Dienstag, 23. April 2024

Archiv

"Spiegel"-Bestsellerliste Sachbuch
"Dieses Buch ist reiner Stuss"

In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen luftige 3782 Gramm auf die Waage: zusammen 3589 Seiten. Und zumindest auf Platz zehn hat sich ein Buch eingeschlichen, das das Lesen lohnt, meint Denis Scheck.

Von Denis Scheck | 03.03.2015
    Der Literaturkritiker Denis Scheck
    Der Literaturkritiker Denis Scheck ((c) dpa)
    Dieses Gehirn ist im Vorfeld der Leipziger Buchmesse ausnahmsweise recht zufrieden, ja hoch erfreut über die Vielfalt und Schönheit der deutschen Gegenwartsliteratur und findet sogar das Niveau des populären Sachbuchs hierzulande durchaus beachtlich.
    Die aktuelle "Spiegel"-Bestseller-Liste Sachbuch: Diesmal mit Büchern über Deutschland in der Gegenwart und Deutschland im Zweiten Weltkrieg, Werken aus der Feder von Granden der Historikerzunft und Titanen unter den deutschen Entertainern, Schriften von Redakteuren von "Bild", "FAZ" und "Bunte" und Machwerken anderer Lappenclowns sowie einem guten Tipp, wie man anständig alt wird.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen luftige 3782 Gramm auf die Waage: zusammen 3589 Seiten.
    Platz 10) Heinrich August Winkler: "Geschichte des Westens: Die Zeit der Gegenwart" (C.H. Beck Verlag, 687 Seiten, 29,95 Euro)
    Selten habe ich mit so großem Vergnügen einen Titel auf dieser Bestsellerliste gelesen wie diesen vierten und abschließenden Band des Historikers Heinrich August Winkler zu seiner Geschichte des Westens. Wir leben in einem tollen Land, wenn solche Bücher auf unseren Bestsellerlisten stehen. Und genau das versucht Winkler in seinem Werk das zu erklären: Wie es kam, dass aus der amerikanischen Revolution von 1776 und der französischen von 1789 Menschheitsideen wurden, die den Westen zum Motor in der Weiterentwicklung von Werten und Maßstäben machten. Dabei wird Winkler nie selbstgerecht, sondern zeigt auch die vielen Fehler und Verbrechen des Westens - zu denen just die Relativierung, ja Verschleierung dieses gemeinsamen "Werthorizonts", wie Winkler das nennt, gehört. Dieses Werk ist ein Meilenstein!
    Platz 9) Thomas Piketty "Das Kapital im 21. Jahrhundert" (Deutsch von Ilse Utz und Stefan Lorenzer, C.H. Beck Verlag, 816 S., 29,95 Euro)
    Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat ein Talent fürs treffende Bild: "Die Vergangenheit frisst die Zukunft auf" - in so leicht verständliche Metaphern kleidet Piketty seine mit einer schlagenden Fülle von Belegen versehene Geschichte der Vermögensentwicklung seit dem 18. Jahrhundert. Sein Buch befreit von dem Irrtum, "der patrimoniale, vom Vermögen und seiner Vererbung bestimmte Kapitalismus, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine solche Blüte erlebt, sei etwas völlig Neues, während es sich zu einem Gutteil um eine Wiederkehr der Vergangenheit handelt." Piketty fordert, das Kapital an die demokratische Kette zu legen. Recht hat er.
    Platz 8) Alexander von Schönburg: "Smalltalk: Die Kunst des stilvollen Mitredens" (Rowohlt Berlin Verlag, 320 S., 17,00 Euro)
    Ich habe mich wirklich bemüht, dieses Buch nicht zu mögen. Der Autor ist von Beruf "Bild"-Zeitungsredakteur, was ich verachte, und eine Anleitung zum Smalltalk brauche ich so dringend wie einen Ratgeber mit Frisur-Tipps. Aber gemessen an den Maßstäben, die dieses Brevier selbst aufstellt, ist von Schönburg ein unterhaltsames Büchlein gelungen, das lehrt, wie man Konversation betreibt, ohne an Skylla oder Charybdis des Smalltalks Schiffbruch zu erleiden, die von Schönburg treffend zwischen den Polen "Klugscheißerei" und "Moralscheißerei" verortet.
