Donnerstag, 25. April 2024

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"Spectacles" von Snap Inc.
"Bin skeptisch, ob Videobrillen sich sozial durchsetzen"

Snap Inc. hat eine Sonnenbrille mit Kamera entwickelt. Die "Spectacles" sollen in diesen Tagen in Amerika verkauft werden. Netzkulturexperte Mario Sixtus glaubt nicht, dass dies der Durchbruch der Videobrille sein wird. Im DLF sagte er, die "Spectacles" seien zu eng an die Snap App gekoppelt.

Mario Sixtus im Corso-Gespräch mit Sigrid Fischer | 24.10.2016
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    Mario Sixtus ist Netzkulturexperte, Blogger und Videojournalist und ist unter anderem beim ZDF als elektrischer Reporter im Einsatz. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Anmoderation: "Spectacle", singular, ist eine Show, ein Schauspiel – mit s hinten dran wird daraus die Brille. Spectacles nennt der Instant-Messagingdienst Snap Inc., formerly known as Snapchat, sein erstes Wearable, das diesen Herbst auf den US-Markt kommt, eine Sonnenbrille, die 10-sekündige Videos aufnehmen kann, indem man seitlich dran tippt. Der Release, der Verkaufsstart, wird bestimmt ein "Spektakel", aber warum kommt nach dem Flop der Googlebrille, die als "glasshole" verschrien ist, der nächste Versuch in diese Richtung auf den Markt? Und wie viele solcher Wearables verträgt der eigentlich noch? Wir sprechen gleich darüber mit dem Netzkulturexperten Mario Sixtus.
    Sigrid Fischer: So funktioniert Kapitalismus: Egal was auf den Markt werfen, Hauptsache, es verkauft sich, und die Bilanzen blühen, ja, und der Markt ist sehr gefräßig beziehungsweise die Märkte, von denen immer neue kreiert werden. Da boomen zurzeit zum Beispiel die Wearables: tragbare Computersysteme wie Smartwatches oder Glasses oder Lenses, die man auch als Accessoire trägt – Armband, Uhr, Brille, und die Sachen machen: Fotos, Videos, Blutdruck messen, Schritte, Herzfrequenz, verbrannte Kalorien zählen und vor allem unsere Daten fressen. Das neuste Tool sind die Spectacles von Snap Inc., eine Brille, die durch leichtes Antippen an der Seite 10-sekündige Videos aus der subjektiven Perspektive aufnimmt, die dann automatisch an das Smartphone in der Tasche übertragen und möglichst natürlich über Snapchat mit anderen geteilt werden. Mario Sixtus, Netzkulturexperte, Blogger und Videojournalist, unter anderem beim ZDF als elektrischer Reporter im Einsatz, ist uns zugeschaltet. Guten Tag, Herr Sixtus!
    Mario Sixtus: Ja, schönen guten Tag!
    Fischer: Ja, Herr Sixtus, warum entwickelt ein bisher reiner Messagingdienst wie Snap Inc., formerly known as Snapchat, auf einmal Hardware?
    Sixtus: Ja, also Snap hat wohl festgestellt, dass es eigentlich eine ganz gute Idee sein mag, zu dieser App auch noch ein Gerät anzubieten, weil sie halt festgestellt haben, die Leute filmen gerne das, was sie gerade machen, und so ein Smartphone ist nur bedingt ergonomisch dafür ausgerichtet, permanent damit Fotos zu machen, und deswegen ist es eigentlich recht naheliegend, eine Brille dafür zu nehmen. Ob jetzt diese Spectacles wirklich der Marktdurchbruch der Videobrille sein werden, glaube ich eigentlich eher nicht, weil dieses Gerät auch sehr speziell für Snapchat optimiert ist und darauf ausgelegt ist, dass man dort die Fotos und Videos teilt. Snapchat ist ja so ein geschlossener Container, wo man Sachen reinwirft, und dann sind sie irgendwann weg.
