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Spiel mit den Identitäten

"Drei Leben" reichen eigentlich gar nicht aus, um dem turbulenten Lebenslauf der japanischen Schauspielerin und Sängerin Ri Koran gerecht zu werden. Der Roman "Die drei Leben der Ri Koran" und seine exotische Protagonistin sind dabei auch als Metapher auf die gesamte Entwicklung Japans im 20. Jahrhundert zu lesen.

Von Marli Feldvoß | 03.01.2011
    "Drei Leben" reichen eigentlich gar nicht aus, um dem turbulenten Lebenslauf der japanischen Schauspielerin und Sängerin Ri Koran, die in China unter dem Namen Li Xianglan auftrat, gerecht zu werden. Zu den folgenreichsten Ereignissen im Leben der Künstlerin gehört der Film "Chinesische Nächte", der 1940 – auf dem Höhepunkt des chinesisch-japanischen Krieges - die Herzen der japanischen Zuschauer eroberte, die Chinesen jedoch verprellte. "Chinesische Nächte" war eigentlich als ein Geniestreich des japanischen Propagandaapparats gedacht, der die "zarte Blume" mit den auffallenden, für eine orientalische Frau zu großen Augen dazu auserkoren hatte, den Vormarsch der japanischen Aggressoren ins chinesische Kernland auf der Leinwand zu unterstützen. Doch dann klatschte in "Chinesische Nächte" die folgenreiche Ohrfeige ins aparte Gesicht der "Chinesin" - verabreicht von einem "Japaner". Ein Fauxpas der Regie, der in China nie vergessen wurde und dazu beitrug, dass Ri Koran, die stets für eine Chinesin gehalten wurde, nach Kriegsende dort wegen Hochverrats angeklagt wurde.

    "Warum muss ich tun, als wäre ich eine Chinesin?" fragte sie. "Warum muss ich ewig diese Farce aufrechterhalten, nur um Amakasu und der japanischen Armee einen Gefallen zu tun? In Japan werde ich geliebt, das weiß ich. In China hingegen vertraut mir keiner. Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, wie meine chinesischen Kollegen die Stimmen senken, sobald sie mich kommen sehen. Sie halten mich für eine Art Spionin. Es ist unerträglich, Onkel Wang. Ich möchte wieder ich sein."
    Wer oder was sich hinter diesem Ich versteckt, gehört zu den großen Geheimnissen des Romans, der sein Spiel mit den Identitäten bis zur letzten Zeile durchhält. Der japanische Star, der 1920 mit dem Namen Yamaguchi Yoshiko in der Mandschurei auf die Welt kam, sollte sich in Amerika in eine Shirley Yamaguchi und zurück in Hongkong wieder in Li Xianglan verwandeln.
    Großes Aufsehen erregte die Künstlerin in ihrem vermeintlich dritten Leben als Fernsehjournalistin, in welchem sie sich durch Exklusiv-Interviews mit Kim Il-sung in Piöngjang oder Reisen in Krisengebiete wie Vietnam oder den Nahen Osten profilierte. Auch als Abgeordnete Ōtaka Yoshiko in der erzkonservativen Tanaka-Regierung – in ihrer letzten "Rolle" als Sonderbotschafterin für die Dritte Welt in den siebziger Jahren – fiel sie durch ungewöhnliche Aktivitäten im Bereich "Wiedergutmachung" auf.

