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Archiv


Spielwiese des Teufels

In "Das Museum der vergessenen Geheimnisse" thematisiert die Autorin Oksana Sabuschko die Ukraine in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1949. Viele Ukrainer wollten nicht zurück unter Stalins Herrschaft und kämpften in den Wäldern einen harten Partisanenkrieg. Ein Roman voller Zorn.

Von Martin Ebel | 04.01.2011
    Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war die Ukraine die "Spielwiese des Teufels". So nennt es jedenfalls eine Figur in diesem Roman. Das war schon so in den 20er-Jahren, als die Ukrainer zum ersten Mal nach nationaler Unabhängigkeit strebten und in einen blutigen Bürgerkrieg gerieten. In den 30er-Jahren wurden sie Opfer einer von Stalin gezielt ausgelösten Hungersnot, die Millionen das Leben kostete (in der Ukraine heißt sie "Holomodor", was nicht nur klanglich an "Holocaust" erinnert). Im Zweiten Weltkrieg war das Territorium der heutigen Ukraine Schauplatz der heftigsten Kämpfe, der schlimmsten Massaker.

    Nach der Niederlage des Dritten Reiches wollten viele Ukrainer nicht unter Stalins Knute zurück, blieben in den Wäldern und kämpften weiter. Dieser Partisanenkrieg, von dem man im Westen wenig erfuhr und noch weniger wissen wollte, endete 1949 mit der totalen Niederlage der sogenannten Bandera-Leute. Alles, was mit Stepan Bandera und der Aufstandsarmee UPA zu tun hatte, wurde von der sowjetischen Geschichtsschreibung totgeschwiegen. Erst mit der nationalen Unabhängigkeit 1991 öffneten sich die ukrainischen Archive - und gaben frei, was nicht vorsorglich verbrannt oder nach Moskau abtransportiert worden war.

    Oksana Sabuschkos Roman "Das Museum der vergessenen Geheimnisse" rekonstruiert eine Episode aus dem Partisanenkrieg und entwirft zugleich ein Panorama der ukrainischen Gesellschaft unserer Tage. Das Buch, geschrieben 2002 bis 2009, ist schwer wie ein Backstein und gefüllt mit Zorn. Diesen Backstein schleudert die Autorin auf die Fassade aus Ignoranz, Fälschung und Verleugnung, die jahrzehntelang vor der Vergangenheit eines ganzen Volkes hochgezogen worden war. Sabuschko hat einen Nerv getroffen; gleich mit dem Erscheinen stürmte das "Museum" an die Spitze der ukrainischen Bestsellerliste.

    Mit ihrem Erstling, den "Feldstudien über ukrainischen Sex" war Oksana Sabuschko auf einen Schlag berühmt geworden. Neben Juri Andruchowytsch ist die 50-Jährige heute die führende Autorin ihres Landes. Eine Powerfrau, die in Kunstphilosophie promoviert und in Harvard gelehrt hat. Eine Kämpferin gegen alte Lügen und neue Korruption. Ihr neuer Roman, 750 Seiten stark, vermag manchen westlichen Leser, der sanftere, sensiblere, auch geschmacklich ausgeglichenere Kost gewöhnt ist, in die Knie zu zwingen. Aber sich dem auszusetzen, lohnt unbedingt.

    Der Roman "Das Museum der vergessenen Geheimnisse" ist wie ein wirkliches Museum aufgebaut, mit acht "Sälen", die literarische Installationen der verschiedensten Art enthalten: innere Monologe und journalistische Interviews, Erinnerungen und Träume, personale und Ich-perspektive. Den roten Faden bildet eine Recherche, die die Journalistin Daryna Hoschtschynska führt. Sie ist auf ein Foto gestoßen, das fünf UPA-Partisanen auf einer Waldlichtung zeigt, darunter eine Frau. Diese Frau mit dem Decknamen Helzja hat es ihr angetan: Daryna fühlt sich wie aus dem Jenseits beauftragt, das Schicksal Helzjas aufzuklären und in einer Reportage ihrer Fernseh-Sendung "Leuchter des Diogenes" bekannt zu machen.

