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SPD-Mitgliedervotum
"Es gibt keine einheitliche ablehnende Linie"

Die Abstimmung unter den SPD-Mitgliedern wird eine deutliche Mehrheit für den Koalitionsvertrag mit der CDU ergeben, sagt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). Kritik komme eher daher, dass unterschiedliche Gruppen in der SPD unterschiedliche Schwerpunkte hätten.

Martin Schulz im Gespräch mit Christoph Heinemann | 13.12.2013
    Christoph Heinemann: Aus Nordrhein-Westfalen stammt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments. Er ist Mitglied des SPD-Vorstands und des Präsidiums. Guten Morgen!
    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Heinemann!
    Heinemann: Herr Schulz, wird es knapp?
    Schulz: Nein, glaube ich nicht. Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit bei diesem Votum für den Koalitionsvertrag stimmen wird. Ich glaube, auch eine deutliche Mehrheit. Jedenfalls ist das mein Gefühl nach den vielen Veranstaltungen, die ich in den letzten Wochen besucht habe.
    Heinemann: Sie haben für die Große Koalition geworben, haben Sie gerade gesagt. Welche waren denn die wichtigsten Bedenken, die Sie zu hören bekommen haben?
    Schulz: Ich glaube das, was der junge Genosse aus Oberhausen gerade beschrieben hat . Das ist eine Grundstimmung bei vielen Leuten. Es ist klar: das sind die beiden Hauptwettbewerber der deutschen Politik, die sich da zu einer Koalition zusammenschließen. Dass da viele vom Grundsatz sagen, nein, das möchte ich nicht, das ist mir immer wieder begegnet, und dass unterschiedliche Gruppierungen unterschiedliche Schwerpunkte haben. Den einen sind die Grundrechte zu wenig ausgeprägt, den anderen fehlen die Steuererhöhungen, den dritten eben wie bei dem jungen Mann der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, was ich gar nicht nachvollziehen kann, muss ich offen sagen. Aber das ist sehr heterogen. Es gibt keine einheitliche ablehnende Linie. Unterschiedliche Gruppen haben unterschiedliche Prioritäten.
    Heinemann: Was können Sie nicht nachvollziehen?
    Schulz: Dass sich in dem Koalitionsvertrag zu wenig im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit in der EU findet. Da steht ein ziemlich umfangreiches Kapitel dazu drin. Aber vielleicht liest er ihn noch mal.
    Heinemann: Gleichwohl sagen die Jungsozialisten ja ziemlich geschlossen Nein. Das hat Johanna Uekermann gestern noch mal im Fernsehen gesagt. Sinngemäß: Dieser Vertrag ist für junge Leute Käse!
    Schulz: Ja, so kann man es auch ausdrücken. Ich werde mich dazu jetzt nicht mehr vertieft äußern. Ich war auf dem Kongress der Jungsozialisten, habe mit denen diskutiert und hatte den Eindruck, dass dort schon aus grundsätzlichen Erwägungen Nein gesagt wurde, weniger in den Text eingestiegen worden ist. Aber gut, das ist bei den Jusos einfach nicht anders zu erwarten. Ich glaube, als ich ein Juso war, war ich sicher da, wo ich zu Hause war, auch eine Art Albtraum für die Partei.
    Renten und Pensionen sind zwei unterschiedliche Welten
    Heinemann: Bildet sich in Berlin gerade eine Große Koalition für Rentner?
    Schulz: Ganz sicher nicht! Ich glaube, dass wir sicher Leuten, die ein Arbeitsleben lang einen enormen Beitrag geleistet haben für unseren Staat, Leuten, die auf Baustellen 45 Jahre gearbeitet haben, mit 14 angefangen haben, heute 59 sind, sagen, du musst nicht bis 67 weiterarbeiten, sondern kannst mit 63 gehen, weil du 45 Jahre gearbeitet hast. Das ist keine Koalition für Rentner, sondern eine der sozialen Vernunft und übrigens auch der Humanität im Arbeitsleben.
    Heinemann: Prompt rufen die Beamten, wir wollen auch mit 63 in Rente.
    Schulz: Na ja, Beamte gehen ja gar nicht in Rente, sondern die kriegen Pensionen und deren Arbeitsbedingungen sind, auch die Leistungen nicht zu vergleichen mit den Leuten, über die wir gerade bei der Rente geredet haben. Insofern habe ich Verständnis für den Ruf, aber bin ich nicht dafür, dass man das so macht.
    Heinemann: Beamte beim Zoll zum Beispiel beginnen auch in sehr jungen Jahren und haben unter Umständen durchaus ein ausgesprochen …
    Schulz: Beamte beim Zoll gehen, glaube ich, wie bei der Polizei mit 60 in Pension.
    Heinemann: Der Verband fordert aber eine Pension mit 63 auch für die gesamte Beamtenschaft. Das haben Sie auch gelesen?
    Schulz: Ja. Ich habe Ihnen das ja gerade beantwortet. Die Beamten gehen in Pension. Wir haben mit abschlagsfreier Rente nach 45 Jahren geredet. Ich glaube, das sind zwei unterschiedliche Welten.
    Heinemann: Diese abschlagsfreie Rente mit 63 für langjährig Versicherte gehört ja zur SPD-Mitgift jetzt in der schwarz-roten Ehe. Jetzt ist rausgekommen, nach Angaben des Bundessozialministeriums und der Deutschen Rentenversicherung, dass dabei Frauen benachteiligt und Männer mit hohen Rentenansprüchen begünstigt werden. War das beabsichtigt?
    Schulz: Mit Sicherheit nicht! Ich habe das auch gelesen. Im übrigen sind für diese, im Koalitionsvertrag angekündigten Maßnahmen Gesetzgebungsverfahren notwendig. Wenn sich im Gesetzgebungsverfahren herausstellt, dass dort Dinge präzisiert werden müssen, wird sicher der Deutsche Bundestag die entsprechenden Konsequenzen ziehen.
