Psychologin über männliche Gewalt

"Aggression ist Teil unseres Verhaltensrepertoires"

07:16 Minuten
Ute Habel im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 24.06.2020
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Die Randale in Stuttgart wirft wieder einmal die Frage auf: Was treibt vor allem Männer zur Gewalt? Viele von ihnen seien selbst Opfer, sagt die Psychologin Ute Habel. Frauen seien dafür häufiger dabei, wenn es um Verbalattacken gehe.
Stephan Karkowsky: Die Täter der Stuttgarter Randalenacht als Gruppe zu beschreiben, das fällt unglaublich schwer: zu heterogen, zu viele Nationalitäten, Kroaten, Portugiesen, Letten, viele Deutsche darunter. Ein Merkmal aber zeichnet alle aus: jung und männlich. Vielleicht ist das ja des Pudels Kern. Fragen wir Professorin Ute Habel, sie ist die leitende Psychologin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik der Technischen Hochschule Aachen.
Das waren schlimme Bilder, die wir da gesehen haben. Vier- bis fünfhundert meist junge Männer randalierten, verletzten, plündern, zerstören Polizeiautos, treten Menschen gegen den Kopf und filmen das auch noch für das Netz als geiles Erlebnis. Was stimmt mit denen nicht?
Habel: Das kann man so nicht sagen, dass da was nicht stimmt, denn Aggression ist letztlich Teil unseres Verhaltensrepertoires, das ist eine Emotion, und Emotionen haben eigentlich eine wichtige Bedeutung für das Überleben. Das heißt, das gehört einfach zu uns dazu und kann, wenn wir provoziert werden, ausgelöst werden. Das kann durch ganz unterschiedliche Ursachen ausgelöst werden, und natürlich kann es dann, wenn es in solchen Gruppen auftritt, sich natürlich auch verbreitern und noch mal verstärkt werden. Aber grundsätzlich ist Aggression etwas, das Sie beim Tier und beim Menschen finden, und das hat sich über die Evolution des Menschen erhalten. Das heißt, es muss einen Sinn gehabt haben. Aber natürlich ist es heute so, dass Aggression, wenn sie in solcher Form auftritt, sanktioniert wird und dass wir das natürlich nicht wollen, weil es meistens Opfer gibt und die einen Schaden davontragen.

Warum sind keine Frauen beteiligt?

Karkowsky: Warum erwarten wir denn ein solches brutales Verhalten durchaus von jungen Männern? Warum sind da selten Mädchen beteiligt? So ein Rollenklischee wollen wir doch eigentlich gar nicht mehr haben.
Habel: Ja, das ist richtig, aber es gibt natürlich viele Bereiche, wo es letztlich Geschlechtsunterschiede gibt. Das ist einer davon, und Aggression ist ein komplexes Konstrukt. Man kann das nicht ganz einfach fassen. Das hat viele Erscheinungsformen und kann körperlich sein, es kann aber auch psychologisch sein, es kann verbal sein, es kann direkt und indirekt sein. Gerade in denen Bereichen sind die Männer sozusagen vorne weg, wenn es um diese körperliche Gewalt und Verletzungen geht. Da sieht man die Frauen nicht. Andererseits ist es so, dass, wenn man sich das genauer anschaut, Frauen eher mehr oder häufiger vorkommen, wenn es um verbale oder indirekte Gewalt geht. Da gibt es dann keine Geschlechtsunterschiede mehr. Aber ja, wenn es um diese starke, körperliche Gewalt geht, da sind die Männer vorne, und unter den Gewalttätern finden Sie auch fast nur Männer.
Karkowsky: Das sieht man ja auch in der Statistik.
Habel: Genau.
Karkowsky: Es sitzen knapp 50.000 Männer in Deutschland im Gefängnis und nur etwa 3.000 Frauen. Jetzt könnte man natürlich satirisch fragen, warum Männer diskriminiert werden hier, aber das ist ja nicht der Fall. Also was begünstigt den Weg von Männern in die Kriminalität?
Habel: Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben Straftäter angeschaut und finden, dass fast alle dieser Straftäter letztlich auch Opfer von Gewalt waren in der Kindheit oder auch im Verlauf ihres Lebens. Das heißt, da gibt es auch einen Zusammenhang zwischen der Erfahrung von Gewalt im Leben und vielleicht späterer Gewaltausübung, aber man weiß auch, dass die Wege dann unterschiedlich sind. Beispielsweise dass Frauen infolge solcher Traumatisierungen eher zu Depression neigen und Männer eher zu sogenannten externalisierendem Verhalten, was Aggressivität und Gewalt stärker beinhaltet. Ich habe es ja schon gesagt, es gibt einfach sehr, sehr viele unterschiedliche Faktoren, die zusammenkommen müssen, dass jemand gewaltsam wird.
Da gibt es natürlich genetische Einflüsse, die recht stark sind, wenn es um Aggression und Gewalt geht, da gibt es die Geschlechtshormone, wie zum Beispiel Testosteron, aber natürlich auch einfach situative Faktoren wie jetzt in Stuttgart, dass irgendeine Provokation da ist und viele Männer drumrum sind und sich dann letztlich zusammenfinden und sozusagen zu einem Mob werden. Da ist auch die Motivation eine unterschiedliche und natürlich auch Persönlichkeitsfaktoren, ob jemand eher eine ängstliche Persönlichkeit hat oder eher dominanter ist und da drauf drängt, sein Recht durchzusetzen.

