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Spiel mit der jüdischen Identität

Das Spielen mit der jüdischen Identität steht im Mittelpunkt des Essays "Judentum und Popkultur" des in Basel lehrenden Kulturwissenschaftlers Caspar Battegay. Der Autor stellt unter anderem die Frage: "Was wäre, wenn Jüdisch-Sein dermaßen hip geworden wäre, dass plötzlich viele andere jüdisch werden möchten? Wenn also Jüdisch-Sein zu einer ähnlich populären Identität mutieren würde wie die Identität eines afroamerikanischen Rappers?"

Von Thomas Kleinspehn | 01.10.2012
    Eigentlich geht es um kulturelle Identität und ihre Brüchigkeit. Das Essay wendet sich nachdrücklich gegen eine Vorstellung, Identität sei etwas Essentielles, etwas Geschlossenes, mit dem man sich identifizieren könne.

    Der Theatergründer, Sänger und Schauspieler aus Tel Aviv, Theodor Bikel singt den jiddischen Klassiker "Mein Schtetele Beltz". Doch plötzlich wird das eher sentimental an die zerstörte osteuropäische jüdische Kultur erinnernde Lied zu etwas ganz anderem.

    Der kanadische Hip-Hopper DJ Socalled mischt das Stück mit Beats neu auf und rappt. Jiddisch, Polnisch, Englisch, Französisch verschmelzen und werden zu einer eigenständigen Musik-Kultur, in die vielfältige Elemente, kulturelle Splitter und Eigenarten eingegangen sind. Jüdische Kultur erscheint so nicht mehr als etwas konsistentes, sondern löst sich auf, wird brüchig und ambivalent. Bei DJ SoCalled und vielen anderen jüdischen Kulturschaffenden von heute ist das gewollt. Diese Suche nach den Brüchen und das Spielen mit Identität stehen im Mittelpunkt des Essays "Judentum und Popkultur" des in Basel lehrenden Kulturwissenschaftlers Caspar Battegay.

    "Die Popkultur der letzten Jahre hat sich in faszinierender Weise dieser Prozesse angenommen und das Spiel mit der Ambivalenz zu einem Leitmotiv der Thematisierung kultureller Identitäten gemacht. Das ist nicht nur auf den jüdischen Kontext beschränkt. … Das Judentum erscheint nicht mehr wie im Lauf seiner mehrtausenjährigen Geschichte als die paradigmatische Minderheit, sondern als Teil einer Gesellschaft, die nur aus Minderheiten besteht. Gerade für diese Umkehrung der Optik bietet die Popkultur das ideale Medium."

    Diese These verfolgt der junge Dozent am Institut für jüdische Studien in seinem schmalen, aber sehr dichten Essay. Anders als der Titel auf den ersten Blick suggerieren mag, hat er ein Buch geschrieben, das sehr viel mehr im Blick hat als Judentum und Popkultur. Eigentlich geht es um kulturelle Identität, ihre Brüchigkeit und wendet sich nachdrücklich gegen eine Vorstellung, Identität sei etwas Essentielles, etwas Geschlossenes, mit dem man sich identifizieren könne.

    Battegay sucht deshalb nach kulturellen Ausprägungen, die sich quer legen und dem Mainstream widersprechen. Und sie findet er in Musik, Film und Literatur. Aber ausgeprägt wirklich erst ab den 80er, 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Bis dahin überwog in der populären jüdischen Kultur die Suche nach der eigenen Identität des Andersseins, des Jüdisch-Seins in der Diaspora.

    Das analysiert Battegay sehr genau z.B. an den Songs von Leonard Cohen. Ebenso wie die von Allan Ginsberg oder Lou Reed unterlaufen sie in ihrer Melancholie und Ambivalenz die Brüche zwischen Maske und Identität oder anders gesagt, zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und den eigene Wünschen. Denn der Schweizer Kulturwissenschaftler versteht sie als Versuche sich der Mehrheitsgesellschaft, dem ökonomischen Aufschwung und dem Konformismus der Nachkriegszeit zu widersetzen, an denen die jüdische Mittelklasse in ihrer Mehrheit beteiligt war. Wenn die jüdische Popkultur in den sechziger Jahren die Rolle der jüdischen Außenseiter betonte, formuliert sie damit im Grunde ihre Gesellschaftskritik.

