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Soziologie als Störenfried

Die modernen Sozialwissenschaften ohne Pierre Bourdieu - unvorstellbar! Der Ruhm des Pariser Soziologen wächst und wächst, auch acht Jahre nach seinem Tod. Kaum ein Denker wird so oft zitiert wie der Postbotensohn aus dem französischen Südwesten.

Von Günter Kaindlstorfer | 02.08.2010
    "Mon Dieu – Bourdieu!" Dieser Stoßseufzer ist zu Lebzeiten des berühmten Soziologen wohl so manch einem Bourdieu-Kritiker entfahren. Zeitweise hatte man das Gefühl, der Autor der "Feinen Unterschiede" und anderer soziologischer Klassiker agiere als umtriebige Ich-AG in Sachen angewandte Gesellschaftskritik. Vor allem in den 90er-Jahren schien der Pariser Meistersoziologe omnipräsent: Bourdieu spricht vor streikenden Bahnarbeitern und gründet eine Zeitung, Bourdieu unterstützt die französische Arbeitslosenbewegung und stellt die Theorie des sozialen Felds auf neue Beine, Bourdieu engagiert sich für "Attac" und kämpft gegen die Regierungsbeteiligung Jörg Haiders in Österreich. Phasenweise schien der Mann tatsächlich auf zwei Dutzend Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Im Interview mit dem französischen Rundfunk hat Bourdieu sein Selbstverständnis als Soziologe einmal so beschrieben:

    "Ich glaube, die Soziologie ist ein Störenfried. Damit ruft sie mitunter Gegenreaktionen auf den Plan, das ist manchmal ein bisschen anstrengend. Allerdings haben besonders die politischen Attacken gegen die Soziologie die Eigenschaft, widersprüchlich zu sein. Die Argumente widersprechen sich. Alles in allem würde ich sagen, die Soziologie ist nicht immer leicht zu leben."
    Der in Linz lehrende Philosoph Gerhard Fröhlich hat soeben – zusammen mit dem Soziologen Boike Rehbein - ein opulentes "Bourdieu-Handbuch" herausgegeben. Fröhlich lernte Bourdieu in den 90er-Jahren als temperamentvolles, permanent in Hektik scheinendes Nervenbündel kennen.:

    "Mein Eindruck von Bourdieu war immer das Hypernervöse. Man merkte ja auch: Er zwinkerte mit den Augen, die ganze Körpersprache war äußerst nervös. Er wirkte schon immer sehr wie ein Getriebener."
    Wie organisieren sich Herrschaft und Macht in unserer scheinbar so aufgeklärten, scheinbar so demokratischen Gesellschaft? Welche verdeckten Mechanismen sorgen dafür, dass die Oberen oben und die Unteren unten bleiben in den entwickelten kapitalistischen Ökonomien? Das waren einige der zentralen Fragen, die Bourdieu bewegt haben. Im Bourdieu-Handbuch des Metzler-Verlags kann man das alles im Detail nachlesen. Der Band eignet sich als Einführung in Leben und Werk Bourdieus ebenso wie als weiterführende Lektüre für Spezialisten: Die Autorinnen und Autoren des Handbuchs – 50 an der Zahl – zeichnen Bourdieus Biografie nach, sie skizzieren die entscheidenden Einflüsse, denen Bourdieu ausgesetzt war – von Durkheim, Sartre und Levi-Strauss bis hin zu Heidegger, Marx und Wittgenstein -, sie erläutern die zentralen Begriffe des Bourdieuschen Theoriegebäudes, von "Feld", über "Habitus", bis hin zu "Symbolischer Gewalt", sie diskutieren die Hauptwerke des Pariser Meistersoziologen und stellen die wichtigsten Rezeptionslinien dar. Ergänzt wird das alles um ein instruktives Glossar, einem detaillierten Personenregister und einer Bibliografie, die keine Wünsche offen lässt.

    Pierre Bourdieu, das wird bei der Lektüre des Handbuchs deutlich, war auch so etwas wie ein Popstar der Soziologie. In seinen letzten Lebensjahren hat der "Attac"-Mitbegründer vor allem gegen die sogenannte "Politik der Entpolitisierung" mobilgemacht, die seiner Einschätzung nach mit der marktliberalen Restauration der 80er und 90er-Jahre einherging:

    "Wie kommt es zu dieser Politik der Entpolitisierung? Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Zum einen hat die zunehmende Entpolitisierung der Menschen mit den Medien und mit der Eigenlogik der Medien zu tun. Da geht es weniger um Zensur oder Selbstzensur oder um den ökonomischen Druck, den die Medien zu spüren bekommen. Nein, sie tragen auch aktiv zu dieser Entpolitisierung bei, weil sie zum Beispiel auf die Präsentation von politischen Inhalten immer mehr verzichten, einfach deswegen, weil sich Politik nicht so gut verkaufen lässt und kein Massenpublikum mehr anzieht. Außerdem tragen natürlich die großen ökonomischen Akteure zur Politik der Entpolitisierung bei, die multinationalen Konzerne beispielsweise. Zum einen, weil sie die Medien kontrollieren, zum anderen, weil sie eine fatalistische Sicht der Welt befördern, also die Vorstellung, dass gegen den Lauf der Dinge ohnehin nichts zu machen sei. Es ist dieser Fatalismus, den ich kritisiere."

    Zu Bourdieus bleibenden Verdiensten rechnet der Linzer Philosoph Gerhard Fröhlich, einer der beiden Herausgeber des Handbuchs, nicht so sehr Bourdieus wortgewaltige Kritik des Marktradikalismus, sondern mehr noch seine Habitus-Theorie sowie seine Analysen der Unterscheidungs-Strategien der Upper-Class:

    "Mein Lieblingsbeispiel ist: Warum gibt es kaum arbeitslose Theaterwissenschaftlerinnen aus der Oberschicht? Das ist einfach so: Der Papa kauft entweder einen Verlag oder eine Galerie, die Mama hat betuchte Freundinnen, die kommen zur ersten Vernissage und kaufen alle Bilder auf, man kennt auch ein paar Redakteure bei verschiedenen Kunstjournalen, etc. Die Tochter hat ein erstklassiges Auftreten, jeder ist gleich hingerissen, nicht aggressiv und freundlich, fesch ist sie natürlich auch. Was kann da noch schiefgehen?"
    Bourdieus Texte sind nicht einfach zu lesen – im Deutschen noch weniger als im französischen Original. Da dominieren virtuos verschränkte Schachtelsätze und dunkle, fast möchte man sage, forciert rätselhafte Wendungen in schauderhaftestem Soziologenkauderwelsch. Einerseits macht das Bourdieu-Handbuch des Metzler-Verlags Lust auf die Bourdieuschen Orginaltexte, andererseits kann sich der philosophische Normalverbraucher deren Lektüre nach dem Studium dieses Handbuchs auch sparen: Hat man die 440 Seiten des Bandes erst einmal in aller gebotenen Konzentriertheit durchgeackert, bleiben kaum noch Fragen offen. Mon Dieu, Bourdieu.

    Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (Hrsg.): "Bourdieu-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung". Erschienen bei J.B. Metzler. Der Band hat 436 Seiten und kostet 49 Euro 95, ISBN: 978-3-476-02235-6.