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Spielräume des Öffentlichen

Jacques Rancières philosophisches Interesse gilt den Fragen der Gleichheit. In der Nachfolge von Michel Foucault hat der 68-jährige Philosoph sie anhand von Diskursen und Denkregimen zu erläutern versucht, erst in der Politik, später in der Kunst und nun in der Literatur.

Von Volkmar Mühleis | 10.08.2009
    Jacques Rancières Essay "Politik der Literatur" entzündet sich an dem Vorbild von Jean-Paul Sartres Gedanken zur politischen Reichweite von Literatur. Für Sartre hatte eine sich selbst genügende Kunst nichts mit Politik zu tun, erst das persönliche Engagement des Künstlers verlieh auch dem Werk eine politische Botschaft. Rancière betrachtet die Frage, inwieweit Politik und Literatur etwas gemein haben, dagegen strukturell: Beide bewegen sich im Bereich des Öffentlichen. Das politische Problem des Öffentlichen ist: Repräsentiert die Öffentlichkeit tatsächlich die Bevölkerung? Man könnte es auch so sagen: Wer ist sichtbar und wer nicht? Nach Rancière entscheiden sich politische Ereignisse bereits auf dieser Ebene der öffentlichen Wahrnehmung. Und hier durchkreuzen sie sich mit der Literatur:

    "Was ich Literatur nenne, ist jene moderne Art zu schreiben, wie sie sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Das heißt, sie hat sich der alten Hierarchien entledigt: zwischen heroischer Aktivität und bloßer Passivität, zwischen jenen, die zum Reden bestimmt sind und solchen, die schweigen etc. Insofern ist diese Literatur auch nicht länger als Fiktion der Wirklichkeit entgegengestellt. Ihre politische Wirksamkeit erhält sie von der daraus folgenden Absage an jede Hierarchie, womit sie zugleich ein neues Erfahrungsspektrum eröffnet, das von jedem geteilt werden kann."

    An welche konkreten Beispiele denkt er hierbei? Sein Essay gliedert sich in drei Abschnitte: Der erste behandelt die grundsätzlich philosophischen Ansätze, der zweite ihren Abgleich mit literarischen Werken und der dritte deren beidseitige Durchdringung. So untersucht er mit Blick auf Gustave Flauberts "Madame Bovary", Leo Tolstois "Krieg und Frieden", Stéphane Mallarmés Gedichte, Bertold Brechts Theaterstücke und Jorge Luis Borges labyrinthische Erzählungen seine Thesen zu einer "Politik der Literatur". Seine eigene Form des Essays lässt ihm dabei genau den Spielraum, den die Lektüre seiner Gedanken selbst zu einem literarischen Vergnügen macht. So liest man durchaus Rancières eigene Freude daran mit, wie er Emma Bovarys Selbstmord als eine Detektivgeschichte aufrollt, mit dem Erfinder ihrer Figur in der Hauptrolle des Mörders: Flaubert. Welches Interesse konnte der Schriftsteller gehabt haben, jemanden sterben zu lassen, der doch Kunst und Leben vereinen wollte, so wie die junge Emma? Rancière:

    "Mich beschäftigte hier vor allem die Frage des Ästhetizismus, wie sie von Adorno und Lyotard herrührt. Flaubert hat sie in Madame Bovary zweifach thematisiert: Selbst literarisch, indem er keinen hierarchischen Unterschied mehr machte in der Beschreibung von vermeintlich Banalem und angeblich Besonderem. Und inhaltlich, durch Emma Bovarys Sehnsucht, in der Kunst das Besondere zu finden. Er lässt Emma damit ins Leere laufen, weil sie die Hierarchie zwischen Fiktion und Realität nur umdreht. Es geht aber darum, sich ihrer zu entledigen. Und Flaubert tut dies in dem Stil, wie er schreibt, nicht dadurch, als ginge es ihm um sein Leben in der Kunst. Auf der einen Seite ist er mit seiner Hauptfigur solidarisch - ihren Verschönerungen des Alltags, ihrem Ästhetizismus -, und auf der anderen Seite muss er sie verraten, wenn es um die Kunst selbst geht."

