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Spannendes zur Weihnachtszeit

"Der Assistent der Sterne" von Linus Reichlin, Heinrich Steinfests "Gewitter über Pluto" und Wolf Haas "Brenner und der liebe Gott": Für den Rezensenten der Krimikolumne sind das die drei deutschsprachigen Krimis des Jahres. Was soll da noch kommen?

Von Andreas Ammer | 21.12.2009
    In München explodiert - man weiß nicht recht wie - eine Bombe. Aber das ist schon lange her. In Stuttgart klingeln daraufhin ein paar Informanten einen Schriftsteller aus dem Bett. Und das ist eine wahre Geschichte. In Brügge lauert ein Feticheur vor einem Hotel herum. Er hat einen Fluch auf dem Herzen. In Neapel prügelt sich ein Neonazi durch die Nacht...

    ... und sich trotzdem ein kleines bisschen in unser Leserherz.

    Nur in Paris wird ermittelt, als sei nichts passiert. Das heißt, im Radio jetzt die Krimikolumne. Garantiert frei von jeglicher Weihnachtsstimmung. Behauptet zumindest unser auch mit Glühwein nicht zu bestechender Rezensent.

    Was würden Sie tun, wenn ein wildfremder, etwas befremdlicher und obendrein fremdländisch aussehender Mann, ein Feticheur aus Surinam, wie sich herausstellt, Ihnen dringend davon abraten würde, eine Frau - von der Sie noch nie zuvor in ihrem Leben gehört haben - kennen zu lernen.

    Eine reichlich obskure Frage. Eine Frage allerdings, mit der der Krimi "Der Assistent der Sterne" von Linus Reichlin furios ins Geschehen tritt.
    Linus Reichlin ist der Shooting-Star des letzten Jahres. Er gewann mit seinem Debüt "Die Sehnsucht der Atome" auf Anhieb den "Deutschen Krimipreis". Er hatte mit Hannes Jensen, einem ehemaligen Polizeiinspektor, der jetzt auf Quantenphysik macht, nicht nur einen eigenartigen Ermittler erfunden, sondern es obendrein geschafft, das Obskure der exakten Wissenschaften für die Poesie eines Kriminalromans nutzbar zu machen.

    Linus Reichlins Ermittler ist auch im zweiten Buch noch von der Physik begeistert. Er lebt immer noch als Privatier und Ex-Bulle in Brügge und hat mittlerweile einige Probleme mit seiner blinden Freundin. An den rätselhaften Fluch des rätselhaften Feticheurs aus Surinam, den er im ersten Kapitel trifft, denkt er nicht weiter ... auch nicht, als er auf einer Island-Reise aus Versehen eine Ein-Nacht-Affäre mit einer jungen Assistentin seines Physikprofessors hat. Eine heiße Nacht im kalten Reijkjavik. Beim Liebesspiel beißt ihn die Dame sogar in den Hals. Das wäre nicht weiter schlimm, da Jensens Freundin blind ist, allerdings bittet diese blinde Freundin Jensen um Hilfe bei der Betreuung ihrer Zugehdame, der wiederum von einem Feticheur ...oha ... geweissagt worden ist, dass sich ihre Tochter vor einem fremden Mann mit einem Mal am Hals hüten solle, denn der würde sie umbringen, klingt kompliziert absurd und etwas obskur!

    Diese Absurditäten nahe am Unglaublichen werden von Linus Reichlin so plausibel erzählt, dass beim Lesen sogar unsere weit weniger absurde Alltagswelt ins Wanken gerät.

    Große Klasse, große Spannung, großes Buch, meint unser Rezensent, der kein bisschen an Vorsehung glaubt und prophezeit auch ohne Feticheur
    Der Schweizer Linus Reichlin, der Österreicher Wolf Haas und der Wahldeutsche Heinrich Steinfest werden auch dieses Jahr den Krimipreis unter sich ausmachen. Uns bleibt nur die schnöde Kaufempfehlung zu Linus Reichlins "Der Assistent der Sterne", erschienen im Galiani Verlag:
    Definitiv auch ein Geschenktip!

    Übrigens genauso wie Heinrich Steinfests "Gewitter über Pluto" und Wolf Haas "Brenner und der liebe Gott". Für unseren Rezensenten sind dies
    die drei deutschsprachigen Krimis des Jahres. Was soll da noch kommen?

    Der politische Thriller hat in Deutschland nicht gerade Konjunktur, konstatiert unser Rezensent nicht ohne eine gewisse Wehmut. Auch aus der Sicht der Buchhändler geht der Trend eindeutig zum esoterischen Vampirjugendverkeuschungsroman oder zum Allgäuer Provinzkauzkrimi.

