmaß nehmen ist logisch, dass sie auch statistisch ärmer werden."
    Der "Gini-Koeffizient"
    Die Maßeinheit für die Gleichheit oder Ungleichheit einer Gesellschaft ist der sogenannte "Gini-Koeffizient". Dabei ist 0 der Wert, der eine völlig gleichmäßige Verteilung von Einkommen bezeichnet, während dagegen 1 der Wert für maximale Ungleichverteilung ist. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,3 liegt die Bundesrepublik in der Einkommensungleichheit knapp unter dem EU-Durchschnitt. Dagegen ist die Vermögensungleichheit in fast keinem anderen Land der Euro-Zone so hoch wie in Deutschland, wie Dr. Philipp Lersch von der Uni Köln ausführte.
    "Für die Eurozone gibt es einen vergleichenden Datensatz und da kann man relativ gut sehen, dass Deutschland, was die Vermögensungleichheit angeht, an der Spitze ist. Nach den neuesten Daten ist Deutschland da auf Platz zwei, was die Vermögensungleichheit angeht. Und die Vermögensungleichheit ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten angestiegen. Seit 2002 sehen wir aber keinen deutlichen Anstieg mehr."
    Allerdings, so monieren Kritiker, sind die Anwartschaften auf Renten und Pensionen – die ja auch eine Art von Vermögen für die Zukunft darstellen – in dieser Statistik nicht mit eingerechnet.
    "Tatsächlich ist es so, dass das durchschnittliche Vermögen in Deutschland im europäischen Vergleich relativ niedrig ist. Eine Erklärung ist, dass die Deutschen relativ wenig Wohneigentum besitzen, im Vergleich zu den mediterranen Ländern. Gleichzeitig gibt es aber in Deutschland höhere Pensionsvermögen, die das wieder angleichen. Wenn man die Pensionsvermögen mit rein rechnet, dann sinkt die Vermögensungleichheit in Deutschland auch, und tatsächlich, im internationalen Vergleich ist es wichtig, das mit zu berücksichtigen. Aber es ist oft schwierig, das in den Daten mit einzubeziehen."
    Gepaart sind die Diskurse um gewachsene soziale Ungleichheiten oft auch mit der Vorstellung von einer schrumpfenden, von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht. "Die erschöpfte Mitte", "Die Angst vor dem Abstieg", "Die Mitte bröckelt", "die vergessene Mitte", so nur einige aktuelle Schlagzeilen zum Thema. Josef Brüderl, Soziologe an der Uni München:
    "Also wenn man die Leute fragt, dann kommt raus, dass in Deutschland die meisten Leute denken, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland in der Unterschicht angesiedelt ist. Wenn man Daten zu Hilfe nimmt, dann haben wir eher eine Mittelstandsgesellschaft, eine Zwiebelform. Und wo sie sich selbst verorten - dann ordnet sich die meisten in der oberen Mitte ein was dann im Endeffekt wieder überzeichnet ist. So gut geht’s auch nicht."
    Eine alarmierende Botschaft
    In der Tat schrumpfte die Mittelschicht bis Mitte der 2000er-Jahre um circa 5 Prozent - wanderte sowohl nach oben als auch nach unten ab. Seit Jahren ist sie nun wieder weitgehend stabil. Holger Lengfeld, Professor für Soziologie an der Uni Leipzig hat in einer Langzeitstudie die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg untersucht.
    "Die ersten Studien die ab Mitte der 2000der-Jahre veröffentlicht wurden, hatten eine alarmierende Botschaft, und die hieß, die Abstiegsangst hat in Deutschland erheblich zugenommen und zwar in der Mittelschicht. Wenn man sich über einen längeren Zeitraum die Entwicklung anschaut, dann sieht man sehr klar, damals als die Debatte begann, war die Sorge der deutschen Bevölkerung vor dem Abstieg auf dem Höhepunkt."