    "Es sind billige, poppige Sonnenbrillen mit einer Kamerafunktion"
    Fischer: Und könnte es auch sein, dass man denkt, ui, bevor diese Snapchat-Euphorie verschwunden ist, weil die Älteren plötzlich auch sich da aufhalten und die Jungen wieder weiterziehen, so eine Art Selbsterhalt, denn wenn ich – sagen Sie ja gerade –, wenn ich das dann via Snapchat schon wieder verschicke, dann habe ich schon wieder so ein selbstreferenzielles System geschaffen?
    Sixtus: Ja klar, also Snapchat ist oder war irgendwie dieses Jahr sicher die heißeste App, von der so viel erzählt wurde, und natürlich versuchen die jetzt so ein bisschen, diese Hitze zu halten. Ob das jetzt eine gute Idee ist, dafür ein Hardwaregerät zu entwickeln, weiß ich nicht, aber man kann es mal versuchen. Die Dinger sind auch einfach nicht mehr so teuer, und das ist jetzt auch nicht so, dass diese Spectacles irgendeine Konkurrenz oder ein Nachfolger von Google Glass sind, sondern es sind so billige, poppige Sonnenbrillen mit einer Kamerafunktion, die sollen irgendwie, ich glaube, 140 Dollar kosten oder so. Also fällt eigentlich unter Spielzeug dann.
    Fischer: Und sie werden nur sehr eingeschränkt vertrieben. Man hält das so ziemlich klein, nur in den USA sowieso erst mal. Ist das eine Art Testlauf vielleicht für noch was anderes?
    Sixtus: Ja, also diese ganzen kleinen Gadgets und Wearables und solche, ich denke, das ist sowieso ein evolutionärer Prozess, der da stattfindet. Also man kann das eigentlich nur sehr bedingt am Reißbrett sich überlegen, was denn die Leute wirklich haben wollen und was ihnen gefällt und was nicht. Da sind schon ganz andere Konzerne mit auf die Nase gefallen, also so ein kleines Start-up wie Snap, deswegen bauen die jetzt mal sowas und probieren es aus, und dann werden sie feststellen, okay, wir bauen jetzt mal einen richtigen Nachfolger davon oder na gut, das fällt jetzt unter "wir haben es wenigstens mal probiert".
    Fischer: Ja, aber viele tun es ja: Sie haben ja die Google Glasses erwähnt, Google Glass hat nicht funktioniert, Apple bastelt angeblich an der smarten Kontaktlinse, HoloLens von Microsoft kann man jetzt diese Woche oder diesen Monat in Deutschland vorbestellen, Facebook arbeitet an einer Brille – also der Markt ist doch da nicht unbegrenzt, ohne Ende.
    "Fotografie ist zu einem guten Teil einfach Kommunikation geworden"
    Sixtus: Ja, es wird ja noch ausgetestet, ob es dafür überhaupt einen Markt gibt. Google Glass war sicher ein sehr interessantes Gerät im Nachhinein, muss man sagen, das ist wahrscheinlich sowas, was Apple Newton für die Smartphones war, also so eine Art Urvater wird man später mal sagen, und wahrscheinlich wird es im Museum irgendwelche Geräte davon geben, aber es war wirklich nicht ausgereift und nicht serienreif. Google hat sich da sehr weit aus dem Fenster gelehnt und gesagt, das sind tolle Dinger, und die müsst ihr alle ausprobieren. Hätten sie gesagt, wir probieren da jetzt ein bisschen was mit rum, dann wäre die Blamage wahrscheinlich nicht so groß gewesen, aber generell denke ich schon, dass Datenbrillen wirklich ein Gerät sind, was sich durchsetzen kann, weil so ein Smartphone ist ergonomisch auch einfach sehr begrenzt. Also man muss mindestens mit einer Hand, meistens mit zwei Händen daran rumfummeln, man hat es in der Tasche, man muss es reinstecken in die Tasche, rausholen aus der Tasche. Es hat diese Ergonomie, weil es die hat, weil es universell sein will, aber wenn man … Also Fotografie zum Beispiel hat ja heute eine ganz andere Funktion als noch die Kunstfotografie vor zehn oder zwanzig Jahren … Fotografie ist zu einem guten Teil einfach Kommunikation geworden. Also wir fotografieren dann irgendwie die Aussicht aus dem Hotelfenster und das Abendessen, schau, das habe ich mir gemacht, oder was ich immer häufiger sehe, zum Beispiel im Supermarkt beim Einkaufen irgendwie, brauchen wir noch dieses, oder welches Waschmittel soll ich denn holen, also …
    Fischer: Und da reichen die zehn Sekunden eben auch, vermutlich.