    Auch der Schwabe Wolfgang Schorlau begann damit, seine Bücher als Stuttgarter Lokal-Krimis vermarkten zu lassen. Inzwischen macht es Schorlau nicht unter einer bundesweiten Verschwörung. Und die hat er am liebsten als Tatsachenroman. "Das München-Komplott" heißt der fünfte Schorlau-Krimi um den Stuttgarter Privatdetektiv Georg Dengler, der rechtzeitig zu Weihnachten in der Taschenbuchreihe des Kiepenheuer & Witsch Verlages erschienen ist. Gleich auf der ersten Seite lässt Schorlau wenig Zweifel an seiner kämpferischen Gesinnung: Er referiert noch einmal den Sommer dieses Jahres mit all den Vielhundertmilliardenpleiten und konstatiert dann:

    "Während die gleichen Figuren, die die Krise verursacht hatten, im Kanzleramt hofiert wurden, ... traten Staat und Konzerne mit nie erlebter Härte nach unten. ... ein Einzelhandelsunternehmen kündigte nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit der Kassiererin, weil sie angeblich zwei Leergutbons im Wert von 80 Cent und 30 Cent, die ein Kunde vergessen hatte, für sich eingelöst hatte."

    Einerseits Tatsachen, andererseits sehr plakativ. Wer so in einen Roman einsteigt, will keine Gefangenen machen und mit der Weltgeschichte keine Kompromisse aushandeln. Den Rest des Krimis geht es um die Vergangenheit, die Unmöglichkeit die NPD zu verbieten und um eine mögliche Verschwörung zwischen US-Geheimdienst und Neonazis. Dazu müssen wir allerdings etwas ausholen:

    Dengler bekommt von seinem früheren Arbeitgeber, dem BKA, den Auftrag, noch einmal die vielen Aktenordner des Münchner Oktoberfestattentats von 1980 zu sichten. Schnell kommt der Privatermittler drauf, was damals schon vermutet wurde: dass bei den Ermittlungen allzu schnell die Einzeltäterhypothese alle anderen Nachforschungen überdeckt hatte. Schorlau beruft sich bei seinem Buch unter anderem auf Recherchen, die der Münchner Journalist Ulrich Chaussy schon vor Jahren unternommen hat. Darüber hinaus ist Schorlaus Thriller eine Illustration der beängstigenden Thesen, die Tobias von Heymann im vergangenen Jahr in seinem Buch "Die Oktoberfest-Bombe - München 26. September 1980" veröffentlichte.

    Von Heymann hatte in den Stasi-Akten zu diesem Thema recherchiert und viele Bezüge zwischen der Neonazi-Szene und dem damaligen Attentäter entdeckt. So wie diese Bücher von Chaussy und von Heymann legt jetzt auch Wolfgang Schorlau In "Das München Komplott " nahe, dass die Einzeltäterhypothese auch 28 Jahre nach dem Verbrechen nicht mehr zu halten ist.Im Nachwort erzählt Krimiautor Schorlau, wie er an den Stoff kam: Ihn hätten eines Abends zwei Informanten angerufen:"Wir haben Informationen für Sie, die Sie sicherlich interessieren", raunte es am Telefon. Schorlau schloss daraus, dass es sich um eine Polizistenstimme handeln müsse. Ob man sich treffen könne?, fragte die Polizistenstimme.Ja gerne, sagt der Autor, wann und wo? Na, sofort, man stünde bereits vor dem Haus und hätte einige Akten dabei.

    Mit dieser Räuberpistole begründet Wolfgang Schorlau, wieso er einen Enthüllungskrimi über das Münchner Oktoberfestattentat habe schreiben müssen. Eine Nacht lang hätten zwei Männer, die sich nicht vorgestellt hätten, ihm Dokumente vorgelegt und sich im Morgengrauen in der Hoffnung verabschiedet, dass er, Schorlau der Autor, daraus einen Krimi machen würde. Und so geschah es.

    Der Autor steht damit nicht alleine: auch andere treibt dieses ungelöste Verbrechen um: Im letzten Jahr gab es zu den Unstimmigkeiten des Falles eine 14 Seiten lange Anfrage der Grünen im Bundestag, die sich wie ein Exposé zu Schorlaus Roman liest. Denn: Weder die Rolle der Rechtsradikalen noch das irritierende Verhalten der Ermittlungsbehörden im größten Terroranschlag, den es in der BRD jemals gab, ist bis heute geklärt. Ein grandioser Stoff für einen professionellen Wadlbeißer wie Schorlau, der sich gern in Verschwörungstheorien und Fakten verliert und - manchmal etwas holzschnittartig - daraus seine Krimis zimmert.

    Aber gerade weil "Das München-Komplott" von Wolfgang Schorlau, erschienen als KiWi-Taschenbuch, über weite Strecken ein verstörender Tatsachenroman ist, stört das oft arg konstruierte von Schorlau Plots diesmal wenig. Man sieht - weil es gegen Ende richtig spannend wird - auch darüber hinweg, dass sich die Liebe einer adligen kostümbekleideten Staatssekretärin zu einem glutäugigen, linksradikalen Tübinger Studenten, etwas arg kitschig liest. Aber schließlich geht es um die gute Sache.

    Für den politisch interessierten Linksliberalen, meint unser Rezensent, ist dieses Buch das ideale Weihnachtsgeschenk.