    Sie muss sich unkonventioneller Recherchemethoden bedienen, denn die Archive sind zwar mittlerweile zugänglich, aber eben voller Lücken. Von Helzja und den Mitkämpfern, die 1947 im Kampf umkamen, fehlt jede Spur. Wie es der Zufall will - aber in diesem Roman gibt es keine Zufälle -, lernt Daryna Adrian kennen, Helzjas Großneffen. Sie verlieben sich ineinander, und es kommt der etwas esoterisch angehauchten Journalistin so vor, als habe auch bei dieser Verbindung die tote Partisanin ihre Hände im Spiel.

    Daryna glaubt fest daran (ohne dass der Leser ihr darin folgen muss), dass Frauen wie sie mit einem "zusätzlichen Sinn begabt" sind, der sie befähige, Helzjas Geschichte durch Einfühlung zu erfahren und zu erzählen. Auf Adrian ist offenbar ein Teil dieser Begabung übergesprungen. Er träumt intensiv von der Besatzungszeit und schlüpft in die Gestalt eines anderen Adrian, der erst gegen die deutschen Besatzer, dann gegen die Sowjets kämpft und zusammen mit Helzja umkommt. Damit nicht alles auf übersinnlichen Wegen vermittelt werden muss, lässt die Autorin noch einen Geheimpolizisten auftreten, dessen Vater einst die Kommandoaktion gegen Helzjas Gruppe geleitet hat.

    So entsteht eine Geschichte von Mut, Entbehrung, Leidenschaft, Idealismus und Verrat. Schlimm geht es auch in der Gegenwart zu: Bevor Daryna ihren Film fertigstellen kann, wird ihr Sender privatisiert und sie entlassen - für eine Castingshow, die man ihr anbietet und die vordergründig TV-Starlets, eigentlich aber Nachwuchs für die heimischen und westlichen Bordelle rekrutieren soll, gibt sie sich nicht her.

    Der Zorn der Heldin (und der Autorin) trifft neben den Vergangenheitsklitterern auch die Protagonisten der unabhängigen Ukraine, in deren demokratischem Gerüst sich alte Machthaber und junge Mafiosi bestens eingerichtet haben (die Handlung endet vor den Präsidentenwahlen 2004, die die Orange Revolution auslösten). Auch ihren Weg säumen Leichen: Oksana Sabuschko mischt wirkliche Opfer mafiöser Machenschaften wie den Journalisten Georgi Gongadse oder den Oppositionsführer Wjatscheslaw Tschornowil mit ihrem fiktiven Personal. Darynas Freundin verunglückt mit ihrem Auto an just jener Stelle, wo es auch den historischen Tschornowil erwischte, unter bis heute ungeklärten Umständen: auf der Schnellstraße zum Kiewer Flughafen, deren Trasse auf einem Massengrab von Holodomor-Opfern angelegt wurde.

    Oksana Sabuschko verknüpft alles mit allem, ohne dass daraus ein bloßer Verschwörungsbrei à la "Politiker und Geschäftsleute sind alle Verbrecher" würde. Sie lässt die Handlungsfäden, verstärkt durch allerlei symbolische Knoten, bei ihrer Heldin Daryna zusammen-, von dort aber in alle Richtungen auseinanderlaufen, weit zurück in die Kriegs- und Vorkriegszeit, aber auch in die Zukunft: Das Kind, das Helzja nicht austragen konnte - ihre Chronistin wird es bekommen. Und das Prinzip Hoffnung, so möchte es der Leser glauben, wird sich gegen das gegenwärtig herrschende und übermächtig scheinende Prinzip Zynismus durchsetzen.

    "Das Museum der vergessenen Geheimnisse" ist ein Opus magnum et horrendum, in dem gegen die Mächte der Finsternis alles mobilisiert wird, was die Waffenkammern der Literatur hergeben: die großen Gefühle, die Gewalt des Pathos, die bezwingendsten Bilder. Der Roman verabreicht eine Überdosis an Gestalten und Verwicklungen, Motiven und Metaphern. Er führt in die Todeszone der jüngeren Geschichte und in die fiebrige Vitalität unserer Tage, zu Mördern, Glücksrittern, Profiteuren und auch ein paar Moralisten. Ein Roman der Gewalt - und ein gewaltiger Roman.

    Oksana Sabuschko: Das Museum der vergessenen Geheimnisse. Roman. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil. Literaturverlag Droschl, Graz 2010. 760 Seiten, 29 Euro.