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Spanien
Immer mehr Familien von Armut bedroht

Spaniens Sozialpolitik vernachlässige den Nachwuchs, kritisiert die UNICEF und zeigt in einer neuen Studie, dass bereits 27 Prozent der Kinder des Landes unterhalb der Armutsgrenze leben. Hilfswerke und private Initiativen werden für immer mehr Familien zur letzten Anlaufstelle.

Von Hans-Günter Kellner | 28.07.2014
    Ein Bettler sitzt am 07.06.2013 in Palma de Mallorca auf der Mittelmeerinsel Mallorca (Spanien). Spanien gehört zu den Ländern Europas mit der höchsten Armutsgefährdungsquote und den größten Einkommensunterschieden, wie das Statistische Bundesamt ermittelte.
    Immer mehr Familien leben in Spanien unterhalb der Armutsgrenze. (Julian Stratenschulte / dpa)
    Schon lange vor der Öffnung stehen Edilia und ihre Freundin Patricia Schlange vor dem Hilfswerk "Pato Amarillo" im Madrider Stadtteil Orcasur.
    Edilia: "Ich habe nichts. Die 400 Euro Sozialhilfe, die meine Familie bekommt, sind aufgebraucht, der Kühlschrank ist leer. Seit zwei Jahren geht das schon. Aber bislang musste ich nie um Essen bitten, auch nicht für meine Kinder. Meine Schwester arbeitet in einer Schulküche. Da hat sie uns die Reste gegeben. Irgendwie kamen wir immer über die Runden."
    Doch jetzt sind die Schulen geschlossen. Organisationen wie "Pato Amarillo" - zu Deutsch die "Gelbe Ente" - sind für immer mehr Familien die letzte Hoffnung. Die Rentnerin Pilar Aurora hat den Verein mit einer Handvoll Mitstreitereien vor mehr als 30 Jahren gegründet - eigentlich zur Betreuung von Drogensüchtigen im Stadtteil. Inzwischen versorge die "Gelbe Ente" rund 700 Familien mit Essen und Kleidung, berichtet die Gründerin:
    "Die Leute schämen sich. Aber dazu gibt es keinen Grund. Schämen muss man sich, wenn man jemanden tötet oder ausraubt. Und stehlen, um zu essen, ist auch nicht so schlimm. Aber das ist auch nicht notwendig, eine karitative Seele findet sich immer. Wir leben ausschließlich von Spenden. Von den Behörden bekommen wir nichts."
    Widersprüchliche staatliche Sozialpolitik
    Die staatliche Sozialpolitik in Spanien ist widersprüchlich. Denn auf der einen Seite schickt das Sozialamt die Menschen mit einer Bescheinigung zu den Frauen der Gelben Ente, auf der anderen Seite lehnen es die Madrider Behörden ab, dem Beispiel anderer Regionen zu folgen und in den Sommerferien die Schulküchen offen zu halten. Dabei warnt das Kinderhilfswerk Unicef vor zunehmender Mangelernährung bei Kindern in Spanien. Pilar Aurora bestätigt:
    "Neulich mussten wir eine Frau auf den nächsten Tag vertrösten. Beim Weggehen sagte sie: 'Pilar, kann ich einen Liter Milch haben?' 'Wofür?', fragte ich. 'Ich hatte für meinen Sohn heute nur ein Glas Wasser zum Frühstück.' Ich habe ihr sofort einen Einkaufswagen voller Lebensmittel gegeben. Die Krise soll vorbei sein?' Die Kinder haben zu essen? Die Politiker könnten ja mal hierher kommen, mehr brauchen sie gar nicht zu tun."
    So hat Pilar Aurora, als sie schließlich das vom Abriss bedrohte Vereinsheim für die Wartenden öffnet, auch ein besonderes Auge auf die Kinder. Ein Mädchen hat über seinen kurzen Hosen und einem verschlissenen T-Shirt ein Handtuch gebunden. Das Kind könnte auch auf dem Weg zum Schwimmbad sein, doch Pilar Aurora erklärt: Das Handtuch ist der einzige Schutz gegen die Kälte am Morgen. Die vielleicht Neunjährige ist die Tochter von Edilias. Das Mädchen bekommt schnell eine Jacke, Edilias Handwagen wird mit Nudeln, Reis, Konserven und viel Milch und Joghurt gefüllt.
    Edilias: "Das ist sehr hart, um Essen musste ich noch nie anstehen. Ich schäme mich dafür. Aber so ist es nun mal."
    Lebensmittelspenden helfen über den Monat
    Vor dem Vereinsheim steigt unterdessen ein Mann aus einem großen Geländewagen. Er hat Milchkartons in der einen, Orangensaft in der anderen Hand.
    "Mir geht es gut. Wenn ich im Supermarkt für 30 Euro mehr einkaufe, tut mir das nicht weh. Diesen Leuten hier hilft es über den Monat."
    Die "Gelbe Ente" öffnet von Montag bis Freitag, schließt auch nicht im Ferienmonat August. Pilar Aurora wüsste aber wohl auch gar nicht, was sie ohne den Verein machen sollte. Die 77-Jährige sprüht bei ihrer Arbeit vor Energie. Zu Hause kommen ihr dagegen die Erinnerungen an den Sohn, der vor zwei Jahren an den Folgen der Drogenabhängigkeit gestorben ist, und an die eigene Kindheit:
    "Ich war wirklich sehr, sehr arm. Meine Eltern waren Lumpensammler. Wir aßen die Melonenschalen, die die Reichen vor dem Opernhaus wegwarfen. Meine Tochter kam in einem Bretterverschlag mit der Hilfe der Nachbarinnen zur Welt, ohne Ärzte oder Hebammen. Ich weiß, was es heißt, nichts zu haben. Darum helfe ich. Und darum schmerzt es mich so sehr, zu sehen, wie reich manche sind. Ich frage mich, wofür manche so viel Geld haben wollen."