    "So kann man auch Ginsbergs Text zwischen jüdischer Liturgie und Blues, Lou Reeds Aufschrei und Leonrad Cohens Songs historisch als Momente bezeichnen, an denen sich ein Widerstand gegen die Transformation der jüdischen Minderheit in einen Teil der Mehrheit artikuliert. Man kann diesen Widerstand auch als Sehnsucht nach einem Anderssein verstehen, als eine Sehnsucht nach Babylon."

    Doch dieser Traum von Babylon artikuliert sich in den sechziger Jahren zunächst noch nicht offen, sondern vermittelt über eine Identifikation auch jüdischer Künstler mit einer anderen Minderheit: mit den ebenfalls diskriminierten Afroamerikanern. Battegay macht das an Filmen von Mel Brooks oder der Bedeutung einiger schwarzer Jazz-Musiker für jüdische Identifizierungen deutlich.

    Erst danach wird es häufiger möglich, in der Popkultur auch offen mit dem Jüdischsein umzugehen, klassisch vielleicht in den Filmen von Woody Allen oder Mel Brooks. Für den Kulturwissenschaftler liegt hier jedoch genau die Ambivalenz. Denn einerseits können die Figuren jetzt offen jüdisch sein, geben damit aber die widerständige Seite ihrer Kultur auf.

    "Was wäre, wenn Jüdisch-Sein dermaßen hip geworden wäre, dass plötzlich viele andere jüdisch werden möchten? Wenn also Jüdisch-Sein zu einer ähnlich populären Identität mutieren würde wie die Identität eines afroamerikanischen Rappers? Jüdische Identität wäre dann in Mainstream angekommen, ja hätte diesen bis zu einem gewissen Grad okkupiert und erobert."

    Das wäre die zentrale Frage an die jüdische Popkultur der dritten Generation nach der Shoa. Hatten ihre Eltern und Großeltern nach dem Trauma des Genozids noch hauptsächlich nach ihrer massiv in Frage gestellten Identität suchen müssen, so muss sich die jüngere Generation jüdischer Popkünstler positionieren zwischen Mainstream und Eigenständigkeit.

    DJ Socalled, die "New Jews" in den Clubs von Tel Aviv oder die "Radical Jewish Culture" an der Ostküste der USA kämpfen gleichermaßen um die Brücken und die Differenzen zwischen der jüdischen Tradition und dem eigenen Neuen neben dem Mainstream. Caspar Battegay ist hier sehr nah an einer ganz zentralen Frage der kulturellen Identität. Er macht sie zwar an jüdischer Popkultur fest, sie stellt sich aber genauso für andere Gesellschaften mit kultureller Vielfalt. Mit Rückgriff auf Ansätze aus den Cultural Studies um Stuart Hall und Homi Bhabha macht er zwingend deutlich, dass es bei Kultur um das Dazwischen, die Differenz und das jeweils Eigene geht.

    Sicherlich kann man das – zumal im deutschsprachigen Raum – nicht wirklich verstehen ohne einen Blick auch auf die Darstellung des Holocaust in Literatur oder Musik. Battegay spannt da den Bogen von "Schindlers Liste" bis "Alles auf Zucker" oder Maxim Billers Bücher. Doch das erweist sich eher als Umweg und es droht verloren zu gehen, was er am jüdischen Pop eigentlich entwickelt hatte: die enge Verbindung von Identität und Ambivalenz.

    "Ohne Ambivalenz und das Spielen damit kann es wohl gar keine Identität geben. Für den Umgang mit kulturellen und religiösen Identitäten in den deutschsprachigen Ländern wäre diese Erkenntnis politisch nicht unwichtig … Die Popkultur erweist die Wirkungsmacht und die Vielfalt der jüdischen Tradition. Das Judentum selbst ist darin die Figur eines Spiels, das gegen alle Selbstverständlichkeiten immer wieder neu inszeniert wird."

    So ist dieses Buch weitaus mehr als eine Sammlung von Anekdoten über jüdische Sänger, Komiker und andere Künstler. Es könnte sich sehr lohnen, den offenen Fragen weiter nachzugehen, zu spielen und auf vielfältige Weise zu betrachten – von außen oder von innen. Das Buch benennt mehr als nur eine Lücke.


    Buchinfos:
    Caspar Battegay: Judentum und Popkultur. Ein Essay,
    transcript Verlag, Bielefeld, 2012, Preis: € 19,80