Donnerstag, 25. April 2024

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Wie werde ich 100?
„Täglich eine Handvoll Nüsse“

Weniger essen, weniger Alkohol, mehr Bewegung, seinem Leben Sinn geben – das sind Ratschläge, die Hundertjährige den Autoren Klaus Brinkbäumer und Samiha Shafy gegeben haben. In ihrem Buch geht es auch um den Einfluss der Religion – etwa, wenn sie Menschen motiviert, gesund zu leben.

Klaus Brinkbäumer im Gespräch mit Andreas Main | 06.09.2019
Kiyo Uema
Kiyo Uema lebt im Süden Japans auf der Insel Okinawa – in einer der sogenannten Blue Zones mit einer extrem großen Dichte an hundertjährigen Menschen (Samiha Shafy & Klaus Brinkbäumer)
Geborgenheit, Dankbarkeit sowie Religiosität scheinen lebensverlängernde Wirkungen zu haben. Zumindest sagte Klaus Brinkbäumer im ersten Teil dieses Gesprächs im Dlf: Rund drei Viertel der von uns Porträtierten sind oder waren religiös. Im zweiten Teil des Gesprächs geht es – neben der Religion – auch um ein paar ganz handfeste Tipps, wie es gelingen kann: das "kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben", so auch der Titel des Buches. Brinkbäumer war "Spiegel"-Chefredakteur, ist jetzt Autor der "Zeit" und lebt mit Samiha Shafy unter anderem in New York.

Andreas Main: Herr Brinkbäumer, jetzt mal jenseits der Religion und dann doch wieder weltanschaulich: Wovon gehen Altersforscher aus? Wie viel machen die Gene aus, wenn wir sehr alt werden, und wie viel macht unser Verhalten aus, unsere Einstellung, das ganze Drumherum?
Klaus Brinkbäumer: 30:70! Also, 30 Prozent werden von Genen bestimmt. Dem sind wir ausgeliefert. Das kann man betrüblich finden, das kann man natürlich aber auch drehen und sagen: 70 Prozent sind ganz schön viel.
70 Prozent liegen in unserer Hand. Wobei ein Teil dieser 70 Prozent natürlich auch wiederum Schicksal ist. Wo wir geboren werden, wessen Sohn oder Tochter wir sind, können wir logischerweise nicht entscheiden. Da kommen wir dann zu Fragen der Bildung, der Erziehung, des Wohlstands, die alle einen Einfluss auf Langlebigkeit haben. Aber zu diesen 70 Prozent zählt ganz entscheidend: Was mache ich mit meinem Leben? Wie ernähre ich mich? Wie bewege ich mich? Was will ich vom Leben? Habe ich in all dem, was ich tue, einen wirklichen Sinn gefunden? Das ist ganz, ganz wichtig für Langlebigkeit. Habe ich Dinge, die mich wirklich beschäftigen und ausfüllen? Und dann sind 70 Prozent ganz schön viel. Wir können eine ganze Menge steuern. Ohne Glück allerdings geht es auch nicht.
"Bewegt haben wir uns sowieso"
Main: Also, wir können eine ganze Menge steuern, sagen Altersforscher. Wie sehen es Ihre Porträtierten? Gehen die davon aus, dass sie überwiegend fremdbestimmt sind durch Gene oder andere fixe Faktoren? Oder sehen die ihr Alter auch primär begründet in ihrem Freiheitshandeln?
Brinkbäumer: Ganz unterschiedlich. Es gibt einige, die sagen: "Das war alles in Gottes Hand." Darüber haben wir ja gestern gesprochen. "Ich konnte gar nichts dazu tun. Ich wollte auch gar nicht so alt werden. Gott lenkt mich, und Gott wird irgendwann sagen, wann es endet." Solche Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen hatten wir.
Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer
Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer haben sich für ihr Buch auf die Suche nach der Weisheit der Hundertjährigen gemacht (Verlag S. Fischer / Tobias Everke)
Einige andere haben gesagt: "Das ist alles Zufall. Ich bin 1918 geboren, ich bin halt auf den Feldern meines Heimatdorfes herumgetollt als Kind. Dann haben wir immer Minestrone gegessen und natürlich das Gemüse aus dem eigenen Garten. Bewegt haben wir uns sowieso, weil wir halt ständig draußen gespielt haben. Heute habe ich erfahren, dass das gesund ist, ja, aber es war nicht bewusst so angelegt." So ist das natürlich bei vielen dieser Generation. Fitness oder auch das Verständnis von Ernährung, das wir heute haben, waren vor 80, 90 oder eben 100 Jahren natürlich nicht so verbreitet, wie sie es heute sind.
"Sie strahlt so viel Kraft aus"
Main: Ein Satz, der um diese Fatalismus-Fragen kreist, der kommt von Hilde Hefti aus der Schweiz. Auch sie ist so um die 100. Sie sagt Ihnen – Zitat: "Man muss lernen, frühzeitig ja zu sagen zu den Sachen, die nicht zu ändern sind. Und versuche täglich, dein Leben zu lieben, so, wie es eben ist!" Also, das ist schon auch eine Haltung, ja, von der kann man lernen.
Brinkbäumer: Ja, von Hilde Hefti kann man ganz viele Dinge lernen. Sie ist eine beeindruckend kreative Frau. Sie dichtet, sie tanzt und hat es offenbar geschafft, wir haben sie mehrfach besucht, mit den größten Niederlagen, wenn man es denn Niederlagen nennen will, sagen wir mal, Einschlägen in ihrem Leben, fertig zu werden. Sie war im Krieg. Sie war im Osten, also im östlichen Teil der damaligen Kriegsgebiete im Zweiten Weltkrieg. Sie hat täglich Menschen sterben gesehen.
Hilde Hefti
Hilde Hefti hat sich Kreativität und Lebensfreude bewahrt (Samiha Shafy & Klaus Brinkbäumer)
Sie war selbst in höchster Gefahr. Sie erzählt die Geschichte, wie sie in einem Zug war nach Bergen-Belsen und haarscharf entkommen ist – also, in Richtung Konzentrationslager Bergen-Belsen. Ihr Ehemann ist früh verstorben, den sie sehr, sehr, sehr geliebt hat. Sie hat Krankheiten überwunden. Sie hat eine extrem schwierige Kindheit gehabt mit einer trinkenden Mutter und ist da durchgekommen und hat sich Optimismus bewahrt, Kraft bewahrt, findet Sinn in den Dingen, die sie tut: Tanzen, Dichten. Ist extrem gastfreundlich. Also, wir hatten keine Hundertjährige, die uns bei jedem Besuch zum Essen ausgeführt hätte. Das macht aber Hilde Hefti. Ich kann jetzt nicht sagen, dass wir deswegen immer wieder zu ihr gefahren sind, aber es war eine Freude, sie immer wieder zu befragen und zu treffen, weil sie so viel Kraft ausstrahlt. Das wiederum tun viele Hundertjährige.
Main: Wir waren eben bei den Genen. Es sind – so mein Eindruck – viele jüdische Hundertjährige zu finden in Ihrem Buch. Und auch, wenn es sich jetzt womöglich unbedarft oder gar dämlich oder gar rassistisch anhören mag, aber haben Sie so was wie ein jüdisches Gen für langes Leben entdeckt?
Brinkbäumer: Nein. Es gibt die Theorien, dass in den … na, also, in der Sowjetunion, in Osteuropa, dass es dort Gegenden mit einem sogenannten Langlebigkeitsgen gebe und dann durch Migration natürlich, durch Flucht, Zweiten Weltkrieg konnten dort keine dieser sogenannten Langlebigkeitszonen, Blue Zones entstehen, weil die Menschen weggegangen sind oder ermordet wurden. Theorien gibt es. Bei unseren Recherchen konnten wir dergleichen aber nicht entdecken. Dafür waren die Gespräche mit jüdischen Gesprächspartnern auch zu vereinzelt. Also, wir haben ein wunderbares Interview mit Max Webb, einem Auschwitz-Überlebenden in Kalifornien, in Los Angeles geführt. Aber aus einem Gespräch kann man natürlich keine allgemeinen Theorien ableiten.