    Platz 7) Peter Scholl-Latour: "Der Fluch der bösen Tat" (Propyläen Verlag , 368 S., 24,99)
    Das Vermächtnis des brillanten Welterklärers Scholl-Latour markiert beim Wiederlesen um so deutlicher die Lücke, die sein Tod hinterlässt: Hätte er dem Westen auch heute noch geraten, auf Putins Russland zu setzen, um den Islamismus einzudämmen? Da hilft nichts als Selberdenken. Dieses Buch ist eine Anstiftung dazu.
    Platz 6) Christian Kracht, Helge Malchow (Hrsg): Leitfaden für Britische Soldaten in Deutschland 1944 (Deutsch von Klaus Modick, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 160 S., 8,00 Euro)
    Man munkelt, Sebastian Haffner sei einer jener Deutschlandkenner gewesen, die 1944 im Auftrag des britischen Außenministeriums dieses Charakterbild der Deutschen für britische Soldaten schrieben. Heute gelesen, ist die schmale Schrift eine wunderbare Meditation über den deutschen Nationalcharakter - insbesondere für solche Leser, die nicht glauben, dass es so etwas gibt.
    Platz 5) Guido Maria Kretschmer: "Eine Bluse macht noch keinen Sommer" (Edel Books, 288 Seiten, 17,95 Euro)
    Wären Kretschmers Klamotten so abgewetzt und fadenscheinig wie die Döntjes, die er in diesem Buch erzählt, seine Kundschaft würde sie ihm um die Ohren hauen. Dies ist das typische Beispiel eines Buchs, dessen Autor keinen Respekt vor dem Medium hat, der typische Kretschmer-Satz lautet: "Wie trage ich und vor allem wer sollte welches Kleid tragen." Wenn der nicht aufhört zu schreiben, entwerfe ich auch Mode.
    Platz 4) Udo Ulfkotte: "Gekaufte Journalisten" (Kopp Verlag, 336 S., 22,95 Euro)
    Eine Handreichung für alle, die an die "Lügenpresse" glauben wollen, geschrieben von einem ehemaligen "FAZ"-Redakteur, der in selten dreister Manier seine vormalige Korruptheit beichtet und Angela Merkel als "gelernte DDR-Sekretärin für Propaganda" bezeichnet. Wie alle Verschwörungstheorien ist dieser mit den Mitteln des gesunden Menschenverstands allein nicht beizukommen. So bleibt mir zu sagen: Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, niemand hat mich dafür geschmiert, dass ich sage, dieses Buch ist reiner Stuss!
    Platz 3) Paul Sahner: "Merci, Udo!" (Herder Verlag, 176 Seiten, 16,99 Euro)
    Ich weiß nicht, ob Udo Jürgens ein großer Künstler war. Aber ich weiß, dass dieses zusammengekleisterte Stück Boulevardjournalismus ein so unwürdiger Dreck ist, wie es kein Künstler verdient. Ein Buch zum Kotzen.
    Platz 2) Wilhelm Schmid "Gelassenheit" (Insel Verlag, 118 Seiten, 8 Euro)
    Ohne alle Aufgeregtheit setzt sich der Alltagsphilosoph Wilhelm Schmid in dieser lesenswerten kleinen Handreichung mit Phänomenen des Älterwerdens wie etwa der populären Verwechslung von Depression mit Melancholie auseinander. "Das Einverständnis mit dem Leben kann alle Beschwernisse des Alters überwiegen." Manchmal tun so klare Sätze wohl.
    Platz 1) Hape Kerkeling: "Der Junge muss an die frische Luft" (Piper Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro)
    Hape Kerkeling ist ein großer Entertainer, als Autor aber leider eine ganz kleine Nummer. Und mag sich dieser autobiografischer Schichtkäse auch noch so gut verkaufen: Er bleibt doch Quark.