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Soziologiekongress
Der Begriff Krise ist eigentlich unbrauchbar

Der größte Soziologiekongress im deutschsprachigen Raum stand ganz im Zeichen der Krisendiagnosen und -szenarien: von der Finanz- und Schuldenkrise bis zur drohenden Energiekrise. Dabei ging es nicht nur um die Analyse krisenhafter Ereignisse, sondern auch um die Frage, wie wir mit diesen Krisen umgehen.

Von Peter Leusch | 09.10.2014
    "Krise ist eine Zuspitzung, eine dramatische, situative, kurzfristige Zuspitzung von bestimmten Phänomenen, die einen gesellschaftlichen Zusammenhang oder ein gesellschaftliches System oder ein Teilsystem an den Rand seiner Funktionsfähigkeit bringen. Und insofern - wenn man wirklich von Krisen sprechen möchte und einen operationalen Begriff davon haben möchte - kann man sagen: 2008, 2009 war ein krisenhafter Moment. Da platzte die Blase, und für wenige Wochen oder Monate hatte man vielleicht das Gefühl: Na ja, vielleicht kommt morgen kein Geld mehr aus dem Bankomaten."
    Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Universität München, schildert den Höhepunkt der Finanzkrise als das wohl eindrücklichste Beispiel einer Krise in den letzten 20 Jahren. Lessenich definiert Krise über diesen Moment der Zuspitzung. Aber ist die Finanzkrise schon ausgestanden, weil wir über diesen kritischen Moment hinweggekommen sind?
    Krise ist ein sehr vielfältiges Phänomen, wenn man daran denkt, wo überall Krisen ausgerufen werden: Krise des Renten-, Krise des Gesundheitssystems, ökologische Krise? Egal ob Staat, Parteien, Fußballclubs oder Liebesbeziehungen: alles Mögliche gerät in die Krise, sogar die eigene Identität. Dieser Boom an Krisendiagnosen sei aber in Teilen ein Medienprodukt, erklärt die Trierer Soziologin Nicole Zillien. Es gibt eine Kluft zwischen medialem Hype und gesellschaftlichem Alltag. Zillien konstatiert:
    "Dass die Mediendarstellungen oder der öffentliche Diskurs, wie Krisen behandelt werden, ja nicht so sehr damit korrespondiert, was im Alltag passiert. Dass eine permanente Krisenthematisierung in den Medien stattfindet. (…) Wenn man überlegt, wie das Thema Waldsterben medial in den Achtzigerjahren ganz stark gemacht wurde und dann auch entsprechend zu alarmistischen Reaktionen in der Bevölkerung geführt hat. Das ist heute gar nicht mehr so zu beobachten, sondern heute ist vielleicht eher die Stimmung: 'Weiter so, und etwas unaufgeregter mit der permanenten Krisenthematisierung umzugehen', weil es eben ein dauerhaftes Krisengerede gibt."
    Eine Krise der Routinen
    Haben wir es in der Hauptsache mit einem Krisengerede zu tun? Natürlich ist es so, dass Medien um die Aufmerksamkeit des Publikums kämpfen und Phänomene dramatisieren. Und die inflationäre Rede von Krise zeitigt einen paradoxen Effekt: Je mehr Bereiche und Probleme der Begriff abdecken soll, desto weniger besagt er inhaltlich, desto diffuser und unschärfer gerät er, erklärt Martin Endreß, Professor für Soziologie an der Universität Trier.
    "Krise ist ein Begriff, der öffentlich Karriere gemacht hat, der im wissenschaftlichen Kontext eine Hochkonjunktur zu verzeichnen hat, (…) er dient als völlig unkonturierte Folie für die Etikettierung jedweder sozialer Phänomene. Von daher ist er eigentlich unbrauchbar. Denn er sagt im Kern nichts weiter aus, als dass wir es mit einer Übergangssituation zu tun haben. Das ist trivial."
    Während Stephan Lessenich den Begriff Krise in einem engen Sinne für die dramatische Zuspitzung reservieren will, versteht Martin Endreß unter Krise eine Umbruchsituation in einem sehr weiten Sinne. Für solche Umbrüche ist charakteristisch, dass bewährte soziale oder persönliche Verhaltensmuster und Einstellungen nicht mehr greifen. Und diese Zusammenhänge zu untersuchen, sei für eine soziologische Analyse interessant, erklärt Martin Endreß. "Krise der Routinen" - so lautet denn auch der zweite Teil des Kongressthemas der Soziologen:
    "Auf der einen Seite sind Routinen offenkundig aus der Vergangenheit irritiert, deshalb spricht man davon, sich in einer Krise zu befinden, ob das nun eine Beziehungskrise ist oder eine Finanzkrise oder was auch immer. Und auf der anderen Seite ist der Krisenbegriff eben auch positiv optimistisch konnotiert, insofern die Überzeugung mit seiner Verwendung verbunden ist, es wird auch wieder anders werden, also irgendwelche Routinen werden uns auch den Weg weisen."