    Der Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verantwortlich
    Heinemann: Das heißt, es beginnt jetzt nicht wieder die Phase der handwerklichen Fehler?
    Schulz: Na ja, wenn Sie vom Grundsatz davon ausgehen, dass der Deutsche Bundestag voll sitzt mit Leuten, die jetzt schon sozusagen im Vorgriff die handwerklichen Fehler unterstellt bekommen, dann kann ich Ihnen da nur sagen: Vertrauen Sie mal auf die Volksvertreter. Ich glaube schon, dass die in der Lage sind, gute Gesetze zu machen. Ich finde das schon bemerkenswert, wenn man erkennt, dass ein bestimmtes Gesetz gemacht werden muss mit einer bestimmten Notwendigkeit, dann schon von vornherein zu sagen, das ist der Beginn der handwerklichen Fehler. Da überlasse ich jetzt Ihnen die Interpretation. Ich würde mich dem so nicht anschließen. Das werden Sie aber verstehen können, ich bin auch Abgeordneter, dass ich da mehr auf der Seite meiner Kollegen stehe.
    Heinemann: Verstehe ich, habe ich vollstes Verständnis für, Herr Schulz, ist doch keine Frage. – Es war auch nicht die Begründung von mir, sondern eher von den Grünen, die sagen, statt Leute zu begünstigen, die sowieso hohe Rentenansprüche haben, sollte man zum Beispiel lieber die Erwerbsminderungsrente stärken. Das sind Menschen mit körperlichen Leiden, denen es wirklich schlecht geht.
    Schulz: Ich glaube, dass im Koalitionsvertrag auch zur Erwerbsminderungsrente eine Aussage getroffen worden ist. Ganz sicher ist es so, dass Menschen mit besonderen Behinderungen oder besonderen Einschränkungen auch einer besonderen Betreuung bedürfen. Darüber ist in den Koalitionsverhandlungen relativ ausführlich geredet worden. Ich gehe davon aus, dass der Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner Gesetzgebung in den kommenden Monaten diesen Punkt sicher aufgreifen wird. Wenn nicht, unterstelle ich mal, werden die Grünen im Deutschen Bundestag darauf zurückkommen.
    Heinemann: Herr Schulz, zwei Juristen stellen heute in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Frage: Was passiert eigentlich, wenn Abgeordnete während der laufenden Legislaturperiode vor die Notwendigkeit gestellt sein sollten, vom Koalitionsvertrag abzuweichen? Das kann ja durchaus passieren. Müssen dann die SPD-Mitglieder noch mal befragt werden?
    Schulz: Ganz sicher nicht, und ich bin auch überrascht, dass Juristen das überhaupt in die Diskussion bringen, weil das Grundgesetz diese Frage beantwortet hat. Der Abgeordnete ist frei, an Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen verantwortlich. Das kann auch nicht durch einen Mitgliederentscheid der SPD eingeschränkt werden.
    Enttäuschungen sind möglich
    Heinemann: Haben die Mitglieder den Parlamentariern jetzt einen Blankoscheck ausgestellt?
    Schulz: Die Mitglieder der SPD entscheiden über eine Entscheidung des SPD-Vorstandes und nicht über Entscheidungen der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Das ist ein großer Unterschied. Ich wiederhole deshalb noch einmal: Dieser Mitgliederentscheid ist eine parteiinterne Willensbildung, die am Ende den einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht bindet. Den bindet nur das Grundgesetz, und das Grundgesetz regelt ganz klar, was der Abgeordnete darf, nämlich seinem Gewissen folgen, und es gibt kein imperatives Mandat in Deutschland. Insofern ist das eine akademische Diskussion, die sich in der Praxis übrigens nicht bewährt. Es entstehen immer wieder auch im Deutschen Bundestag abweichende Meinungen, die übrigens in der Öffentlichkeit auch meistens auf große Zustimmung stoßen, oft weniger in den Parteien, aber denken Sie mal an die Euro-Rettungspolitik der letzten Jahre, wie viele Abweichler sie da bei der FDP und bei der CDU hatten.
    Heinemann: Sehen Sie denn nicht die Gefahr großer Enttäuschung, wenn jetzt die SPD-Mitglieder einem ganz klaren Konzept zugestimmt haben und die Abgeordneten möglicherweise gezwungen sein werden, etwas ganz anderes zu beschließen?
    Schulz: Die Frage ist theoretisch.
    Heinemann: Stimmt!
    Schulz: Natürlich kann Enttäuschung entstehen, wenn Abgeordnete etwas anders beschließen als das, was die Parteibasis abgestimmt hat. Aber zunächst einmal ist es so, dass der Koalitionsvertrag und übrigens auch das in dem SPD-Konvent festgelegte Grundsatzprogramm, mit dem wir in die Koalitionsverhandlungen gegangen sind, ja auch von der Bundestagsfraktion der SPD mit beschlossen worden ist und begrüßt worden ist. Insofern halte ich diese Frage für theoretisch. Sollte davon abgewichen werden, wird vor allen Dingen in der Bundestagsfraktion darüber diskutiert. Das heißt, die Abgeordneten sind dort Mann und Frau genug, um ihre eigene Position zu bestimmen. Dass es da möglicherweise Enttäuschungen gibt, kann sein, aber warum sollte es die Enttäuschungen geben? Ich gehe davon aus, dass diese Koalition ihr Programm unter maßgeblichem Einfluss der SPD wird umsetzen können.
    Heinemann: Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments und Mitglied des SPD-Vorstands. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Schulz: Danke Ihnen, Herr Heinemann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.