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Jean-Marie Blas de Roblès: "Der Mitternachtsberg"
Keine kitschige Erbauungsliteratur

Ein Buch voller Witz und Klugheit über besondere Freundschaften und einen wundersamen Ort: Der französische Autor Jean-Marie Blas de Roblès schafft es in seinem neuen Roman "Der Mitternachtsberg", Tibet als Sehnsuchtsort zu beschreiben, ohne ein mythisch überhöhtes Bild davon zu zeichnen.

Von Dina Netz | 08.12.2017
    Buchcover Jean-Marie Blas de Robles: Der Mitternachtsberg und das Dirapuk Monastery nahe des Mount Kailash in Tibet
    "Der Mitternachtsberg": In Strecken ein Tibet-Roman (S. Fischer Verlag / imago/ZUMAPress)
    Jean-Marie Blas de Roblès ist ein Solitär in der französischen Gegenwartsliteratur: Ganz wenige Autoren, außer ihm wohl nur Patrick Deville und Olivier Rolin, suchen ihre Stoffe außerhalb Frankreichs, oft außerhalb Europas. "Stoffe" klingt dabei viel zu handwerklich: Die genannten Autoren bringen von ihren Reisen tiefgehende Erfahrungen eines anderen Lebens, Denkens und Fühlens mit. Und diese Leidenschaft für das Fremde wäre Jean-Marie Blas de Roblès als Schriftsteller beinahe zum Verhängnis geworden: Für sein fast 800 Seiten umfassendes Opus Magnum "Wo Tiger zu Hause sind", an dem er viele Jahre gearbeitet hat und das in abgelegenen Teilen Brasiliens spielt, fand sich lange kein Verlag. Die kleinen Pariser Editions Zulma brachten das Buch schließlich heraus und landeten einen riesigen Erfolg, Jean-Marie Blas de Roblès war schlagartig ein berühmter Autor. So berühmt, dass sich endlich auch ein deutscher Verlag für seine Bücher fand, der renommierte S. Fischer Verlag.
    Dieser geht nun chronologisch vor und veröffentlicht Blas de Roblès' nächsten Roman auf Deutsch: "Der Mitternachtsberg", im Original 2010 erschienen. Und auch damit gelingt dem Autor eine Überraschung. Der Roman ist ein 180 Seiten schmales, fast asketisch erzähltes Bändchen – das genaue Gegenteil seines Vorgängers.
    Schlichte Sprache um die Suche nach Wahrheit und Klarheit
    Wieder dürfte der Inhalt über die Form bestimmt haben: "Wo Tiger zu Hause sind" ist eine Art Barockroman mit vielen mäandernden Erzählsträngen. Die Erzählweise ist so verschlungen wie der brasilianische Dschungel, in dem einige Figuren sich verlieren, der Stil angelehnt an den magischen Realismus. "Der Mitternachtsberg" dagegen kreist in einer schlichten Sprache um die Suche nach Wahrheit und Klarheit, die seine Hauptfiguren schließlich nach Tibet führt.
    "Er war ein jugendlicher alter Herr, der Hausmeister des Lycée Saint-Luc, einer jener wie falsch wirkenden Greise mit Kindergesicht unter einer Perücke und drei oder vier aufgeschminkten Falten um die Augen herum. Die Schüler nannten ihn das Wiesel, die Lehrer bei seinem Namen Monsieur Lhermine."
    Bastien Lhermine hat eine Leidenschaft für fernöstliche Kulturen: Seinen Tag beginnt er mit Tai Chi-Übungen, hilft in der Mittagspause Studenten bei der Übersetzung komplizierter Texte aus dem Sanskrit oder Tibetisch und übt sich – auch aufgrund seines mageren Einkommens – in buddhistischer Genügsamkeit. Seine Vergangenheit umweht ein dunkles Geheimnis, das umso mysteriöser wirkt, weil niemand darüber spricht. Als der Roman einsetzt, übernimmt ein neuer Direktor die Leitung der Schule, an der Bastien als Hausmeister arbeitet. Kurz darauf entlässt eben dieser Direktor Bastien – vorgeblich aufgrund dessen Alters; der wahre Grund ist aber wohl der lange zurückliegende Skandal. Damit entzieht der Direktor Bastien nicht nur dessen Lebensunterhalt, sondern auch und vor allem die Hausmeisterwohnung.
