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Spione am Bosporus

In Istanbul und Ankara treffen sich weiterhin jeden Abend Tausende regierungskritische Türken in den Parks. Die türkische Regierung ist sich derweil sicher, wer hinter den Proteste steckt: ausländische Spione. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur am Bosporus.

Von Luise Sammann | 02.07.2013
    Es wimmelt nur so von ihnen: Ausländische Agenten scheinen die aufstrebende Türkei fast vollständig unter Kontrolle gebracht zu haben. Der türkische Ministerpräsident Erdogan erwähnt sie in jeder seiner Kundgebungen, wettert gegen internationale Medien und dunkle Mächte. Und wer fest genug an sie glaubt, der kann sie sogar sehen, die Spione am Bosporus:

    "Eine Frau kam auf den Taksim-Platz und begann zu tanzen. Die Leute fragten: Warum tanzen Sie hier? Sie: Weil ich Freiheit will. Später lernten wir, dass sie Deutsche war. Mal ehrlich: eine deutsche Staatsbürgerin, die für die Freiheit in der Türkei tanzt?"

    Melih Gökcek zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. Noch Fragen? Das Video, das der großväterlich lächelnde AKP-Politiker über Twitter verbreitet, zeigt ihn selbst bei der Beweisführung. Knapp zehn Minuten präsentiert er an seinem Schreibtisch DIN-A4 große Fotos von ausländischen Agenten wie diesem:

    "Hier gibt ein junger Mann ein Klavierkonzert. Er ist aus Deutschland. Würde jemand wirklich extra aus Deutschland in den Gezi-Park kommen, nur um ein Konzert zu geben?"

    Ein 31-jähriger Klavierspieler aus Konstanz auf dem Taksim-Platz: ein Spion. Eine Australierin, die sich für ein Foto direkt in den Strahl eines Wasserwerfers stellt: eine Spionin! Der "SPIEGEL"-Türkei-Titel der vergangenen Woche: ein Agentenbericht.

    Was lustig klingt, ist bitterer Ernst. Der freundlich dreinblickende Herr in dem Video ist nicht irgendjemand – er ist der Bürgermeister von Ankara, der nach Istanbul zweitgrößten Stadt der Türkei. Fast 750.000 Türken folgen ihm und seinen absurden Beweisführungen auf Twitter. Regierungstreue Journalisten spinnen die Fäden weiter, präsentieren Theorien einer Verschwörung Europas gegen den geplanten Großflughafen Istanbuls; von einem zionistischen Angriff gegen die islamische Türkei; von einer internationalen Zinslobby, die den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes stoppen wolle.

    "Der Zinssatz für die Staatsschulden lag bei 63 Prozent, als ich an die Regierung kam. Jetzt liegt er bei 4,1! Und wer kassierte dieses Geld? Die Zinslobby! Aber jetzt ist es damit vorbei – und damit können sie sich nicht abfinden."
    Keiner weiß, wer oder was genau das ist, diese Zinslobby, die den Gezi-Park aufgemischt haben soll und die Ministerpräsident Erdogan nun fast täglich verdammt. Selbst Wirtschaftswissenschaftler am Bosporus konnten den Begriff bisher nicht definieren. Typisch, meint Ilter Turan von der privaten Bilgi-Universität in Istanbul.

    "Verschwörungstheorien sind Erklärungen, die grundsätzlich nicht zu beweisen sind. Politiker leugnen eigene Fehler, indem sie die Aufmerksamkeit einfach auf unbekannte, äußere Kräfte lenken."

    Für typisch türkisch hält der Politikwissenschaftler das Phänomen nicht. Syrien, Irak, Iran – überall in der Region nutzen führende Politiker ähnliche Geschichten um die Massen hinter sich zu vereinen.

    "Je geschlossener eine Gesellschaft ist, desto häufiger sieht man dieses Phänomen. Um genau zu sein, sind Verschwörungstheorien das Ergebnis von Unwissenheit. Besonders das Personal, das im Moment die Türkei regiert, kennt die Außenwelt nicht sehr gut, da scheint es verständlich, dass sie solche Theorien verbreiten."

    Vom eigentlichen Grund der türkischen Aufstände, von brutalen Polizeieinsätzen, Demonstrationsverboten und Einmischungen in den Lebensstil der Türken, spricht dann niemand mehr. Der Kampf gegen ausländische Agenten ist überall.