    Rancières politische Grundfrage ist: Wie kann Gleichheit im öffentlichen Dissens gedacht werden? Und er beantwortet sie mit Blick auf die Literatur: Ohne etwa den Widerspruch von Kunst und Leben aufzuheben, stellt der Stil Flauberts ein Beispiel für ihn von literarischer Gleichheit dar. In der Kunst manifestiere sich eine Gleichwertigkeit der Dinge und Zeichen, die nur als solche über den Rand des öffentlich Repräsentativen hinausrage. So vermerkt er:

    Die Verabsolutierung des Stils war die literarische Formel des demokratischen Prinzips der Gleichheit. ( ... ) Die Demokratie der Schrift ist das Regime des Freibriefes, den jeder für sich verwenden kann, sei es, um sich das Leben der Romanhelden oder -heldinnen anzueignen, sei es, um selbst Schriftsteller zu werden, sei es auch, um sich in die Diskussion über die gemeinsamen Angelegenheiten einzumischen.

    Wie übersetzt sich dieser aufklärerische Gedanke aber in die politische Medienwelt des 21. Jahrhunderts? Als 2007 die französische Ausgabe des Essays erschien, merkte Jean Birnbaum von der Zeitung "Le Monde" an, dass kaum zeitgenössische Schriftsteller darin erwähnt würden, und Rancière verwies in einem Interview als weitere Beispiele auf die Werke von Thomas Pynchon, Don Delillo und Antonio Lobo Antunes. Entscheidend für seine Überlegungen sind drei Annahmen, wie Literatur politisch wirke: zuerst, indem sie keine Wertunterschiede mache nach Sujets oder Sprache; dann, dass sie ihre Materie selbst sprechen lasse, die Zeichen, anstatt diese nur als Mittel zum Ausdruck zu benutzen; und schließlich, dass sich das Geschriebene der vollständigen Entzifferung entziehe. Diese drei Prämissen sind für ihn nach wie vor aktuell:

    "An der Literatur interessieren mich zwei Dinge: Das Vergnügen daran, wie etwas um Haaresbreite seiner Repräsentation entgeht, und ebenso das repräsentative Spektrum, das sie einem aufzeigt. Diese Ambivalenz prägt auch das moderne Schreiben: Zum einen sind die Worte nicht die Dinge, zum anderen stehen sie in einem Bezeichnungsgeflecht zu den Dingen."

    Es geht ihm keineswegs darum, die politische Relevanz der Literatur soziologisch festzustellen. Sondern um jene drei politischen Momente, die der modernen Literatur nach seiner Lesart eigen sind: die Gleichheit von Sujet und Sprache, der Eigenwert ihrer Materie und ihre konstitutiven Undurchsichtigkeiten. Damit erschöpft sie sich nicht im einsichtig Kommunikativen oder machtvoll Repräsentativen, vielmehr wirkt sie wie ein Grund zur Figur dessen, was gerade öffentlich besprochen wird. Davon zumindest geht Rancière aus. Man würde es sich zu leicht machen, das Fernsehen als wichtigstes Massenmedium hier gegen die Literatur auszuspielen und damit zugleich ein Fragezeichen hinter die politische Wirksamkeit von Medien überhaupt zu setzen.

    Genauso wenig macht es Sinn, die Literatur als Fiktion allein zu betrachten, ist doch kein Leseerlebnis selbst Fiktion - und wer wollte die Literatur von der Lektüre trennen? Rancières "Politik der Literatur" ist insofern der gewagte Versuch, den aufklärerischen Implikationen der Literatur nachzuspüren, bis in die Formen des l'art pour l'art. Reicht auch seine Auseinandersetzung mit ihr nicht bis zu Texten der Gegenwart heran, so lässt seine philosophische Argumentation keinen Zweifel an ihrer Dringlichkeit. Wenn sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung bereits Politik entscheidet, so gilt die Literatur den Spielräumen des Öffentlichen.

    Jacques Rancière: "Politik der Literatur"
    Aus dem Französischen von Richard Steurer
    erschienen im Passagen Verlag
    264 Seiten kosten 34 Euro