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SPD-Außenpolitiker Annen zur Türkei
"Behandeln wie eine Diktatur"

Die Inhaftierung von Menschenrechtlern in der Türkei zeige, dass das Land in Richtung Diktatur unterwegs sei, sagte SPD-Außenpolitiker Niels Annen im Dlf. Man müsse der Regierung Erdogan sehr deutlich machen, dass es so keine Normalisierung des Verhältnisses geben könne. Er forderte, die Zahlung von EU-Beitrittshilfen zu stoppen.

Niels Annen im Gespräch mit Peter Kapern | 19.07.2017
    Niels Annen (SPD)
    Niels Annen (SPD) (dpa / picture-alliance / Peter Kneffel)
    Peter Kapern: Am Telefon ist Niels Annen, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Guten Abend, Herr Annen!
    Niels Annen: Ja, ich grüße Sie. Hallo!
    Kapern: Jetzt hat Außenminister Gabriel dem türkischen Botschafter mal so richtig die Meinung geigen lassen. Meinen Sie, die Botschaft ist in Ankara angekommen?
    Annen: Na ja. Das war auf jeden Fall ein wichtiges Zeichen. Ich unterstütze, dass Sigmar Gabriel das auf die höchste Ebene gehoben hat. Man muss doch feststellen, dass die Beziehungen sich in den letzten Wochen noch einmal dramatisch verschlechtert haben. Und es ist ja auch die Aufgabe der Bundesregierung, sich für die Rechte ihrer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger einzusetzen. Es sitzen inzwischen Dutzende auch von Menschen in Haft, auch um die 20 deutsche Staatsbürger. Der letzte Fall ist besonders dramatisch, weil es sich um einen Menschenrechtler handelt, dem Terrorverdacht vorgeworfen wird, ohne dass wir irgendeinen konkreten Beweis kennen. Da, glaube ich, ist ein klares Wort gefordert. Das habe ich auch von der Bundeskanzlerin lange vermisst. Das ist jetzt endlich gefallen, dieses klare Wort. Und dass der Außenminister sich kümmert, glaube ich, setzt das richtige Zeichen.
    "Unter fadenscheinigen Begründungen inhaftiert"
    Kapern: Aber Sie glauben nicht, dass sich eine der Zellentüren, hinter denen sich die Personen, die Sie gerade genannt haben, befinden, auch nur öffnet wegen dieser klaren Ansage aus Berlin, oder?
    Annen: Nein. Das ist bedauerlicherweise nicht zu erwarten. Wir müssen alles versuchen.
    Kapern: Was denn?
    Annen: Über den konsularischen Beistand, die Unterstützung der Anwälte, aber auch die Öffentlichkeitsarbeit und natürlich auch der türkischen Regierung deutlich machen, dass es keine Normalisierung des Verhältnisses geben kann, wenn deutsche Staatsbürger unter fadenscheinigen Begründungen in Haft genommen werden. Wir haben ja auch den Fall von Frau Tholo, wir haben den Fall von Deniz Yücel, der eine große Prominenz erreicht hat. In keinem dieser Fälle kennen wir die Vorwürfe und ich glaube deswegen, dass man daran hart weiterarbeiten muss. Wir haben mit Diktaturen die Erfahrung gemacht, dass vergleichbare Situationen häufig monatelang, bedauerlicherweise manchmal jahrelang gedauert haben, und wir hatten eigentlich die Erwartung, dass wir es mit der türkischen Regierung mit einem Land zu tun haben, das auf dem Weg in Richtung Demokratie und Europäische Union war, und wir müssen feststellen, das Land ist in Richtung einer Diktatur, und deswegen muss man sie auch so behandeln wie eine Diktatur.
    "Türkei-Politik überdenken"
    Kapern: Ist das denn tatsächlich, Herr Annen, schon alles, was die Bundesregierung da im Arsenal hat, Protestbotschaften, Kooperation mit Anwälten, konsularische Vertretung? Mehr ist nicht drin?
