Freitag, 19. April 2024

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"Spectacle Spaces" in Frankfurt
Spitzen-Artisten und Clownerien mit dem Ensemble Modern

Ein ziemlich ungewöhnliches Programm bot das "Ensemble Modern" an Silvester in Frankfurt am Main: Zu Kagels Konzert-Spektakel "Variété" turnten Trapez-Künstler ohne Netz und doppeltem Boden – ein durchaus aufregendes Spektakel.

Von Ludger Fittkau | 02.01.2017
    Szene aus "Spectacle Spaces" an der Oper Frankfurt.
    Szene aus "Spectacle Spaces" an der Oper Frankfurt. (Oper Frankfurt/Barbara AumüŸller)
    Ein Gabelstapler rollt auf die Bühne. Geladen hat er einen Saxophonisten, der auf einer Palette mehrere Meter in die Höhe gehoben wird. Der Hornist des Auftaktstücks "Morceau de Concours" von Mauricio Kagel darf auf dem Boden bleiben.
    Später wird auch Dirigent Frank Ollu im Frack noch einmal kurz abheben - auf den Schultern eines Akrobaten.
    Artisten über Musikern
    Doch für die weitaus spektakuläreren Höhenflüge des Abends ist ansonsten etwa Walter Holecek zuständig, ein ehemaliger österreichischer Spitzenturner, der an sogenannten "Fliegetüchern" über den Köpfen der Musiker des Ensemble Modern schwebt. Oder die Russin Anna Roudenko, die mit ihrem extrem elastischen Leib in einem Luftring ebenfalls meterhoch über dem Klangkörper turnt.
    Gefährlich sieht das aus und gefährlich ist es auch, gibt der französische Dirigent Franck Ollu nach der unfallfrei absolvierten Veranstaltung zu:
    "Ja, es ist gefährlich, aber es ist mir lieb, nicht darüber nachzudenken. Ich gucke in die Partitur. Das ist wie ein Risiko, wenn sie im Flugzeug sind und es beginnt, wackelig zu sein. Dann bleiben sie ruhig und denken an etwas anderes. Ja, ich bin konzentriert auf die Musik natürlich. Aber es macht Spaß."
    Der Abend umfasst drei Musikstücke, die als medienkritische Entwicklungsgeschichte verbunden werden. In Mauricio Kagels "Morceau de Concours" in der Fassung für Trompete und Horn zeigen sich die Welten der Musik und des Varieté noch weitgehend getrennt – lediglich über eine Art "Webcam" werden die noch isolierten Akrobaten per Videobild in den Konzertsaal eingeblendet, während sie zuhause Dehnübungen machen oder hinter der Bühne den Pinsel in den Schminktopf tauchen.
    Clownerien zu Neuer Musik
    Ein Schminktisch mitten im Orchester stellt dann die Verbindung her zur sehr gelungenen Uraufführung des Stückes "Caravanserail" des Argentiniers Martin Matalon, der sein Handwerk unter anderem bei Olivier Messiaen und Pierre Boulez gelernt hat. Das Werk ist in viele kleine Sequenzen gegliedert, die ständige Wechsel in Klangfarbe und Tempo bieten. Die Artisten nehmen dieses Angebot, zur Musik immer wieder neue Figuren, Tanzszenen oder Clownerien auszuprobieren, ausdrucksstark an. Zunächst aber kommen Musiker und Variété-Künstler mit gesenkten Köpfen über gezückten Smartphones auf die Bühne. Außer dem, was auf den Oberflächen der Geräte in ihren Händen zu sehen ist, scheinen sie sich lediglich für ein paar Selfies mit Kollegen zu interessieren. Was gibt es aber Langweiligeres, als Jongleure, die keine Bälle durch die Luft sausen lassen, sondern regungslos auf einem Sofa im Bühneneck sitzen, auf ihr Handy starren und bisweilen träge einen Daumen wie bei Facebook nach oben strecken oder nach unten senken?
    Der US-amerikanische Clown Tom Murphy durchbricht diese triste Internet-Isolation vorne am Bühnenrand mit satirischer Pantomime, während verschiedene Varieté-Künstler aus der medienkritisch bisweilen etwas zu plakativen Handy-Starre zum Leben erwachen. Sie interpretieren Matalons abwechslungsreiches Musikstück durch ein poetisches Körper- Schattenspiel hinter einer Bühnenleinwand. Doch die pädagogische Botschaft vor der Pause lautet: Die soziale Kommunikation im Zeitalter der digital natives ist ziemlich gestört. Regisseur Knut Gminder:
    "Ich war sehr glücklich, dass das Stück von Martin so sensationell gut funktioniert hat, wo es ja mehr so autistisch und gegeneinander geht. Während wir dann im zweiten Teil dann eben die große Umarmung machen."
    Kagels "Variété" als Höhepunkt
    Diese große Umarmung von Musikern und Artisten findet dann zum vom argentinischen Tango beinflussten Stück "Variété" von Mauricio Kagel statt und wird zum Höhepunkt des sinnenfreudigen Abends.
    Alle Künstler agieren bunt gemischt wie in einer kleinen Manege, der Dirigent schlüpft nach der Pause tatsächlich in das Kostüm eines Zirkusdirektors. Dennoch gelingt es Regisseur Knut Gminder auch in diesem zweiten Teil des Programms, ein Umschlagen in Klamauk oder reines Tingeltangel zu vermeiden. Auch deswegen, weil er anders als Mauricio Kagel es ursprünglich wollte, die Körper-Akrobaten und den Klangkörper nicht räumlich voneinander trennt sondern gleichberechtigt und im engen Dialog miteinander verknüpft:
    "Wo ja eigentlich Kagel Artisten und Musiker trennen wollte und wir führen die ja hier zusammen. Man muss extrem aufpassen, es ist spektakulär aber auch gefährlich, man muss sehr achtsam miteinander umgehen. Und das hat erstens sehr schön von meiner Seite aus funktioniert, ich glaube es hat sich auch übertragen, auf die Zuschauer."
    In der Tat. Mauricio Kagel, Martin Matalon, das furiose Ensemble Modern und Spitzen-Artisten aus aller Welt – eine zauberhafte Mischung im alten Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main. Nicht nur an Silvester eine humorvolle, analoge Impfung gegen die digitalen Signaturen der Zeit: den gesenkten Handyblick und die Webcam-Vereinzelung im Wohnzimmer.