    Seither allerdings, so Holger Lengfeld, seien die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz sowie die Abstiegsangst der Deutschen deutlich zurückgegangen.
    "Die positive Arbeitsmarktentwicklung ist eine entscheidende Größe dabei. Wir haben nach den eigenen Analysen heute einen Anteil an Menschen, die sich vor Abstieg sorgen, der ist so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr."
    Jan Delhey, Veranstalter der Duisburger Tagung über Abstiegsängste beschäftigt sich in seinen Forschungen mit den Statusängsten der Deutschen. Der Magdeburger Professor für Soziologie kommt zu dem Schluss, je größer die soziale Ungleichheit und die Konkurrenzorientierung einer Gesellschaft sei, desto größer sei auch die Angst, in der gesellschaftlichen Hierarchie abzusteigen.
    "Ungleichheit hat einen Effekt auf das Wohlbefinden der Menschen. Gerade die Europäer, die leben lieber in einer Gesellschaft, in der die sozialen Unterschiede nicht so ausgeprägt sind. Allerdings ist das auch so, dass das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft einen Effekt hat, eigentlich einen viel größeren als das Ungleichheitsniveau. Wir finden immer wieder, dass die Menschen in wohlhabenderen Gesellschaften glücklicher sind als in weniger wohlhabenden Ländern."
    Zufriedenheit mit dem eigenen Leben
    Doch obwohl auch in Deutschland die soziale Ungleichheit zugenommen hat, bewegen sich die Statusängste der Deutschen, so Jan Delheys Untersuchungen, auf einem niedrigen Niveau.
    "Diese stabile Wirtschaftslage in Deutschland trägt einen Gutteil zur Beruhigung bei, wir sehen in Deutschland relativ wenig auf die eigene Lage bezogene Ängste und Sorgen, einzelne Bevölkerungsgruppen einmal ausgenommen. Das sieht aber in andern Ländern anders aus."
    Und passend dazu hätten die Deutschen auch an Lebenszufriedenheit gewonnen, die der Soziologe als einen Dreiklang aus "Haben, Lieben und Sein" definiert:
    "Wenn man jetzt einen längeren Vergleich mal anstellen möchte, sind die Westdeutschen heute genauso zufrieden wie sie es in den 1980er-Jahren waren, dazwischen gab es eine Delle. Und für die Ostdeutschen kann man sagen, dass die Zufriedenheit mit dem eignen Leben heute so ausgeprägt ist wie noch nie seit der Wiedervereinigung."
    Fazit? Die finsteren Analysen einer vom "Immerschlimmerismus" getragenen Wissenschaft lassen sich empirisch nicht belegen. Olaf Groh-Samberg weist sogar darauf hin, dass sich empirisch nicht einmal wirklich entscheiden lässt, ob Gesellschaften mit größeren Ungleichheiten negative Auswirkungen auf die Gesundheit, die sozialen Beziehungen oder die demokratische Partizipationsbereitschaft haben. Es bleibt eine Frage der Werte. Aber wenn zwei Drittel der Bevölkerung finden, dass die Ungleichheit in Deutschland zu hoch ist, ist das ja eigentlich Grund genug, Anstrengungen zu unternehmen, diese abzubauen.
    "Ich fände es natürlich gut, wenn wir über solche empirischen Forschungen darüber Klarheit gewännen, sagen zu können, ab nem gewissen Maß an Ungleichheit wirkt das negativ auf die Gesellschaft zurück, dann hätten wir ne klare Bewertungslage. Ich glaube aber, dass wir nicht aus der Situation herauskommen, dass wir letztendlich ne normative Bewertung von Ungleichheit vornehmen müssen. Es ist letztlich die Frage, wie wollen wir leben, in welcher Gesellschaft wollen wir leben. Die Wissenschaft hilft uns an manchen Punkten weiter, aber die Entscheidung wie viel Ungleichheit wollen wir, wird immer eine normative, demokratisch zu entscheidende Frage bleiben."