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Schwer zu bekommen
Hilfen für DDR-Unrechtsopfer in Sachsen-Anhalt

Sigrid Lustinetz (70) kam in der DDR ins Gefängnis, weil sie die Fluchtpläne ihres Neffen nicht anzeigte. Eine Entschädigung erhielt sie dafür bis heute nicht - die Erfolgschancen eines entsprechenden Antrags tendieren in Sachsen-Anhalt gegen null. Die Bewilligungsquote von 2015 bis 2017 lag bei null Prozent.

Von Christoph Richter | 23.08.2018
    Blick durch ein vergittertes Fenster einer Gefängniszelle im Frauengefängnis Stollberg - Hoheneck, aufgenommen im Dezember 1989. In Hoheneck waren kriminelle und politische Gefangene untergebracht. Mit der politischen Wende im Herbst 1989 in der DDR forderten in vielen Strafvollzugsanstalten der DDR Häftlinge ihre Rechte ein.
    In den Gefängnissen der DDR widerfuhr vielen Menschen Unrecht. Eine Entschädigung dafür ist heute theoretisch möglich, in der Praxis aber nicht unbedingt einfach. (picture alliance / dpa / Foto: Wolfgang Thieme)
    "Mein Leben ist zerstört worden."
    Die 70-jährige Sigrid Lustinetz sitzt im Vorgarten ihres kleinen Häuschens am Rande von Magdeburg. In ihr Gesicht haben sich tiefe Falten gegraben. Auf dem Schoß liegt ein knapp 300 Seiten dicker Ordner. Dort ist ihre DDR-Haftgeschichte und der Kampf mit dem Landesverwaltungsamt Halle um eine Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz nachzulesen.
    "Mein Mann und mein Neffe wollten über Ungarn abhauen. Meinen Mann hätte ich nicht anzeigen brauchen, weil er ein Verwandter ersten Grades war. Aber meinen Neffen hätte ich anzeigen müssen. Und weil ich das nicht getan habe, bin ich verurteilt worden."
    Letztlich musste die gebürtige Magdeburgerin 1987 für sechs Monate ins Gefängnis. Die Zeit verbrachte sie zum größten Teil in einer engen mehrfach belegten Zelle in der Strafvollzugsanstalt Hohenleuben. Dort musste sie täglich acht Stunden stehend arbeiten, ohne dass sie sich hinsetzen durfte. Es gab kaum Tageslicht. Heute ist Sigrid Lustinetz durch die Haftfolgen schwer krank:
    "Schlafstörungen, erhöhter Blutdruck, chronische Reflux-Beschwerden. Das ist alles hervorgetreten, sagen wir mal 2005. Da fing das ganz extrem an."
    Behörde spricht von Alters- statt Traumafolgen
    Alles Folgen der Haft, keine normalen Alterserscheinungen - das haben ihr Ärzte in zwei aufwendigen Gutachten bescheinigt. Trauma-Forscher Jörg Frommer von der Universitätsklinik Magdeburg:
    "Das sehen wir häufiger, und das ist in der Forschung bestätigt. Heute wissen wir, dass viele Menschen zunächst diese Traumatisierung zu verarbeiten scheinen. Und dann, vor allem durch den Faktor Alter, das Alte wieder hochkommt."
    Doch genau das bestreitet das Landesverwaltungsamt in Halle an der Saale. Für eine psychische Traumatisierung infolge der Haft gebe es keine Belege, das seien schlicht Folgen des Alters.
    "Ich kann mir kein allgemeines Urteil erlauben, über die Qualifikation der Ärzte im Landesversorgungsamt. Aber: Nach meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass sie hier im Bundesland mit der Beurteilung politischer Folgeschäden von DDR-Unrecht heillos überfordert sind."
    Ärzte im Landesversorgungsamt befangen?
    Es würden Ärzte aus DDR-Zeiten im Landesversorgungsamt arbeiten, die in gewisser Weise belastet seien und daher nicht unabhängig urteilen würden, so Trauma-Experte Jörg Frommer, Leiter der Magdeburger Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
    Ähnlich sieht es die Stasi-Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt, Birgit Neumann-Becker. Sie teilt schriftlich mit, dass sich die Opfer "von Gutachtern nicht verstanden und wie Simulanten behandelt fühlten. In Gutachten und Bescheiden wurden teilweise mit Zitaten aus DDR-Haftakten Ablehnungen von Anträgen begründet. Die Anerkennungsquote ist so gering, dass viele SED-Verfolgte den Antrag auf Anerkennung ihrer gesundheitlichen Schäden nicht stellen, um ihre Gesundheit nicht noch weiter zu beschädigen."
    2015 wurden nach Angaben von Birgit Neumann-Becker lediglich zehn Anträge gestellt, bewilligt wurde kein einziger. Also: Null Prozent. Nicht anders sieht es 2016 und 2017 aus. Nachzulesen auf Seite 39 des aktuellen Tätigkeitsberichtes der Stasi-Landesbeauftragten in Sachsen-Anhalt.
    Re-Traumatisierung beim Antragstellen
    Beim Magdeburger Sozialministerium sehe man das Problem, gerade hinsichtlich der Gutachter, sagte Ende letzten Jahres Staatssekretärin Beate Bröcker, SPD:
    "Wir haben angeboten, dass das Landesverwaltungsamt, das die Fälle bearbeitet, eine Vereinbarung macht, zur Qualität der Gutachter. Wir gehen den Vorwürfen durchaus nach und dann gucken wir."
    Geschehen ist bisher jedoch nichts. Stattdessen müssen Opfer des SED-Regimes bei der Antragsstellung in vielen Fällen ihre Situation, ihre Leiden akribisch bis ins kleinste Detail darlegen. Die Folge sei eine sogenannte Re-Traumatisierung, das heißt, die Opfer erleben erneut ihr demütigendes Leid, so Jörg Frommer.
    Deutlich besser laufe es da etwa in Thüringen. Einer der Gründe sei der Gutachterpool, der sich aus speziell geschulten Experten zusammensetzt. Im Nachbarland haben 2015 281 Antragssteller eine Entschädigungsrente erhalten. Das sind 15 Prozent. Im Vergleich dazu noch mal Sachsen-Anhalt: Hier waren es null Prozent.
    "Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, wie gravierend die Langzeitfolgen politischer Traumatisierung sind. Nicht nur der Hafttraumatisierung. Diese Folgen sind langwierig."
    Trauma-Experte fordert von Verwaltung mehr Empathie
    Frommer sieht in der "richterlichen Fehlbeurteilung", wie er es nennt, eine Diskreditierung von DDR-Unrechtsopfern. Und fordert mehr Empathie seitens der Verwaltung.
    Sigrid Lustinetz blättert in den Akten, ist erschöpft. "Ich habe doch nichts getan", sagt sie immer wieder. Es klingt wie ein Hilferuf. Sie habe lediglich niemandem die Fluchtpläne ihres Mannes und Neffen verraten. Dafür müsse sie nun zahlen, bis heute.
    "Jetzt glaubt man mir wieder nicht, dass ich nichts getan habe, dasa die Ursache für meine Leiden alleine von meiner Haftzeit her stammen."
    Sigrid Lustinetz ist verzweifelt. Ob sie gegen den letzten Bescheid in Berufung gehen wird? Die Entscheidung scheint gefallen.
    "Noch mal bezahlen mach ich nicht mehr. Was ich an Geld schon investiert habe, an meinen Anwaltskosten, das geht nicht. Das mache ich auch nicht. Und ich kann auch nicht mehr."