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William Davies
„Nervöse Zeiten“

Wie geht man damit um, dass im politischen Diskurs Emotionen immer öfter Fakten schlagen? Indem man Emotionen als Teil menschlicher Wesenszüge ernstnimmt und einander zuhört, meint William Davies. Man müsse Ängsten eine Stimme geben, damit diese nicht in noch destruktivere Bahnen gerieten.

Von Matthias Bertsch | 26.08.2019
Buchcover: "Nervöse Zeiten" von William Davies. Hintergrund: Nervenzellen
Emotionen müssen in den politischen Diskurs eingebunden werden, fordert William Davies. (Buchcover: Piper/ Hintergrund imageBROKER/Simone Brandt )
Donald Trump, der Brexit und eine wachsende Eliten- und EU-Feindlichkeit in weiten Teilen Europas. Diese Stichworte reichen, um deutlich zu machen, worum es William Davies geht: Die Grundfesten der westlichen Welt sind in Schieflage geraten. Wo lange das Wort von Wissenschaftlern und Technokraten galt, wenn es um Fragen der Zukunft ging, dominieren heute emotionale Reize unsere Gesellschaften. Und das lässt sich in Zeiten des Internet auch nicht einfach abstellen, so William Davies.
"Anstatt zu beklagen, dass sich in der Politik Emotionen breitmachen, müssen wir die Fähigkeit von Demokratie wertschätzen, Ängsten, Kummer und Besorgnissen eine Stimme zu geben, die sonst in weitaus destruktivere Bahnen gerieten."
Um die Bedeutung der Gefühle angemessen zu verstehen, wendet sich der Autor zunächst ihrem Ausschluss aus dem politischen Raum zu. Ausgangspunkt seines Ritts durch die Geschichte ist das Jahr 1651, in dem Thomas Hobbes seinen Klassiker "Leviathan" veröffentlichte. Geprägt durch die Verwüstungen, die der englische Bürgerkrieg und der dreißigjährige Krieg über große Teile Europas gebracht hatten, schuf der englische Philosoph die Figur eines allmächtigen Herrschers, dem sich die Bürger freiwillig unterordneten – aus Angst vor den unkontrollierbaren Gefühlen ihrer Mitmenschen.
Ideal und Wirklichkeit
Einen wirksamen Schutz dagegen schienen etwa Kaufleute zu bieten, die nur an Handelsrouten und Verträgen interessiert waren, und jene Gelehrten, die sich ab 1660 in der Royal Society, der britischen Akademie der Wissenschaften, zusammenfanden. Ihr Ideal des emotionslosen Wissenschaftlers, der objektive Fakten liefert, ist bis heute Vorbild für die akademische Welt. William Davies ist Teil dieser Welt und er wird nicht müde zu betonen, wie unverzichtbar das Festhalten an Fakten immer noch ist. Aber das ist nur die eine Seite der angeblich rein rationalen Wissenschaft, die andere ist eng mit der Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei verflochten.
"Haben Staaten und Experten Interesse daran, ihre Gesellschaften zum Zweck der Steuererhebung und gesellschaftlicher Verbesserungen zu kartieren und zu porträtieren, so herrscht ein noch größeres Bedürfnis danach, Wissen über die fremden Territorien und Bevölkerungen zu sammeln, die sie beherrschen wollen. Die Nutzung der Geometrie in der Kartografie war ein unverzichtbares Werkzeug bei der Eroberung und völkermörderischen Kolonisierung der Neuen Welt."
Wenig später folgt der in seiner schlichten Wahrheit schönste Satz des ganzen Buches: "Das Bedürfnis, von der Welt ein Bild zu gewinnen, speist sich mitunter aus einem Streben nach ihrem Besitz."
Die exklusive Wissenselite
Die Wissensökonomie, zu der für Davies neben Wissenschaftlern auch Journalisten, Politiker und Experten aller Art gehören, ist eben auch ein machtvolles Teil-System der Gesellschaft, das nicht nur objektive Fakten produziert, sondern auch Ein- und Ausschluss.
