Mittwoch, 17. April 2024

Archiv

"Endstation Sehnsucht" am Berliner Ensemble
Umjubelter Alptraum

Glück und Wohlstand sind für jeden zu erreichen: Ein Traum, den der amerikanische Dramatiker Tennessee Williams in seinem Stück "Endstation Sehnsucht" als Lüge entlarvt. Michael Thalheimer hat diesen Theaterklassiker der Nachkriegszeit auf die Bühne des Berliner Ensembles gebracht.

Von Michael Laages | 22.04.2018
    Sina Martens (als Stella), Cordelia Wege (als Blanche) und Andreas Döhler (als Stanley), v.l., während der Fotoprobe zu Endstation Sehnsucht im Berliner Ensemble, April 2018.
    Sina Martens (als Stella), Cordelia Wege (als Blanche) und Andreas Döhler (als Stanley), v.l., während der Fotoprobe zu "Endstation Sehnsucht" (imago stock&people)
    An den Friedhöfen, den "Cemeteries" solle sie sich orientieren, wurde ihr gesagt, auch an den "Elysian Fields", wie die "Champs-Élysées" oder "himmlischen Gefilde" auf dem Stadtplan von New Orleans heißen. Zuerst aber solle sie die Straßenbahnlinie nehmen, die "Sehnsucht" heißt - "Desire" ist ein Stadtteil und war eine Endstation im öffentlichen Nahverkehr der Stadt. Dem Stadtplan entnahm Tennessee Williams bekanntlich die poetisch-finstren Begriffe, als er vor 70 Jahren "A Streetcar Named Desire" schrieb, "Endstation Sehnsucht" eben.
    "Desire" war schon damals eher ein Viertel der Sehnsuchtsvollen, aber Hoffnungslosen. Und hier kommt Blanche an, um die Schwester Stella zu besuchen, die hier mit Stanley Kowalski lebt, dessen Eltern einst aus Polen eingewandert waren. In der alten Heimat, aus der Blanche jetzt kommt, irgendwo im tieferen Louisiana, hat sie alles verloren: ein ehedem herrschaftliches Gut, den Rest der Familie, Arbeit, Liebe und den früher mal guten Ruf. Der Fluchtpunkt "Desire" wird für sie zur Endstation.
    Streit der Schwestern und ein mieser Macho
    Schon die Begegnung der Schwestern ist voller Vorwürfe – Stella ging weg von zu Hause, als Papa starb, Blanche blieb.
    Blanche: "Du wirst mir Vorwürfe machen, ich weiß, dass Du gar nicht anders kannst. Aber Du bist weggegangen, ich bin geblieben und musste mich wehren. Du bist weggezogen und hast Dich nur um Dich selbst gekümmert!"
    Stella: "Für mich selbst zu sorgen war das Beste, was ich tun konnte, Blanche!
    Blanche: "Ich habe habe dafür gekämpft, habe geblutet, bin fast dafür gestorben."
    Stella: "Hör auf mit diesem hysterischen Theater und sag mir, was passiert ist!"
    Ganz und gar unzugänglich aber bleibt Stellas ruppiger Gatte Stan. Der ist sofort hinter dem verlorenen Grundbesitz her, den die Schwestern mal hätten erben sollen. Und als da offenkundig nichts zu holen ist, beginnt er die verfahrene Geschichte vom immerwährenden Abstieg der entlassenen Lehrerin Blanche auszugraben, bis all deren Lügen und Tagträumereien zusammenbrechen und der miese Macho die Arme auch noch vergewaltigt. Danach bleibt nichts mehr als die finale Verwahrung in der Psychiatrie, die Endstation.
    Bühnenraum lässt Schauspieler nicht aufrecht stehen
    Kaum übrigens ist Blanche angekommen bei Schwester Stella (und von der neugierigen Nachbarin Eunice ins Kreuzverhör genommen worden), nimmt sich Cordelia Wege in der Premiere den erschöpften Satz: "Ich fall‘ gleich um!" Das ist ein echter Lacher – denn tatsächlich sind alle immerzu in der Gefahr umzufallen "auf", besser: "in" Olaf Altmanns Bühnenraum. Altmann ist Theaterdeutschlands fundamentalster, grundsätzlichster Bühnen-Architekt; völlig abstrakt ist auch der neue Raum, und zugleich ist die Wirkung unerhört real – eine Art quergelegte Schießscharte hat Altmann in eine kupfern glänzende und die Bühne völlig verschließende Wand geschnitten; und das Gefälle in diesem Aus-Schnitt ist enorm: geschätzt um die 35 Grad. Links unten auf Bühnenhöhe mündet dieses Spiel-Segment rechts oben auf Höhe des Ranges. Niemand kann hier gerade stehen oder gehen, jede Bewegung im Raum ist ein Angriff auf die Waden-Muskulatur des Ensembles. Nur Blanche, die Gestrandete, darf sich links unten an die Wand oder den Boden lehnen.
    So ist notwendigerweise alles aus jeder Art von Gleichgewicht. Auch die Welt der Bowling oder Poker spielenden Männer bleibt hinten immer im Halbdunkel; greifbar werden die Kerle nur, wenn sie sich zwischen die Frauen mischen. Andreas Döhlers Stan Kowalski bleibt durchweg grob, brutal und unberechenbar. Einziger Sympathieträger wird Peter Moltzen als Nachbar Mitch, der sich fast eingelassen hätte auf Blanche als Partnerin – aber sich natürlich sofort zurückzieht, als Kumpel Stan deren Geschichte und Geschichten aufgedeckt hat. Blanche, schon fast verloren, formuliert ein Motto, dass Regisseur Thalheimer sehr ernst nimmt:
    "Ich will keinen Realismus – ich will Zauber!"
    Zauber? Eher Alptraum – zumal Thalheimer das Ensemble in dieser zutiefst schmerzhaften Szenerie bis an physische Grenzen treibt. Text ist dabei häufig nicht gar so wichtig, speziell im ersten Drittel lässt Thalheimer die Text-Maschine anwerfen. Cordelia Wege, Sina Martens als schwangere und immer selbstbewusster agierende Stella und Andreas Döhler als Kowalski bleiben in kaum variablen Tonlagen und Erregungszuständen. Erst Moltzen (und zu Beginn schon Kathrin Wehlisch als Nachbarin) fächern das Spiel ein wenig weiter auf.
    Die Power ist in jedem Fall enorm. Da ist Jubel ohne Ende sicher. Ob aber noch ein paar Rätsel mehr lauern unter der starken Story? In diesem Schreckensbild eher nicht.