    Sind wir krisenfähig? Verfügen wir über Potenziale, mit der Krise umzugehen? Werden wir unsere Routinen weiterentwickeln, um die Probleme zu meistern? "Routinen der Krise" - so lautet die erste Hälfte des Kongressthemas. Denn Krisen haben nicht nur eine Risiko- oder Verlustseite, sie bergen auch ein produktives Moment, erläutert Nicole Burzan, sie lehrt Soziologie an der Technischen Universität Dortmund.
    Die Krise als Motor der Wirtschaft
    "Ein Aspekt der Krise ist aber auch ihre Ergebnisoffenheit, das heißt. nicht alles was Krise ist, muss ganz dramatisch schlecht enden, sondern es kann immer auch ein Anlass sein für sozialen Wandel, der auch wieder neue Chancen öffnet. Das sieht man zum Beispiel schon bei biografischen Krisen, wo man dann sagen kann, es hat zum Beispiel eine Trennung stattgefunden, und das war eine Krise für die Person, die das betraf, aber vielleicht haben gerade heutzutage in einer individualisierten Welt dann später beide Partner ihr Leben noch einmal so gestaltet, dass etwas Gutes daraus geworden ist."
    Die produktiven Seiten einer Krise lassen sich auch auf der makrosozialen Ebene bestimmen, etwa wenn man auf die Konjunkturzyklen und Börseneinbrüche schaut. Manche Ökonomen gehen noch einen Schritt weiter, wenn sie die Krise nicht als eine lästige, aber unvermeidliche Begleiterscheinung abtun, sondern vielmehr als Motor kapitalistischer Wirtschaft ansehen. Stephan Lessenich:
    "Die Finanzmarktkrise und die unglaubliche Vernichtung von Werten waren natürlich eine Möglichkeit für einen neuen Aufschwungszyklus. Kapitalistische Entwicklung beispielsweise funktioniert über die krisenhafte Vernichtung von Werten und dann wieder einen neuen Zyklus der Produktivität."
    Man müsse aber schauen, so fährt Lessenich fort, wer die Gewinner und wer die Verlierer einer Krise seien. Denn typisch für die Bewältigung insbesondere von ökonomischen Krisen sei es, die Kosten und Verluste nach außen in andere Systeme zu verlagern oder auf andere Gruppen oder auch andere Länder abzuwälzen. Lessenich nennt das eine Externalisierung von Krisenphänomen.
    "Beispielsweise die Bewältigung der Euro Krise hat auch viel damit zu tun, dass Krisenphänomene ausgelagert worden sind, beispielsweise an die südeuropäische Peripherie. Dass das Beschäftigungswunder Deutschlands, und dass Deutschland gestärkt aus der Krise hervorgeht, vielleicht sogar mit einem ausgeglichenen Staatshaushalt in den nächsten Jahren, viel damit zu tun hat, wer gleichzeitig für diese Krise zu bezahlen hat mit der Einbuße von Lebenschancen langfristig, mit einem kollabierenden Gesundheitssystem, mit hohen Zinsen, die zu zahlen sind auf entsprechende Staatskredite uns so weiter und sofort."
    Krisenmeldungen empirisch untersucht
    Aber auch hierzulande zeigen sich Verlierer inmitten des Beschäftigungswunders: Es sind diejenigen, die im boomenden Niedriglohnsektor, bei Discountern, Reinigungsfirmen, privaten Sicherungsunternehmen und bei Zustelldiensten arbeiten, mit befristeten Verträgen oder in Leiharbeit. Man müsse sich deshalb, betont Lessenich, immer das gesamte Bild anschauen, um zu beurteilen, ob und wie eine Krise bewältigt worden ist.
    In der klassischen Sozialanalyse hieß es immer, dass eine zahlenmäßig starke und selbstbewusste Mittelschicht den Garanten für eine stabile Gesellschaft darstelle. Doch auch für diese Gruppierung kursiert eine Krisendiagnose. Es heißt erstens, die Mittelschicht in Deutschland schrumpfe, und zweitens, sie sei besonders verunsichert, was ihre Zukunft angeht. Nicole Burzan hat sich daran gemacht, diese Krisenmeldungen mit eigenen empirischen Untersuchungen zu überprüfen.
