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SPD-Kritik an Merkels Lateinamerika-Visite

SPD-Vorstandsmitglied Niels Annen äußert Kritik an der Reiseroute von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) durch Lateinamerika. Es sei eine "etwas bittere Fußnote", dass die deutsche Regierungschefin kein linksregiertes Land besuche und damit den Anschein erwecke, die politische Entwicklung der vergangenen Jahre zu ignorieren.

Moderation: Stefan Heinlein | 14.05.2008
    Stefan Heinlein: Zehnmal Frankreich, sechsmal USA, fünfmal Russland und zweimal nach China: Als Kanzlerin war Angela Merkel viel unterwegs. Rund 40 Länder hat sie besucht. Doch Lateinamerika war bisher ein weißer Fleck auf ihrer Reiseroute. Nun ist die Kanzlerin also unterwegs auf dem Kontinent, vier Länder in sieben Tagen. Es ist ihre bisher längste Auslandsreise. Erste Station heute ist Brasilien. Es folgen Peru, Kolumbien und Mexiko. Allesamt Staaten, mit denen die wirtschaftlichen und politischen Kontakte ausgebaut werden sollen, sehr zur Freude der deutschen Wirtschaftsdelegation, die mit der Kanzlerin unterwegs ist. Einen weiten Bogen macht Angela Merkel um Venezuela und andere linksregierte Staaten. Die Quittung folgte mit dem wenig diplomatischen Ausfall von Hugo Chávez bereits vor ihrer Abreise. Heute aber zunächst der Auftakt in Brasilien.

    Vor dieser Sendung habe ich mit dem Südamerika-Experten der SPD-Bundestagsfraktion, Niels Annen, gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob der Merkel-Besuch in Lateinamerika längst überfällig ist.

    Niels Annen: Ja. Ich freue mich, dass die Kanzlerin nach Lateinamerika fährt. Ich glaube, dass es ein Fehler der deutschen Politik wäre, sich von diesem Kontinent abzuwenden. Wir haben viele Gemeinsamkeiten, was die grundlegenden politischen Überzeugungen angeht, auch was die gemeinsamen Werte angeht, ökonomische Interessen, und insofern ist es höchste Zeit, und es ist gut, dass sie mit ihrer Präsenz auch deutlich macht, die deutsche Politik interessiert sich dafür.

    Heinlein: Hat die Bundesregierung bisher diesen Kontinent vernachlässigt? Verschläft man dort eine Region, weil man vielleicht zu sehr auf Asien schielt?

    Annen: Nein. Die Bundesregierung hat den Kontinent nicht vernachlässigt. Die erste große Reise nach Ernennung zum Minister von Frank-Walter Steinmeier führte nach Lateinamerika, und er hat seitdem dieses auch fortgesetzt. Aber eines ist natürlich richtig und in gewisser Weise tragisch für die Bewohner dieses Kontinentes, dass in dem Augenblick, wo die großen Konflikte gelöst worden sind, wo es keine großen bewaffneten Auseinandersetzungen mehr gibt, da hat man sich nicht mehr mit Lateinamerika beschäftigt. Und ich glaube, dass es falsch ist, einen Kontinent, der sich in einer überwältigenden Anzahl von Staaten jetzt zur Demokratie zugewandt hat, sozusagen zu vernachlässigen.

    Heinlein: Woran lag es? Fehlt es generell in der deutschen Politik an Interesse und vielleicht auch Fachwissen mit Blick auf Lateinamerika?

    Annen: Wenn man sich anschaut, wie viele Menschen, Nichtregierungsorganisationen, zivile Helfer, die viele Jahre in Lateinamerika sich engagiert haben, wie viele es davon gibt, die sich auch kontinuierlich mit Lateinamerika auseinandergesetzt haben, dann glaube ich: Es gibt sehr viel Know-how, es gibt auch deutsche Firmen, die dort engagiert sind. Es gibt eine ganze Reihe auch von Städtepartnerschaften, von kulturellen Bindungen. Aber man hat es vielleicht nicht zusammengeführt, und manchmal bedarf es auch eines Anstoßes der Politik, um zu zeigen: Wir sind da, wir interessieren uns dafür. Und ich denke es ist auch eine berechtigte Erwartung an den Gipfel, der jetzt in Lima stattfindet, dass man zu konkreten Ergebnissen kommt. Und wenn man sich anguckt, dass die Abkommen mit dem Mercosur nicht abgeschlossen worden sind, dass wir auch zu konkreten Vereinbarungen im Bereich des Umweltschutzes eben noch nicht gekommen sind, dann, glaube ich, wird es höchste Zeit.

