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Spanien
Experiment Minderheitsregierung

Nach mehr als zehn Monaten wird Spanien nun vermutlich doch eine Regierung bekommen. Aber die neue Regierung unter dem Konservativen Mariano Rajoy ist auf die Mitarbeit der anderen Parteien angewiesen. Damit beginnt ein politisches Experiment, das Spanien so noch nicht erlebt hat. Bisher war das politische System dort stark von zwei Parteien geprägt.

Von Hans-Günter Kellner | 24.10.2016
    Der Geschäftsführende Ministerpräsident Spaniens, Mariano Rajoy, im Parlament vor einer Vertrauensabstimmung.
    Mariano Rajoy wird nun vermutlich erneut spanischer Ministerpräsident. (AFP / PIERRE-PHILIPPE MARCOU)
    Mehr Journalisten als Protestierende haben sich vor dem Parteisitz der spanischen Sozialisten zum Tag der entscheidenden Sitzung des Bundeskomitees eingefunden. Doch ein paar enttäuschte Anhänger machen ihrem Unmut über den sich abzeichnenden Kurswechsel doch Luft. Dieser Mann hält einen Karton in der Hand, darauf steht: "Ihr seid alle gekauft".
    "Die haben Angst, dass es Wahlen gibt und sie ihr Abgeordnetenmandat und ihr Einkommen verlieren. Und sie haben Angst davor, dass das Zwei-Parteien-System endgültig verschwindet. Genauso wie die Konservativen. Die treiben die Sozialisten jetzt vor sich her, so soll es nun vier Jahre lang weitergehen, in der Hoffnung, dass wir Wähler bis dahin alles vergessen haben."
    Am Ende verkündet die provisorische Parteiführung den Beschluss knapp: Die Sozialisten wollen sich Ende Oktober bei der Wahl von Mariano Rajoy im Parlament im zweiten Wahlgang enthalten und ihm so ins Amt des Regierungschefs verhelfen - trotz zahlreicher Korruptionsvorwürfe gegen Rajoys konservative Volkspartei. So stellt der Beschluss den Zusammenhalt in der sozialistischen Fraktion auf eine harte Probe. Einige Mitglieder, darunter alle sozialistischen Abgeordneten aus Katalonien, wollen dem Fraktionszwang nicht folgen. Doch Abgeordneter Julian López wirbt um Verständnis:
    "Wir haben nach einer alternativen Mehrheit zur Volkspartei gesucht, das ist gescheitert. Wir stehen jetzt vor der Alternative: Entweder Neuwahlen, aus der die Volkspartei stärker hervorgehen wird. Oder wir akzeptieren, dass die Volkspartei regiert und nutzen unsere Möglichkeiten aus, im Parlament Mehrheiten zu bilden, die die konservative Politik bremsen oder gar rückgängig machen."
    Eine Große Koalition wird es also nicht geben. Die Gefahr, dass sich Konservative wie Linke weiterhin bei allen Gesetzesinitiativen gegenseitig blockieren, ist groß. José Manuel Villegas, Sprecher der neuen liberalen Partei Ciudadanos, freut sich trotzdem, dass die Legislaturperiode nun endlich losgeht:
    "Wir sind in Spanien ja nicht daran gewohnt, dass die Parteien miteinander verhandeln müssen. Ich denke aber, dass macht das Parlament erst so richtig interessant. Wir werden jede Woche intensiv miteinander sprechen, über den Haushalt, über Gesetze. Wenn sich die Parteien nicht an diese neue Kultur gewöhnen, kann das zwar auch wieder im Desaster enden, ich bin aber optimistisch. Das wird eine gute Legislaturperiode, in der wir gute Gesetze für die Spanier verabschieden werden."
    Villegas Partei der Ciudadanos hatte sich bereits im August mit der Volkspartei über die Wahl Rajoys geeinigt. Beide haben sich dafür auf 150 Regierungsvorhaben verständigt, etwa auf eine Vereinfachung des Arbeitsmarkts, um den Übergang von befristeten zu unbefristeten Arbeitsverhältnissen zu erleichtern oder auf eine Senkung der Einkommenssteuer, wenn Spanien das Defizitziel von drei Prozent erreicht hat. Vor allem will Ciudadanos aber parteiübergreifende Abkommen in grundsätzlichen Fragen erreichen und dabei zwischen den großen Parteien vermitteln:
    "Ich denke da vor allem an die Bildungspolitik. Wir haben in den letzten 30 Jahren sieben oder acht Bildungsgesetze erlebt. Jedes Mal, wenn eine neue Regierung antritt, macht sie erst mal eine Bildungsreform. Es ist jetzt die Zeit für einen großen Bildungspakt gekommen, der wenigstens eine Generation lang andauert und nicht nur eine Legislaturperiode."
    Haushalt ist die erste Herausforderung
    Zuallererst braucht Spanien aber einen neuen Haushalt. Darauf wartet die EU-Kommission schon seit Wochen. Die amtierende Regierung hatte zur Sicherheit wenigstens den aktuellen Haushalt für 2017 verlängert – wie es die spanische Verfassung vorsieht. Doch der wird Brüssel nicht zufriedenstellen. Villegas dazu:
    "Wir wollen die Körperschaftssteuer reformieren, bei der öffentlichen Verwaltung einsparen und die Steueramnestie von 2011 korrigieren. Damit korrigieren wir das Defizit um den halben Punkt, der uns noch fehlt."
    Doch auch dafür gibt es noch keine Mehrheit im Parlament. Die Sozialisten haben schon abgewunken, auf ihre Stimmen kann Rajoy in der Haushaltsdebatte nicht zählen. Schließlich wollen sie der linken Podemos nicht das Feld der Opposition überlassen. Ein alternativer Partner könnten die bürgerlichen baskischen Nationalisten werden, die ihrerseits noch Stimmen für die Wiederwahl ihrer Regierung im Baskenland benötigen. Die spanische Politik wird also weiter mehr von Parteitaktik als von der Sachpolitik geprägt.