Max Webb
Max Webb trägt die Gräuel der Naziherrschaft noch auf dem Arm (Samiha Shafy & Klaus Brinkbäumer)
Main: Es kann natürlich auch an ihrem Faible für New York liegen, dass Sie relativ viele hundertjährige Jüdinnen und Juden porträtieren. Wenn wir mal bei religiöser Herkunft bleiben. Ich meine, mehr Katholiken als Protestanten identifizieren zu können.
Brinkbäumer: Oh, gefährliches Terrain.
Main: Täuscht das?
Brinkbäumer: Nein, kann sein. Kann sein. Darüber habe ich nie nachgedacht. Wir haben über Glaube nachgedacht, aber wir haben jetzt nicht zwischen Katholiken und Protestanten unterschieden. Wahrscheinlich sind das aber mehr, ja.
"Keine Hundertjährigen in Dubai oder Kairo"
Main: Auch, wenn ich jetzt zugebe, dass ich erst auf Seite 330 bin, während wir hier sprechen. Mir scheint, Sie haben keine muslimischen Hundertjährigen gefunden. Gibt es die nicht?
Brinkbäumer: Ich nehme an, dass es sie gibt. Gesucht haben wir in Dubai und Kairo. Danach gefragt oder recherchiert haben wir natürlich auch in anderen Ländern. In Dubai war niemand zu finden, der nachweislich über 100 Jahre alt war. Und in Kairo, wo die Lebenserwartung gering ist – wie im ganzen Ägypten, das hat mit dem Gesundheitssystem und der enormen Hitze zu tun, Menschen sterben an bei uns als klein angesehenen Krankheiten – auch nicht. Also, keine Hundertjährigen, die wir dort gefunden hätten. Wir hätten gerne welche gefunden, haben wir aber nicht.
Main: Sie haben keine Erklärung?
Brinkbäumer: Na, ich würde es nicht mit dem Glauben zusammenbringen. Ich würde es mit den Weltregionen zusammenbringen.
"Ein mildes, warmes Klima fördert Langlebigkeit"
Main: Ja, aber im asiatischen Raum ist ja auch nicht jeder reich - und doch haben Sie dort durchaus einige Hundertjährige gefunden, die von fernöstlichen Religionen und Weltanschauungen geprägt sind.
Brinkbäumer: Das stimmt. Also, ich würde es mit Regionen insofern zusammenbringen, als es mit Klima und dann wiederum wegen des Klimas mit Ernährungsfragen zu tun hat.
Alda Philo
Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer haben Hundertjährige rund um den Globus besucht (Samiha Shafy & Klaus Brinkbäumer)
In der Wüste, also den Emiraten zum Beispiel, gibt es Legenden und Geschichten von Menschen, die angeblich 117 oder 134 Jahre alt geworden sind, aber dann keinerlei Belege. Ich würde das eher in den Bereich der Mythen hineinsortieren. Wir haben gesucht und – wie gesagt – keine Hundertjährigen dort gefunden.
Im Staub von Kairo wächst nichts, was gesund wäre. Die medizinische Versorgung ist miserabel. Es ist enorm heiß. Und wir wissen, dass sowohl gute Ernährung im Sinne von Vielseitigkeit, Gemüse, Obst betreffend, als auch ein mildes, warmes Klima Langlebigkeit fördern. Es darf nicht zu heiß sein. Es darf nicht zu kalt sein. Und in Kairo ist es bisweilen weit über 40 Grad.
"Gesund leben, wenig essen"
Main: Das gilt nicht für die Regionen, in denen Siebenten-Tags-Adventisten leben. Da gibt es auch überproportional viele Hundertjährige. Da hat es wahrscheinlich auch weniger mit der Religion an sich zu tun, dieser christlichen Freikirche, sondern mit Ernährung?
Brinkbäumer: Na, die Religion leitet die Gläubigen dort an, in Loma Linda, Kalifornien, leitet sie an, ja, sehr gesund zu leben, nicht zu rauchen, keinen Kaffee zu trinken, keinen Alkohol zu trinken, gesund zu essen, wenig zu essen.
Main: Die meisten sind vegetarisch.