    Heinlein: Braucht auch die deutsche Wirtschaft Flankendeckung von der Politik, damit sie dort noch bessere Geschäfte machen kann?

    Annen: Ich glaube, dass die wirtschaftlichen Beziehungen ausbaufähig sind, gerade weil viele lateinamerikanische Politiker auch nach Europa schauen, in gewisser Weise ein wenig auch als Alternative zu den ja doch als übermächtig wahrgenommenen Vereinigten Staaten. Aber mir geht es nicht nur um die wirtschaftlichen Beziehungen. Ich glaube, wenn man sich anguckt, dass Deutschland eine Politik verfolgt, die auf die Vereinten Nationen setzt, auf Multilateralität setzt, dass es eine Agenda in Deutschland gibt, die Frage Abrüstung wieder in den Mittelpunkt zu stellen, da haben wir einen Kontinent, der atomwaffenfrei ist, der sich an die internationalen Verträge hält. Also wir haben in vielen Bereichen mit Lateinamerika einen Partner, der zum Teil nur darauf wartet, dass wir dort aktiver werden.

    Und ein zweiter Aspekt, der für mich als Sozialdemokrat wichtig ist, es ist ein Kontinent, der überwiegend von progressiven, von linken Regierungen im Moment regiert wird und wo die Menschen gesehen haben, dass marktradikale Modell, das funktioniert nicht. Insofern ist das für uns möglicherweise auch ein Zeichen, dass wir ernst nehmen sollten. Deswegen bedauere ich es ein wenig, dass die Kanzlerin sich eigentlich mit Regierungen dieser neuen Couleur nicht so wirklich auseinandersetzt.

    Heinlein: Sie sprechen es an, den politischen Wandel in Lateinamerika. Dazu gehört in der Tat der Linksruck in vielen Ländern. Angela Merkel macht ja einen Bogen um diese linksregierten Staaten Venezuela, Bolivien oder Ecuador. Warum ist es nicht klug, diese Länder links liegen zu lassen?

    Annen: Ich glaube, dass es eine gute Idee gewesen wäre, man hätte das relativ leicht realisieren können, beispielsweise ein Treffen mit dem ecuadorianischen Präsidenten zu machen, weil es den Menschen gezeigt hätte, Deutschland nimmt das wahr, was dort passiert, und wir nehmen auch die Reaktion der Bevölkerung ernst, die sich abgewandt hat von dieser Phase des Neoliberalismus, wenn ich das einmal so formulieren darf. Auf der anderen Seite ist es aber ein positiver Effekt, dass sich die Politik, wir haben eine Resolution im Bundestag verabschiedet, es gibt eine öffentliche Wahrnehmung für das Thema, jetzt mit Lateinamerika beschäftigt, und ich will nicht kritisieren, dass Frau Merkel in die Region gereist ist. Ich finde das gut. Ich glaube, man hätte bei der Auswahl der Länder ein wenig sorgfältiger sein können.

    Heinlein: Blicken wir auf einen Mann wie Hugo Chávez. Er hat Angela Merkel politisch in die Nähe von Adolf Hitler gerückt. Mit so einem Mann kann man sich doch nicht treffen.

    Annen: Nein. Das ist auch nicht mein Vorschlag. Die Äußerungen von Herrn Chávez sind vollkommen inakzeptabel. Wir weisen das entschieden zurück. Das ist auch eine beleidigende Unterstellung, die jeglicher Grundlage entbehrt. Hugo Chávez ist ein Politiker, der häufig gezeigt hat, dass er wichtige internationale Gelegenheiten wie diese Konferenz genutzt hat, um sich in Szene zu setzen auf Kosten anderer. Das ist keine seriöse Politik. Mein Plädoyer ist, dass man sich aber mit dem Phänomen der neuen Linken, nicht unbedingt mit Herrn Chávez, aber mit dem Phänomen der neuen Linken auseinandersetzen muss, und das ist auch eine Frage des Respekts gegenüber dem Wählerwillen auch.