    "Wir haben zum einen eine Sekundäranalyse des sozioökonomischen Panels als Rahmen durchgeführt, das ist eine wiederholte Befragung bevölkerungsrepräsentativ für Deutschland, und haben da geschaut, was haben die Leute gesagt, machen sie sich sorgen um ihre wirtschaftliche Situation, haben sie Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und so weiter. Andererseits haben wir Leitfadeninterviews mit zwei Bevölkerungsgruppen geführt, mit zwei Berufsgruppen, die in der Mittelschicht typisch sind, einmal Journalisten, zum andern Qualifizierte in der Verwaltung privater Unternehmen, also zum Beispiel in der Personalentwicklung, und haben mit diesen Leitfadeninterviews geschaut, wie unsicher fühlen sie sich denn. Und was tun sie konkret, entweder gegen diese Unsicherheit oder um ihr vorzubeugen."
    Nicole Burzan fand die generelle Diagnose einer verunsicherten Mittelschicht nicht bestätigt. Vielmehr zeigte sich in ihrer Untersuchung ein sehr differenziertes Bild.
    "Interessanterweise stellte sich heraus: Es gibt sowohl diejenigen, die sich zwar unsicher fühlen, dies aber unter bestimmten Bedingungen - sie sind noch recht jung und ungebunden - noch ganz gut aushalten können. Andererseits auch diejenigen, die sich plausibel bei ihrem jetzigen Arbeitsplatz gar nicht so verunsichert fühlen, aber für die doch Unsicherheit prinzipiell eine Bedrohung ist, und die die Zukunft lieber als etwas Unwägbares von sich fernhalten."
    Krisen werden ausgerufen
    Sind wir in Deutschland zu schnell mit der Ausrufung von Krisen, mit Verlustängsten und Untergangsbeschwörungen, mit Krisengerede bei der Hand? Nicole Zillien, Soziologin an der Universität Trier, ist der ganzen Frage von Krise auf einem anderen Feld nachgegangen:
    "Beispielsweise arbeite ich viel zum Bereich der neuen Technologien, was immer mit Krisenhaften verbunden ist, gerade in Deutschland mit großen Bedenken, was Datenschutz oder Ähnliches angeht. Die Berichterstattung zu neuen Technologien ist erst einmal immer eine krisenhafte."
    Krisen sind nicht einfach da. Es gibt jemanden, der sie ausruft. Es gibt Krisendiagnosen, es gibt die Wahrnehmung von Krisen, aber auch ihre Leugnung. Krisen sind nicht bloß dramatische Momente, es sind Prozesse von Umbrüchen, mit Gewinnern und Verlierern, mit eingeübten Verhaltensformen, die scheitern, und neuen, die erst noch gefunden werden müssen: All das beleuchtet der Soziologiekongress in beinahe 700 Vorträgen unter dem Generalthema: Routinen der Krise – Krise der Routinen. Und ein erstes weiterführendes Forschungsprojekt erscheint bereits am Horizont.
    "Was wir hier in Trier gerade insbesondere unter starker Beteiligung der Historiker versuchen, ist, einen Forschungsverbund zum Thema Resilienz aufzubauen."
    Resilienz ist ein Begriff, der in der Psychologie, in pädagogischen und therapeutischen Zusammenhängen bekannt geworden ist. Dort bezeichnet er die individuelle Widerstandsfähigkeit, das Vermögen, sich bei Veränderungen zu behaupten und erfolgreich anzupassen - populär in Buchtiteln wie "Was Kinder stark macht". Dieses Konzept von individueller Selbstbehauptung in existentiellen Krisen, etwa bei Unfällen oder beim Verlust von Angehörigen will die Soziologie nun auch in Bezug auf soziale Gruppen und Gesellschaften fruchtbar machen.
    "Da sehen wir auch, dass Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß beispielsweise auf Naturkatastrophen, auf Kriege, auf das Zusammenbrechen ihrer kulturellen Deutungssysteme, wie wir es mit dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks erlebt haben, reagieren, unterschiedlich schnell sich umstellen, in unterschiedlichem Ausmaß ihre Traditionen hinüber retten in neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen, das soll mit diesem Resilienzbegriff umschrieben und umrissen werden. (…) Also ein unmittelbar auf Krisenphänomene bezogenes Konzept, das der Resilienz, das wir hoffen, ab nächstem Jahr hier in interdisziplinärer Perspektive vielfältig verfolgen zu können."