Die Rolle von Testosteron

Karkowsky: Wir können ja diese einzelnen Faktoren noch mal durchgehen. Politiker haben immer gern das Wort testosterongesteuert im Mund. Ist Testosteron wirklich ein Aggressionshormon, also macht das Männer gewalttätig?
Habel: Es ist im Tierbereich ganz gut nachgewiesen als Aggressionshormon. Beim Menschen ist das sehr viel weniger. Klar, wie immer ist es beim Menschen alles sehr viel komplexer. Es gibt einen Zusammenhang von Testosteron und Gewalt, aber über viele Studien hinweg ist der nicht so stark, wie man annehmen möchte. Was die neueren Untersuchungen zeigen, ist, dass das wohl eher damit zusammenhängt, dass es strategisches Verhalten, Wettbewerbsverhalten steigert und auch mit einem Status verbunden ist. Das heißt, man versucht, unter Testosteron stärker seinen Status zu halten und das Verhalten zu wählen, was diesem Statuserhalt oder Steigerung des Status dient.
Karkowsky: Sie haben die Genetik erwähnt. Welche Erklärungen hat die denn für Aggressionen?
Habel: Na ja, es ist schon gefunden worden, dass es bestimmte Gene gibt, die im Zusammenhang mit negativen Kindheitsereignissen zu stärkerer Gewalt führen, und man weiß auch, dass es so einen Erblichkeitsfaktor gibt, dass es in Familien gehäuft vorkommt, aber natürlich besteht da wieder die Schwierigkeit, dass letztlich auch das Umfeld dort in diesen Familien sehr ähnlich ist und natürlich auch Lernprozesse eine Rolle spielen und auch natürlich, was die Kultur eines Landes, wie sehr die Aggression sozusagen toleriert oder wie wenig hier toleriert wird.
Das heißt, diese Faktoren treten vor allem immer in Wechselwirkung. Das ist ganz besonders spannend eigentlich, vor allem bei der Genetik, weil man sieht, dass, wenn es eine Veranlagung gibt, die anscheinend besonders dann zum Tragen kommt, wenn auch die Umweltbedingungen schlecht sind, also die Kinder dann Traumatisierungen oder Vernachlässigung erfahren.

Kulturelle Prägung und Erziehung

Karkowsky: Dann ist das gar nicht ein Vorurteil, was manche vermuten, dass manche junge Männer aufgrund ihrer kulturellen Prägung stärker zu Gewalt neigen als andere, also die Erziehung spielt eine große Rolle?
Habel: Spielt auch eine Rolle, ja, absolut. Aber wie gesagt, das Zusammenspielt verstehen wir noch letztlich viel zu wenig, und es ist natürlich auch so, dass Forschung im Labor stattfindet. Wir untersuchen viele Dinge, und da können Sie zum Beispiel auch sehen, wenn Sie solche Aggressionsparadigmen verwenden, also im Experiment versuchen, Aggressionen auszulösen, dass Sie auch, je mehr Sie zum Beispiel Frauen provozieren desto weniger Geschlechtsunterschiede finden Sie. Also das heißt, man sieht auch, dass die Situation, unter der man Aggressionen untersucht, natürlich einen Einfluss darauf hat, was man rausfindet. Frauen sind weniger aggressiv, provozieren Sie sie aber ausreichend, sind Sie genauso aggressiv wie Männer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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