    Heinlein: Wie sollte man sich denn mit den neuen Linken auseinandersetzen?

    Annen: Ich glaube, dass wir beobachten konnten in den letzten Jahren, wenn man bestimmte Regierungen in eine Ecke gestellt hat, wenn man mit den Menschen dort auch in Regierungsverantwortung nicht geredet hat, dass wir dann erleben, dass sich beispielsweise ein Hugo Chávez mit Herrn Ahmadinedschad und anderen trifft. Insofern ist das ein Ergebnis einer Politik des nicht Miteinander-Redens, die, glaube ich, auf lange Sicht niemandem weiterhilft. Und es gibt eine ganze Reihe von auch Staatschefs und Parteien, die sich nicht mit diesem Politikstil von Hugo Chávez identifizieren, aber die dennoch die Sorgen ihrer Bevölkerung artikulieren und sich deutlich einsetzen für eine Stärkung des Staates in Lateinamerika, für eine gerechtere Reichtumsverteilung. Und das ist eine Agenda, von der man sagen kann: Da gibt es bestimmte Schnittmengen.

    Heinlein: Aber ist es nicht besser, verstärkt mit denjenigen Ländern zusammenzuarbeiten, mit denen man gemeinsame Werte und Normen teilt? So schlägt es ja Ihr Koalitionspartner, die Union, vor.

    Annen: Ich glaube, dass sich das erstens nicht ausschließt. Wir haben ja zu der überwältigenden Mehrheit der lateinamerikanischen Länder sehr unproblematische, zum Teil auch gute Beziehungen. Aber wir müssen sie intensivieren, und wir können ja nicht ignorieren, so hat man ja ein wenig den Anschein, wenn man sich die Reisepläne von Frau Merkel anguckt, die sich nun ausgerechnet die beiden noch konservativ regierten Länder des Kontinents herausgesucht hat, als würde diese Entwicklung dort nicht stattfinden. Und sie hat in unterschiedlicher Nuance, in unterschiedlicher Ausprägung auf dem gesamten Kontinent stattgefunden. Ich glaube schon, dass die Menschen in Lateinamerika es zur Kenntnis nehmen, wenn diese Länder ausgespart werden. Das ist ja gar nicht so einfach, diese Länder auszusparen. Insofern halte ich das für eine etwas bittere Fußnote, aber vielleicht ist es ein Anfang einer Auseinandersetzung. Da will ich die Hoffnung nicht aufgeben.

    Heinlein: Sollte auch mit der neuen Führung in Kuba verstärkt der Dialog gesucht werden?

    Annen: Ja. Ich glaube, dass wir das sehr ernst nehmen müssen und dass wir erst einmal die positiven Entwicklungen des neuen kubanischen Präsidenten Raúl Castro auch honorieren sollten, zur Kenntnis nehmen sollten. Die kubanische Führung weiß doch im Grunde genommen, dass dieses ökonomische Modell auf Dauer für die Menschen und auch für die eigene Souveränität nicht durchzuhalten ist. Es ist keine Demokratie auf Kuba, das wissen wir alle, aber es gibt vorsichtige Schritte in die richtige Richtung und deswegen glaube ich, ist es jetzt eine sehr, sehr entscheidende Phase, in der sich die neue Linie von Raúl Castro noch nicht vollkommen entschieden hat, in der jetzt noch Entscheidungen getroffen werden auch über die Zusammensetzung der Regierung. Es ist das erste Mal seit vielen Jahren ein Parteitag einberufen worden. Also es ist die entscheidende Phase, und da sollte man miteinander reden - meiner Meinung nach auch über die Ebene der Botschafter hinaus.

    Heinlein: Heute Morgen im Deutschlandfunk Niels Annen, Südamerika-Experte der SPD und Vorstandsmitglied seiner Partei. Wir haben das Gespräch vor dieser Sendung aufgezeichnet.