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Spaziergänge durch die Welt der Lyrik

Die Freude am Gedicht kennen schon Kinder, aber den meisten wird sie in der Schule ausgetrieben. Da werden Metren geklopft und Reimschemata gepaukt, der Lehrer fragt: "Was will der Dichter uns damit sagen?" und die Schüler, überfordert von der ihnen fremden Ausdrucksweise, fragen im Stillen zurück, warum zum Henker der Dichter nicht geradeheraus sagen kann, was er zu sagen hat!

Von Martin Ebel | 13.04.2010
    Natürlich gibt es auch Lehrer, denen es gelingt, Herzen und Hirne der ihnen Anvertrauten für große Sprachkunst zu öffnen. Vielen Erwachsenen fehlt aber ein solcher Türöffner, ein Vermittler, ein Verführer. Als ein solcher Verführer zur Lyrik tritt Ulrich Greiner auf, langjähriger Feuilletonchef der Wochenzeitung "Die Zeit", ein kluger Kopf und ein sensibles Gemüt. Bereits 2005 hatte er mit dem Band "Ulrich Greiners Leseverführer" Freude an der Literatur wecken wollen, nun lässt er den "Lyrikverführer" folgen. Der ist allerdings nur eine halbe Neuerscheinung; der zweite Teil des Bandes besteht aus elf Gedichtinterpretationen, die alle bereits in der FAZ erschienen sind, in Marcel Reich-Ranickis "Frankfurter Anthologie", und auch in den entsprechenden Sammelbänden vorliegen.

    Die ersten 140 Seiten von "Ulrich Greiners Lyrikverführer" widmen sich dem Gedicht an sich, gehen aber weder chronologisch noch systematisch vor. Der Autor nimmt uns vielmehr mit auf sieben Spaziergänge, und diese werden durch das schöne alte deutsche Verb "lustwandeln" am besten charakterisiert. Jeder Spaziergang steht unter einem Motto, einer Definition.

    "Das Gedicht ist eine Erzählung" heißt der erste und führt zurück zu den Anfängen gebundener Rede überhaupt, zu Homer und den Abenteuern des Odysseus. Mit einem kühnen Sprung überwindet Greiner dann 2700 Jahre und stellt uns den australischen Dichter Les Murray vor, dessen Versepos "Fredy Neptune" eine moderne Odyssee darstellt. In diesem Kapitel begegnen wir außerdem dem mittelhochdeutschen Parzival, Bürgers "Lenore" und anderen Balladen von Schiller, Goethe und Fontane, wir lernen die ersten Reimformen und Metren kennen und begreifen sogar, was ein Hexameter ist. Nicht wenig Stoff also für wenige Seiten, aber unaufdringlich und unangestrengt vermittelt. Greiner fällt nie mit der Tür ins Haus, sondern zeigt uns erst, wenn wir es schon wissen, was wir da eben gelernt haben. Er schafft es in diesem Kapitel gar noch, eine grundsätzliche Frage aufzuwerfen: ob nämlich kunstvolle Sprache und wahrhaftige Aussage sich nicht unweigerlich in die Quere kommen. Ist Wahrheit immer ungereimt, nähert sie jeder poetische Aufputz schon der Lüge an?

    "Das Gedicht ist ein Lied", verkündet das zweite Kapitel. Es beschäftigt sich mit der Klangwirkung der Sprache, mit Volksliedern, politischen Liedern und Kirchenliedern, aber auch mit der zweiten Naivität des künstlichen Volkstons. Die Beispiele stammen hier von Brentano und Heine, von Paul Gerhardt und Wolf Biermann, und auch "Der Mond ist aufgegangen" von Matthias Claudius erfährt eine freundliche Betrachtung.

    Und so geht es weiter mit dem, was ein Gedicht alles sein und transportieren kann: Gefühle, Ideen, die Form selbst als Botschaft, ein Rätsel, ein Spiel. Im Verlauf der Kapitel lernen wir immer mehr Gedichte kennen, und wir lernen, sie zu lesen, sogar wenn sie sich spröde und unzugänglich geben. Immer wieder wirbt Greiner gerade für das moderne Gedicht, dessen Fremdheit schon mit dem Franzosen Baudelaire beginnt und mit Paul Celan seinen Endpunkt noch lange nicht gefunden hat. Moderne Lyrik, sagt Greiner, "gibt die Sprache als Medium der Verständigung oder der Mitteilung auf, sie orientiert sich stattdessen am Klang der Wörter, an ihrem Hallraum, an den Assoziationen, die sie hervorrufen. Sie ist an simpler Kommunikation nicht interessiert, sondern vielmehr an dem, was nicht gesagt wird oder gesagt werden kann. Dadurch wird sie zum Rätsel." Zitatende.

    Das ist sicherlich zu kurz gegriffen, aber immerhin ein Ausgangspunkt, ein Ansatz für fruchtbare Diskussionen. Bei seinen Interpretationen moderner Gedichte erweist Greiner sich dann als äußerst behutsam. Er tastet diese Gebilde eher ab, als dass er sie analysiert; das mag den enttäuschen, der auch jetzt noch gern wissen möchte, was der Dichter uns eigentlich sagen will. Aber darauf will Greiner ja gerade hinaus: dass es dieses "Eigentliche" jenseits der sprachlichen Form, in der es nun einmal gesagt wurde, gar nicht gibt.

    Und das wir selbst sehen sollen, was wir mit dem Angebot, das der Dichter uns macht, anfangen.

    Für wen ist dieser Lyrikverführer gemacht, für wen ist er geeignet? Für Leser, die Gedichte lieben, antwortet Greiner selbst im Geleitwort. Und, möchte man hinzufügen, für solche, die mehr wissen wollen, aber nicht wissen, wen und wo sie fragen können. Angenehmer jedenfalls kommt man in den Garten der Dichtung nicht hinein, und lustvoller kann einem der Aufenthalt dort kaum bereitet werden. Am Schluss hat man sogar ein kleines poetisches Persönlichkeitsbild des Lyrikverführers selbst gewinnen können. Greiner versagt zwar den Dichtern, die etwas politisch bewegen wollen, seine Anerkennung nicht (obwohl, unbegreifliche Lücke, der Name Brecht keinmal fällt). Aber seine große Liebe gehört den Klangzauberern und Sprachmagiern. Rilke hält er, sonst kein Superlativiker, für den größten Dichter deutscher Sprache. Aber ein besonders heißer Winkel seines Herzens gehört den Spielern. Deshalb fehlen Robert Gernhardt und Wilhelm Busch nicht, und deshalb bildet den Abschluss dieses schönen kleinen Kompendiums ein Gedicht, das ganz ohne Worte auskommt: "Fisches Nachtgesang" von Christian Morgenstern.

    "Ulrich Greiners Lyrikverführer. Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten". C. H. Beck, München 2009. 220 S., 14.90 Euro