    Annen: Na ja. Was heißt, mehr ist nicht drin? Ich glaube, wir haben eine Situation, in der wir insgesamt unsere Türkei-Politik überdenken müssen. Die Sprache verändert sich, die Haltung Wir waren – ich kann das nur noch einmal wiederholen – bisher davon ausgegangen, dass wir es mit einem Land zu tun haben auf dem Weg in die Europäische Union. Jetzt sehen wir, dass es zunehmend zu einer Diktatur wird, in der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit unterdrückt wird, und das führt zu einem anderen Verhältnis. Nur auch die Bundesregierung verfügt nicht über eine Art Fernbedienung. Wir haben keine unmittelbare Möglichkeit, diese Menschen jetzt freizubekommen. Und der Kampf innerhalb der Türkei über den Charakter des Landes als ein demokratisches Land, den können wir nicht in Deutschland entscheiden. Aber ich glaube, es gibt eine ganze Reihe von Punkten, die wir jetzt auch im Arsenal haben. Die türkische Regierung hat ein Interesse an einer engeren wirtschaftlichen Kooperation. Es gibt sogenannte Vorbeitrittshilfen, die zum Teil von Brüssel schon eingefroren sind. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in einer solchen Lage beispielsweise über eine Ausweitung der Zollunion reden können, und das müssen wir der türkischen Seite sehr deutlich machen.
    "Schlimme Entwicklungen innerhalb der Türkei"
    Kapern: Herr Annen, als Russlands Präsident Putin den Landraub auf der Krim vollzogen hat, da war man sehr fantasievoll und sehr schnell, was die Sanktionen angeht. Da gab es dann Reisesperren für Top-Funktionäre und Kontensperrungen. Warum geht so was im Fall der Türkei nicht? Das könnte man doch dann auch gezielt gegen die politischen Akteure dieser politischen Entwicklung in der Türkei einsetzen.
    Annen: Ja, ich verstehe Ihren Punkt. Ich persönlich bin auch der Meinung, die Bundesregierung muss in dieser Diskussion alle Möglichkeiten diskutieren und prüfen. Allerdings warne ich auch ein bisschen davor, dass wir quasi aus einer Emotion heraus jetzt eine vorschnelle Entscheidung treffen.
    Kapern: War das denn damals im Fall Russland und Krim eine emotional vorschnelle Entscheidung?
    Annen: Nein, war es nicht. Aber ich darf schon darauf hinweisen, dass Herr Putin einen Teil eines souveränen Staates annektiert hat und damit offen das Völkerrecht gebrochen hat. Wir haben es hier mit schlimmen Entwicklungen innerhalb der Türkei zu tun.
    "Wir brauchen eine klare Haltung"
    Kapern: Und tausende von Leuten einsperren ist deutlich weniger schlimm?
    Annen: Nein, das habe ich ja nicht gesagt. Ich lasse mir auch nicht meine Worte im Mund verdrehen, sondern es ist ein klarer Völkerrechtsbruch gewesen, der weit über die Krim hinaus und die Ukraine hinaus für Verunsicherung gesorgt hat und das Prinzip, auf dem wir hier in Europa miteinander arbeiten, infrage gestellt hat. Insofern war das die richtige Reaktion. Und ich sage ja auch nicht, dass man irgendetwas ausschließen sollte. Ich denke nur, man muss offen auch über eines reden: Wir brauchen eine klare Haltung, so wie sie Sigmar Gabriel heute dargestellt hat. Ich unterstütze das sehr. Aber wir müssen auch im Kopf behalten, dass die Hälfte der Türkinnen und Türken und wahrscheinlich sogar eine Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei gegen das Referendum gestimmt hat, das Herrn Erdogan den Weg zur Macht ebnen soll, und wir dürfen diese Menschen natürlich nicht vergessen. Wir müssen bei allem, was wir jetzt tun, genau überlegen, wen trifft es eigentlich, die vielleicht in den gerade touristischen Zentren proeuropäische türkische Bevölkerung, oder trifft es die Regierung. Deswegen bin ich für eine offene, für eine tabulose Diskussion, aber ich bin nicht für Schnellschüsse.