    Und weil endlich Winter und tatsächlich dann doch fast schon Weihnachten geworden ist, lohnt sich noch ein Blick hinüber über die Alpen in ein Land, das bis vor ein paar Jahren als Inbegriff eines Krimilandes galt. So schön und heißblütig wie drunten in Italien wurde - bevor all die kühlen Schweden den Markt unter sich ausmachten - nirgendwo gemordet und ermittelt. Und das , bevor die Amerikanerin Donna Leon mit allzu viel die Welt rettender Betulichkeit den ungefähr 97. Mord in Venedigs Lagunen erzählte. Die alles geschah zu einer Zeit, als Michael Dibdin noch lebte und Andrea Camilleri unsere Herzen eroberte.

    Andrea Camilleri ist inzwischen 84 Jahre alt. Auf Italienisch veröffentlicht er fast jedes Jahr zwei Montalbano-Krimis. Da man dem deutschen Markt jährlich nur ein Buch zutraut, dauert es inzwischen drei Jahre bis seine Krimis aus dem Italienischen von Moshe Kahn übersetzt werden. "Die Flügel der Sphinx" heißt sein gerade im Lübbe-Verlag erschienener Krimi um den sizilianischen Commissario Montalbano. Es ist Montalbanos elfter Fall.

    Wie aus einer fast schon versunkenen Krimiwelt muten die Geschichten an, die der greise Camilleri inzwischen schreibt. Da wird drunten in Sizilien immer noch vor allem gut gegessen, romantisch geliebt und selten ein Computer benutzt. Wenn eine Leiche aufgefunden wird, weigert sich der empfindsame Commissario, sie sich genauer anzusehen. Aber es geht auch anders:Beispielsweise mit "NAZI-Paradise" von Angelo Petrella, einem schmalen Band, der gerade - übersetzt von Bettina Müller-Rezoni - in der ambitionierten kleinen Reihe Pulp-Master als Taschenbuch erschienen ist: "Nazi-Paradise" handelt von einem namenlosen, neapolitanischen Hacker, einem Neonazi und Fußballrowdy der übelsten Sorte. Nachdem er dabei erwischt wird, wie er mit ein paar Nazikumpels einen Farbigen mit einer Eisenkette bearbeitet wird dieser namenlose Protagonist von der Polizei gezwungen, den Computer eines unliebsamen Politikers zu hacken.

    Sie haben richtig gehört: bei dem Ketten schwingenden Nazi, dessen sonstige Leidenschaften Prügeleien im Fußballstadion und obszöner Online-Sex sind, handelt es sich nicht nur um den Ich-Erzähler, sondern auch gewissermaßen um den "Helden" des Bandes "Nazi-Paradise" von Angelo Petrella. Und das ist nicht einmal eine Provokation, urteilt dazu unser immer auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen sich befindender Rezensent.

    "Nazi-Paradise" ist in erster Linie ein einigermaßen fulminant geschriebener Bericht aus einer unglaublichen Welt, die irgendwo da draußen vor den Radiogeräten existieren muss. Denn natürlich gibt es das alles: Prügelnde Fußballrowdies, aggressive Nazis, skrupellose Hacker. Angelo Petrella hat versucht, einem von ihnen - wenn schon keinen Namen - so doch ein Innenleben zu geben. Manchmal merkt man dem Roman seine bemühte Haltung an. Denn ganz offensichtlich ist Angelo Petrella selbst weder Neonazi noch Fußballrowdy. Aber doch versucht er sich an der heiligsten Aufgabe der Literatur: Uns fremde Welten und Gefühle zu erschließen.

    Das hat er jetzt aber pathetisch gesagt unser Rezensent. Meinst du, er spürt doch schon etwas Weihnachten? Was sollen wir ihm denn schenken? Sollen wir ihm was schenken? Die Maigret-Romane hat er ja schon alle. Aber jetzt sind im Diogenes Verlag auch noch alle Maigret-Erzählungen erschienen! Lieber Rezensent, die bekommen Sie nur unter einer Bedingung:Das riecht nach Erpressung!

    Ein Jahr lang in dieser Kolumne kein Sterbenswörtchen über Maigret!

    Aber nur, wenn ihr mir den Band mit allen Erzählungen schenkt!

    Das war's mit dem 19. Jahr der Krimikolumne. Unser Rezensent wünscht Ihnen viele, viele Krimis zu Weihnachten.

    besprochene Bücher:

    Andrea Camilleri: Die Flügel des Sphinx (Lübbe Verlag)

    Tobias von Heymann: Die Oktoberfest-Bombe (NoRa-Verlag)

    Angelo Petrella: NAZI-Paradise (Pulp master)

    Linus Reichlin: Der Assistent der Sterne (Galiani Berlin)

    Wolfgang Schorlau: Das München-Komplott (Kiepenheuer & Witsch Verlag)

    Georges Simenon: Sämtliche Maigret-Geschichten (Diogenes Verlag)