    Sixtus: Genau, ja, oder auch ein Standbild –
    Fischer: Ja.
    Sixtus: – oder guck mal, sind die Auberginen noch gut, ich kann das nicht sehen, sinngemäß.
    Fischer: Ja, genau.
    Sixtus: Das ist wirklich einfach hilfreich, und dabei wäre es zum Beispiel durchaus hilfreich, wenn so ein Smartphone nicht wie ein Smartphone designt wäre, sondern eher wie einer Brille.
    Fischer: Ja, jetzt ist ja Trend ein ganz wichtiger Faktor dabei oder so ein Funfaktor, und hier ist ja die Geste ganz wichtig: Ich tippe mir da so an dem Brillenbügel an der Seite. Wenn diese Geste es sein wird, vielleicht, die plötzlich total cool ist und alle diese Geste machen wollen, wie es irgendwann toll war, mit dem Laptop im Café zu sitzen oder so – kann das über sowas funktionieren auch?
    Sixtus: Die soziale Akzeptanz ist da ein ganz großes Thema. Also ein Grund dafür, warum Google Glass dann irgendwie doch nicht der große Hit geworden ist, war sicher die nicht vorhandene Akzeptanz beziehungsweise die soziale Ablehnung. Also in den USA gab es den Begriff vom glasshole, und in San Francisco gab es in Bars und Fitnessstudios so Verbotsschilder, wo dann so die Datenbrille durchgestrichen war und so. Das war auf einmal nicht mehr cool. Es war nicht so, dass die Leute early adapters waren, und das waren die coolen Leute, die haben eine Datenbrille, sondern viele Leute fühlten sich beobachtet, hatten Angst, dass sie immer fotografiert werden, im Fitnessstudio, wo man vielleicht nicht ganz so toll aussieht. Deswegen war die Akzeptanz nicht da. Sowas ähnliches, nicht ganz so stark, erlebt man jetzt so ein bisschen mit diesen Datenuhren. Also mir ist das aufgefallen, also ich habe im Freundes- und Bekanntenkreis Leute, die so eine Apple Watch haben, und wenn die im Gespräch zwischendurch mal auf ihr Smartphone gucken, ob eine E-Mail gekommen ist oder so, das hat sich mittlerweile so durchgesetzt, das fällt mir gar nicht auf, das finde ich gar nicht so schlimm, aber wenn die die ganze Zeit auf die Uhr gucken, dann denke ich, die müssen gleich weg, die haben jetzt keine Zeit mehr, die sind in Eile irgendwie.
    Fischer: Da konnotiert sich was.
    Sixtus: Genau, irgendwie so ein anderer Mechanismus rastet da ein, und mit diesen Brillen, also mit Fotobrillen bin ich auch sehr skeptisch, ob die sich sozial durchsetzen.
    Fischer: Jetzt haben die ja hier erstens mal getönte Gläser, Sonnenbrille, könnte auch ein Coolnessfaktor sein, aber es ist sofort klar, ah, da trägt einer diese Spectacles, und die sagen ja auch, die Hersteller, vielleicht mal so au einem Konzert, beim Grillabend, also da läuft man natürlich nicht jeden Tag, im Winter auch nicht, auf der Straße mit rum. Also die schränken dann auch die Nutzung schon so ein bisschen ein und positionieren das auch als Spielzeug, sagen, das ist ein Toy.
    "Man kann wahrscheinlich nicht mal eben ein Video an die Oma schicken"
    Sixtus: Denke ich auch.
    Fischer: Das sagen sie ja sogar.