    Kein Liebespaar
    Mit diesem Einschnitt in Bastiens Leben fällt ein anderer zusammen: Der verschlossene alte Mann freundet sich mit seiner Nachbarin Rose an oder eigentlich mit ihrem kleinen Sohn Paul. Die Fährte, die Blas de Roblès mit dem Vornamen Rose auslegt, verfolgt er zum Glück nicht weiter: Die junge Historikerin mit Interesse fürs Fernöstliche und der alte Mann werden kein Liebespaar. Die Treppenhaus-Begegnung mit Rose wird für Bastien dennoch schicksalhaft, denn er träumt davon, einmal in seinem Leben nach Tibet zu reisen. Allerdings fehlen ihm die Mittel. Einige Zeit später sitzt er mit Rose im Flugzeug nach Lhasa. Obwohl Bastien damit endlich den Ort erreicht, auf den sich all seine Sehnsüchte richten, zeichnet Blas de Roblès kein mythisch überhöhtes Tibet, sondern das realistische Bild einer verarmten Bevölkerung im Würgegriff Chinas.
    "Bastien greift ordentlich zu und plaudert derweil mit ihrem Gastgeber. Die Leute kommen aus Shigatse. Sie haben ihre Buttervorräte verkauft, doch die Preise sind gefallen, und sie werden nicht anschaffen können, was sie mit nach Hause nehmen wollten. Schuld sind die Chinesen. Nein, er kann sie nicht leiden; niemand kann sie leiden außer dem Panchen-Lama, diesem Verräter. Es besteht keinerlei Hoffnung mehr, eines Tages das Tibet von früher zurückzuerobern: Allein in Lhasa sind einhundertvierzigtausend chinesische Soldaten stationiert, mehr als die Bevölkerungszahl der Tibeter selbst! Unmöglich, sie zu vertreiben. ,Sie haben uns aufgefressen', sagt der Alte immer wieder und betastet mit seiner Zunge einen hohlen Zahn. ,Es ist vorbei, wir haben verloren.'"
    Ungleiche und ungewöhnliche Freundschaften
    "Der Mitternachtsberg", dessen Handlungsebene in den 1980er Jahren liegt, erinnert an dieses unterdrückte Volk, das selten öffentliche Aufmerksamkeit bekommt.
    Außer dem Tibet-Roman ist "Der Mitternachtsberg" ein Buch über mehrere ungleiche und ungewöhnliche Freundschaften. Nicht zuletzt ist es eine Reflexion über das Erzählen: Auf Seite 29 fällt überraschend jemand dem Erzähler ins Wort. Es stellt sich heraus, dass Paul, der Sohn von Rose, 30 Jahre später die Geschichte von Bastien zu rekonstruieren versucht. Er zeigt das Manuskript seiner Mutter, die danach immer wieder eingreift:
    "Du nimmst es mir also sicher nicht übel, wenn ich kein Urteil über deinen Text abgebe. Nicht, weil ich mich weigern würde, sondern ich bin einfach außerstande dazu. Diese Geschichte ist schließlich meine eigene, und bei jeder einzelnen Zeile glüht das Schuldgefühl wieder auf, das in meinem Gedächtnis mit ihr verbunden ist. Ja, ich gebe zu, da ist auch eine gewisse Scham – fast sehe ich etwas Obszönes darin, obwohl das Wort natürlich zu stark ist -, wenn mein eigenes Leben so ausgebreitet wird, und sogar ein wenig Empörung darüber, weil ich mir vorkomme, als würde es mir aus der Hand genommen."
    Keine objektive Wahrheit
    Es kommt zu einem regelrechten Erzähl-Wettstreit zwischen Mutter und Sohn, den Blas de Roblès etwas arg ins Besserwisserische hinein auswalzt. Dabei müsste Rose eigentlich wissen, dass man niemals ganz Herr der eigenen Geschichte ist. Sie selbst recherchierte nach ihrer Rückkehr aus Tibet über Bastiens Vergangenheit. Und je mehr sie herausfand, desto verworrener wurden die Informationen – eine objektive Wahrheit ließ sich nicht rekonstruieren.
    "Der Mitternachtsberg" enthält auch den Appell, Jedem seine subjektive Wahrheit und sein Geheimnis zu lassen. Das klingt ein bisschen esoterisch und ist es auch. Trotzdem ist der Roman keine kitschige Erbauungsliteratur, und das liegt vor allem an der Sprache von Jean-Marie Blas de Roblès: Sie ist schlicht und klar wie der Protagonist, die Bilder sind stark, die Beschreibungen präzise. Zudem verfügt Bastien über genau die Portion Selbstironie, die ihn vor dem Pathos eines transzendental Erleuchteten bewahrt.
    Jean-Marie Blas de Roblès' formuliert sein eigenes poetologisches Programm am Schluss dieses menschenfreundlichen Romans: Historiker und Romanciers mögen sich einer wie der andere bemühen, "die Wahrheit zu erfinden". Wenn er diesem Anspruch auch in seinen anderen Romanen mit so viel Klugheit und unterschnittenem Witz gerecht wird wie in "Der Mitternachtsberg", dann ist es höchste Zeit, sie alle ins Deutsche zu übersetzen.
    Jean-Marie Blas de Roblès: "Der Mitternachtsberg" Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 176 Seiten. 18,00 Euro