Brinkbäumer: Die meisten sind Vegetarier. Und das führt zu verlängertem Leben. Loma Linda ist eine der fünf sogenannten Blue Zones. Blue Zones sind die Orte, an denen besonders viele Menschen besonders lange leben, wie Sardinien oder wie Okinawa in Japan. Und Loma Linda, der Ort, den Sie gerade ansprachen, ist einer dieser Orte. Ich würde auch sagen, dass das mit dem Glauben an sich weniger zu tun hat, als mit dem, wozu der Glaube anregt oder anleitet sogar. Und das ist die Lebensweise.
"Passt auf und lebt!"
Main: Wenig Alkohol, Sie haben es schon angesprochen, das zieht sich durch. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass es um Totalaskese geht. Es geht womöglich um die Balance?
Brinkbäumer: Es geht um die Balance. Und das ist es für mich, dieses Gleichgewicht zu finden. Die Japaner in Okinawa reden vor allem von dem Sinn, den das Leben haben muss. Ikigai heißt das Wort.
Warum stehe ich morgens auf? Was will ich eigentlich wirklich vom Leben? Und was will ich vom Leben, wenn ich 100 Jahre alt bin? Ich darf den Sinn in all dem nicht verlieren. Die raten uns: "Lebt, lebt, lebt! Tut das, was euch wirklich etwas bedeutet, was wirklich eure Leidenschaft ist!" Und dann haben wir natürlich immer wieder gehört: "Passt auf euch auf! Seid vorsichtig! Ernährt euch gut! Bewegt euch viel! Geht keine Risiken ein, die alberner Quatsch sind, sondern geht nur die Risiken ein, die sich wirklich lohnen! Treffe weise Entscheidungen!" Und das, also diese Kombination ist für mich genau die Balance, die Sie gerade angesprochen haben. Passt auf und lebt!
"Täglich eine Hand voll Nüsse!"
Main: Heute Morgen habe ich in Ihrem Buch gelesen über die Bedeutung von Nüssen. Heute Abend werde ich mir Nüsse kaufen. Gibt es noch weitere ganz praktische Tipps, wo Sie auch merken, es hat Ihr Leben verändert?
Brinkbäumer: Die Nüsse haben mich erst mal zum Staunen gebracht. Täglich eine Hand voll Nüsse – sagen nicht die Gläubigen in Loma Linda, sondern die Wissenschaftler, die sich mit denen beschäftigen – verlängert die Lebenserwartung um drei Jahre. Es dürfen auch salzige Nüsse sein. Die allerdings haben einen etwas geringeren Effekt, ja. Ich esse seitdem jedenfalls mehr Nüsse als vorher, wenn auch nicht täglich.
Ja, ich habe eine ganze Menge Dinge verändert. Das sind kleine Dinge. Ich trinke weniger Alkohol. Ich esse weniger Fleisch. In Japan lernt man, dass man auch wirklich glücklich werden könne und viel Freude am Essen haben könne, wenn man nur zu 80 Prozent satt ist. Die Menschen nehmen schlicht weniger Kalorien zu sich als Amerikaner und sind gesünder. Das ist nachgewiesen. Sie werden später krank. Sie werden weniger krank.
Pliao Phetpuang
Viele der Hundertjährigen sind in großer Würde gealtert (Samiha Shafy & Klaus Brinkbäumer)
Ich esse kleinere Portionen. Ich höre ein bisschen früher auf. Andere Dinge habe ich immer schon gemacht. Also, ich habe immer Sport gemacht und versucht, das zu tun, was wirklich meine Leidenschaft ist, also zu schreiben, zu segeln, Dinge, die ich wirklich voller Begeisterung tue und die mich hoffentlich alt werden lassen.
Main: Zum Schluss – mir scheint, dass Ihr Buch auch wirklich ein Buch ist über die Würde, über die Würde des Menschen jenseits von Nutzen und Verwertbarkeit. Was hat das verändert in Ihnen?
Brinkbäumer: Die Menschen sind sehr würdevoll alt geworden. Sie blicken milde auf das Leben. Sie sind stolz. Sie sind verankert in ihrer Familie. Sie blicken auf die Zukunft ihrer Enkel. Es ist so ein wirklich großes, großes Menschsein. Und ich bin dankbar, diese Recherche gemacht zu haben.
Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer: "Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben – Die Weisheit der Hundertjährigen. Eine Weltreise"
S. Fischer 2019, 448 Seiten, Hardcover, 22 Euro
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.