    Sixtus: Ich denke, das größte Handicap für speziell diese Brille wird sein, dass sie so eng an die Snapchat beziehungsweise Snap App gekoppelt ist, dass man also wahrscheinlich nicht mal eben ein Video an die Oma schicken, per E-Mail schicken kann oder sowas.
    Fischer: Jetzt hat ja Oliver Stone im Kino gerade noch mal an Edward Snowden erinnert, und Sie haben im Februar im ZDF, Sie, Mario Sixtus, einen Film gezeigt, "Operation Naked", über eine Datenbrille, die alle im Netz verfügbaren Informationen über eine Person, die einem gegenüber sitzt, sofort anzeigt. Da gab es dann in Ihrem Film so eine richtige Proteststimmung im Volk. Die ist ja bei uns mit all diesen Dingen noch nicht zu sehen. Was muss denn passieren, dass dieser Appell an die selbstbestimmte Mediennutzung auch mal Wirkung zeigt?
    Sixtus: Ja, bisher ist das ja alles noch sehr abstrakt. Ich habe irgendeine Geschichte gestrickt, um die Erfindung einer Brille, die Gesichtserkennung hat und eben die Profile aus dem Web dazu zusammensucht, und das sind so drei Technologien, die sind alle schon da, die hat aber noch nie irgendjemand zusammengefügt. Also in Russland ist jetzt ein ganz großes Thema, da gibt es so eine App, also mit der kann man Gesichter mal eben abfilmen oder abfotografieren, und die sucht dann die entsprechenden Social-Media-Profile aus dem Web zusammen. Das heißt, ich kann sofort feststellen, wem sitze ich eigentlich gegenüber in der U-Bahn. Das ist tatsächlich da ein Thema, so eine App gibt es hier noch nicht, obwohl sie möglich wäre. Also es ist so ein bisschen so eine Technologie, die unter dem Deckel gehalten wird, weil sowohl Google als auch Facebook, die natürlich Gesichtserkennungsalgorithmen besitzen, genau wissen, wenn sie das jetzt auspacken irgendwie, dann ist Schluss mit lustig. Dann reagieren die Leute nicht mehr zaghaft. Das wäre, glaube ich, ein sehr massiver Eingriff in unseren Alltag. Also wenn jeder, der uns begegnet, auf einmal von uns weiß, wie wir heißen und was wir so im Netz treiben. In meinem Film ging es dann um jemanden, der einen Schwulenklub besucht und gleichzeitig ein Lehrer war, und das sind so zwei Rollenmodelle, die nur bedingt zusammengehen. Wenn das jetzt so ein konservatives Internet ist zum Beispiel, dann kann das schon schwierig sein, und auf einmal werden diese beiden Welten miteinander verknüpft durch so ein Gerät, und schon gibt es schwere Kollisionen.
    Fischer: Ja, möglicherweise gäbe es dann Protest, wobei wir uns in unseren westlichen Demokratien da vielleicht auch noch ein bisschen zu sicher fühlen im Moment, denken, ach, was soll da passieren. Sie, Mario Sixtus, haben mal gesagt, "ich bin der festen Überzeugung, dass die Digitalisierung für unsere Gesellschaft, für unser Leben noch einige Überraschungen mitbringen wird". Das wäre dann zum Beispiel eine, haben Sie noch eine andere Vorahnung?
    Sixtus: Och, also momentan drehen wir für ZDF Info gerade eine Doku über Drohnen, und ich denke, da wird auch noch einiges auf uns zukommen. Die sehen halt jetzt alle noch nach Spielzeug aus, und dann ist es Heiligabend, und dann werden – heute in zwei Monaten ist Heiligabend, nicht, dass Sie hinterher sagen, ich hätte nicht drauf hingewiesen –, und da werden auch wieder Drohnen verschenkt werden. Das sind alles nette Spielzeuge, aber da sind einige Anwendungen unterwegs, über die wir uns auch alle noch wundern werden, denke ich.
    Fischer: Kommt noch dieses Jahr ins Fernsehen bei ZDF Info.
    Sixtus: Genau.
    Fischer: Danke, Mario Sixtus, für das Corso-Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.