    "Als Erstes und Wichtigstes muss unsere Regierung mit den arabischen Ländern sowie mit anderen Teilen der Dritten Welt Freundschaft schließen. Das ist nicht nur eine praktische Notwendigkeit im Hinblick auf die natürlichen Ressourcen, deren wir dringend bedürfen, sondern es geht auch darum, die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen. Nachdem wir mehr als ein Jahrhundert lang versucht haben, das skrupellose abendländische System der Machtkämpfe zu imitieren, nur um dem Westen zu gefallen, müssen wir uns jetzt auf eine weichere, spirituellere, asiatischere Haltung besinnen und unsere Solidarität mit unseren Freunden in den Entwicklungsländern zum Ausdruck bringen. Machtpolitik hat uns schon einmal direkt in die Katastrophe geführt. Wir müssen sicherstellen, dass dieser Irrtum sich niemals wiederholt. Und hier, glaube ich, bin ich besser qualifiziert als die meisten meiner Kollegen."
    Dem ausgewiesenen China- und Japankenner Ian Buruma war eine Biografie der heute 90-jährigen Ri Koran, die er mehrmals kontaktierte, offenbar nicht Herausforderung genug. Deshalb hat er den abenteuerlichen Lebenslauf seiner Protagonistin auch noch auf drei verschiedene Erzähler verteilt, lässt diese aus ihrer jeweiligen Perspektive berichten und dazu ihre eigenen Biografien ins Spiel bringen. Das postmoderne Romanpuzzle sieht dann ungefähr so aus: der Japaner Sato Daisuke ist Kulturagent im japanischen Satellitenstaat Mandschukuo und Ri Korans Mentor von Kindesbeinen an; der bei der Filmzensur MacArthurs beschäftigte Amerikaner Sidney Vanoven lernt den Star in der Nachkriegszeit in Tokio kennen und begleitet ihre Karriere in Amerika; der Japaner Saro Kenkichi, Regieassistent bei Film und Theater, später Mitglied der Japanischen Roten Armee, erinnert sich - aus einem libanesischen Gefängnis heraus – an seine Zeit mit Ri Koran beim Fernsehen. Mit dieser Erzählstruktur hat der Autor freie Hand, alle seine Karten auszuspielen und sein enormes Wissen über den Nahen und Fernen Osten gebündelt an den Leser zu bringen.

    "Die drei Leben der Ri Koran" stellt somit ein waghalsiges Erzählgebilde dar, das sich in die unterschiedlichsten Lebenswege und Geschichtsstränge einklinkt, dabei einen Zeitraum von über sechzig Jahren, angefüllt mit japanischer Geschichte und Filmgeschichte bespielt, sodass die Rückkehr "zum roten Faden" Ri Koran gelegentlich nur mit akrobatischem Geschick – etwa mittels der soeben zitierten fiktiven Briefe - zu bewerkstelligen ist. Durch die Wechselbäder von Geschichte und Geschichten behält Ian Buruma jedoch ein wichtiges Ziel vor Augen, das man vielleicht "die Erkundung der japanische Seele" nennen könnte. Buruma spielt - virtuos und kenntnisreich - den Vermittler zu einem Phänomen, das wir gern unter "Japanisch" abhaken und beiseiteschieben, dass östliches Denken nicht nach westlicher Logik funktioniert. Sondern: "sehr wohl zwei gegensätzliche Ansichten gleichzeitig vertreten kann." (S.173) So erklärte sich auch die überraschende Anpassungsleistung Japans, das sich – nach Hiroshima – bereitwilligst in eine vom Westen geprägte demokratische Welt verabschiedete und trotzdem immer "japanisch" blieb. Der Roman "Die drei Leben der Ri Koran" und seine exotische Protagonistin sind deshalb nicht zuletzt als Metapher auf die gesamte Entwicklung Japans im 20. Jahrhundert zu lesen.

    Der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich um ein fiktives Werk handle, das sich auch die historischen Ereignisse zu seinen Zwecken zurechtgebogen oder sogar erfunden habe. Trotzdem ist die Verführung groß, das Erzählte für bare Münze zu nehmen. Vielleicht verleitet der detailreiche historische Rahmen dazu, vielleicht das Auftreten vieler bekannter und unbekannter Zeitzeugen, die erst noch (vom Leser) entdeckt werden wollen. Vielleicht ist es aber nur der Strohhalm, an den man sich klammert, um im Meer dieses ambitionierten, doch allzu weitschweifigen Epochenromans nicht ganz unterzugehen.

    Ian Buruma: "Die drei Leben der Ri Koran". Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden, Carl Hanser Verlag 2010, 384 Seiten, gebunden, Eu