"Ein Angehöriger der Gruppe von Menschen, die in dieser ‘Wissensökonomie‘ keinen Platz haben, ist mit höherer Wahrscheinlichkeit Objekt der Untersuchung durch einen Experten als Subjekt. Weil kulturelle und wirtschaftliche Vorteile sich immer mehr rund um die großen Städte und Universitäten konzentrieren, ist Expertenwissen das, was die Privilegierten den Unterprivilegierten zufügen. Bürokratie und quantitative Forschung sind Wege, um Daten über die Bevölkerung zu sammeln, ohne die Menschen wirklich kennenzulernen und ihnen zuzuhören."
Das Gefühl, von der Wissenselite nicht wirklich verstanden zu werden, hat demnach eine ganz reale Basis. "Experten und politische Entscheidungsträger können über Dinge wie Arbeitslosigkeit oder Umwelt reden, werden aber nie erfahren, wie es sich anfühlt, wenn man arbeitslos ist oder in einer ländlichen Gemeinde inmitten in der Natur lebt. Darin jedenfalls besteht die politische Schieflage."
Der Trumpf der Gefühle im Netz
Während der erste Teil des Buches dem Niedergang der Vernunft gewidmet ist, beschäftigt sich der zweite mit dem Siegeszug der Gefühle, der eng mit dem Internet verbunden ist. So unschön die emotionalen Ausbrüche im Netz manchmal sind, für William Davies sind sie letztlich Ausdruck eines legitimen Schreis nach Anerkennung und Sicherheit. Ein Dilemma kann er allerdings nicht lösen: Nicht nur die Anhänger der Black Lives Matter-Bewegung rufen nach Sicherheit, sondern auch diejenigen, die Salvini oder Trump wählen und vor allem vor Zuwanderern geschützt werden wollen.
"Die Menschheit als Einheit anzuerkennen, in der alle Individuen den gleichen Wert besitzen, ist als ethische und politische Forderung deutlich anspruchsvoller. Aber sie wird sich in den kommenden Jahrzehnten immer dringlicher stellen, wenn die bewohnbaren Gebiete unseres Planeten weiter schrumpfen. Die Frage ist, ob unterschiedliche Bewegungen, die jeweils gleiche grundlegende Rechte auf Leben und Sicherheit verlangen, zusammengeführt werden können, und wenn ja, zu welchem Zweck."
Obwohl William Davies populistische Bewegungen in seinem Buch heftig kritisiert, am Ende plädiert er selbst für eine Form von Populismus: einen Aufschrei der vielen gegen die wenigen, die Wissenschaft und Ressourcen für ihre Zwecke nutzen. Gemeint sind damit vor allem die High-Tech-Unternehmer des Silicon Valley.
"Manche könnten den Mars kolonisieren, wie Elon Musk unermüdlich fordert. Wenn das die Zukunft des Fortschritts ist, dann kann er die meisten Menschen nicht einschließen, und seine Antriebskraft beruht zu einem großen Teil darauf, dem Schicksal zu entkommen, das die meisten von uns erwartet."
"Nervöse Zeiten" enthält viele solcher anregender Gedanken, und Davies` Plädoyer, Emotionen als menschliche Wesenszüge ernst zu nehmen und einander zuzuhören, ist nicht nur für die Politik richtig. Und doch ist gerade das Ende seines Buches enttäuschend. Von einem Ökonomie-Experten könnte man erwarten, dass er auch etwas über die Zwänge des Wettbewerbs schreibt, die Unternehmen eigentlich nur die Alternativen Wachstum oder Untergang lassen – und was diese beiden Optionen mit unseren Gefühlen machen.
William Davies: "Nervöse Zeiten. Wie Emotionen Argumente ablösen",
Piper Verlag, 383 Seiten, 24 Euro.