    "Die jungen Leute, die nach Europa wollen, nicht verstoßen"
    Kapern: Aber wenn Sie genau das jetzt in den Blick nehmen wollen, wen würden Strafen, Sanktionen und Reaktionen treffen? Und dann aber gleichzeitig ins Spiel bringen, dass die Vorbeitrittshilfen der EU, die an die Türkei fließen sollen, gestoppt werden könnten. Die würden ja nun alle treffen.
    Annen: Ja, die würden in der Tat alle treffen. Aber ich denke zum Beispiel, wir haben ja im Moment auch eine Diskussion über Sanktionen. Da muss man sehr vorsichtig sein, weil Herr Erdogan ja einen Teil seiner Rhetorik und die Mobilisierung seiner Anhängerschaft darauf aufbaut, dass er seiner Bevölkerung sagt, die dort in Brüssel, die dort in Berlin, die verstehen uns sowieso nicht, wir haben uns sehr viel Mühe gegeben und Angela Merkel hat die Tür für einen wirklichen Beitritt fest verschlossen gehabt, die wollen uns eigentlich gar nicht als muslimische, als türkische Bevölkerung, die Europäer wollen ihren exklusiven quasi christlichen Klub beibehalten. Daran ist nicht alles richtig, aber auch nicht alles ganz falsch, und wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir quasi diese Opfer-Rhetorik von Herrn Erdogan, der sein Land als ein Opfer westlicher, christlicher, auch deutscher Politik darstellt und damit die Massen mobilisiert, dass wir das nicht noch weiter befeuern. Das ist keine ganz einfache Aufgabe und deswegen kann ich nur noch einmal sagen, es steht alles zur Disposition. Ich glaube, dass wir die Vorbeitrittshilfen nicht weiter auszahlen können. Ich glaube auch nicht, dass es die Zeit ist, um eine Ausdehnung der Zollunion ernsthaft mit der Türkei zu diskutieren. Aber trotzdem müssen wir uns überlegen, wie wir gerade die Jugendlichen, die jungen Leute, die nach Europa wollen, dass wir die nicht verstoßen, dass wir denen nicht den Eindruck geben, ihr habt jetzt wegen der Politik eures Präsidenten auch keine Chance mehr auf eine europäische Perspektive.
    "Proeuropäische Kräfte weiter an uns binden"
    Kapern: Die Tatsache, dass Sie so auf ein bedächtiges Vorgehen hinweisen, das da nötig sei, das werden viele unserer Hörer quittieren mit der Bemerkung, na die können ja nicht richtig zulangen, weil sie Angst haben, dass der Erdogan die Flüchtlinge wieder nach Griechenland kommen lässt. Ist Europa, ist Deutschland tatsächlich dermaßen erpressbar?
    Annen: Nein, Deutschland ist nicht erpressbar, und ich glaube auch nicht, dass das so verstanden wird, sondern die Türkei ist ein Land, mit dem wir eng verbunden sind. Wir haben dreieinhalb Millionen Menschen, die einen türkischen, ich glaube, man sagt heute, Hintergrund haben. Das sind enge auch familiäre Beziehungen. Das ist kein normales Land und wir brauchen auch einen Gesprächsdraht nach Ankara, um ganz konkret dafür zu sorgen, dass unsere Staatsbürger freigelassen werden. Aber wir brauchen auch ein Gespräch über gemeinsame Interessen beispielsweise in Syrien. Das betrifft uns ganz direkt. Und ich muss Ihnen sagen: Wir sollten ein bisschen unterscheiden. Die Kritik an dem Weg der Türkei in die Diktatur – und ich sage das so ausdrücklich und bewusst – ist etwas, was wir ganz eindeutig formulieren müssen, und da dürfen wir auch nicht wackeln und brauchen auch uns nicht vorwerfen zu lassen, dass wir das nicht aussprechen. Aber auf der anderen Seite haben wir auch eine Verpflichtung, darüber nachzudenken, wie wir die proeuropäischen Kräfte an uns weiter binden können, denn wir müssen ja ein Interesse haben, dass die Türkei sich nicht in Richtung China entwickelt, dass sie sich nicht an Russland anlehnt. Also das ist keine einfache Aufgabe und ich glaube, man wird das auch nicht in wenigen Wochen lösen können.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.